31. Mai 2016

510

hundertfünfundfünfzigstes Kapitel

Miloš hat die Route geändert. Grund dafür sind zwei Mitfahrer, die wir in einer kroatischen Kleinstadt nahe der bosnischen Grenze auflesen und die nach Stuttgart wollen. Er hat mir erklärt, wie sich das auf unsere Reisekasse auswirkt, aber ich habe nichts verstanden. Ich fühle mich schon jetzt krank vor Sehnsucht. Der Abschied war furchtbar. Ich werde sie alle so sehr vermissen. Und Sloba. Meine Herzallerliebste. Die Wucht in Tüten. Die auf meinem Schoß geweint hat, weil ein Spinner in Köln sie nicht in Ruhe lässt. Mein liebes Slobientje.
Ich habe keine Ahnung, ob sie mir treu sein wird; ich hoffe es. Wir hatten keine Zeit, Wertekodexe auszutauschen.

„Đerominko“, sagt Miloš leise.
„Nenn mich nicht so.“ Das ist Slobas Name für mich. Bis sie sich einen anderen ausdenkt.
„Entschuldige, Jeremy. Ich wollte dir etwas sagen, hörst du zu?“
„Ja.“
„Das mit der besten Freundin der Lieblingskusine, also was ich dir gesagt habe, dass man mit der nichts anfängt – das gilt nicht für dich. Auch wenn es das gleiche Spiel mit vertauschten Rollen ist.“
„Aha“, mache ich düster. „Da hab ich ja Glück.“
„Das liegt daran, dass du eine andere Art hast, Beziehung zu bauen. Bevor Gott mir gesagt hat, dass ich ein Jahr Single sein soll, habe ich Beziehungen im Bett angefangen. Spätestens nach einem Tag waren wir in der Kiste. Du machst das anders, du bist vorsichtiger. Da geht nicht so viel kaputt, wenn es nicht klappt.“
Meine Lebensgeister kehren zurück. Um sich vom Kummer abzulenken, suchen sie Streit. „Woher bist du dir so sicher, dass ich Beziehungen nicht im Bett anfange? Du hast mich bisher nur in einer festen Beziehung oder als Single erlebt und wer sagt, dass ich das, was ich zum Thema gesagt habe, auch selber so lebe?“
Er starrt mich an. „Habt ihr etwa – habt ihr? Nicht im Ernst, oder?“
Ich setze noch einen drauf. „Immerhin ist deine Lieblingskusine ein ziemlich heißer Feger.“
Miloš hält das Lenkrad so fest, dass die Fingerknöchel weiß hervortreten, das sehe ich sogar im diffusen Licht der Tachoanzeigen. „Sag, dass das nicht wahr ist.“
Würde er nicht Autofahren, würde er mich wahrscheinlich am Kragen packen und irgendwo gegen schubsen. Ich koste es aus, dass das gerade nicht möglich ist und sage gar nichts.
„Ich fass es nicht.“ Und ein paar Atemzüge später noch einmal, völlig erschüttert und fast stimmlos: „Ich fass es nicht.“
„Haha“, mache ich boshaft. „Das hast du geglaubt, was?“
Er stößt die Luft aus und schaut mich halb verunsichert, halb erleichtert an. „Also nicht?“
„Nein.“ Jetzt lasse ich eine Pause entstehen. Dann atme ich durch und sage ehrlich: „Es hätte passieren können, wir waren kurz davor. Aber ich wollte nicht. Weil wir uns ja sehr lange nicht sehen werden. Erst wieder, wenn das bosnische Schuljahr rum ist. Dann treffen wir uns in Köln.“ Und Bernd vermutlich auch.
„Ich wünsche euch beiden, dass es klappt. In Jesus’ Namen, du sollst eine Familie kriegen mit vielen Onkels und Tanten.“
Der Streit hat nicht gereicht, um den Kummer zu vertreiben. Ich versinke in Schweigen.

Um ein Uhr nachts und perfekt im Zeitplan kommen wir in Stuttgart an. Die Kroaten haben uns die Adresse einer Pension genannt, die von einem Yugo geführt wird. Beim Frühstück höre ich die letzte serbokroatobosnische Unterhaltung. Dann steigen zwei Deutsche ins Auto, die nach Frankfurt und Essen wollen und in Frankfurt zwei weitere, die nach Köln wollen. In Köln kommt noch eine Niederländerin dazu, die uns bis Hilversum begleitet.
Zuhause laden wir das Gepäck aus, fahren zu einer Tankstelle, reinigen das Fahrzeug von innen und außen, tanken voll und geben es ab.
Ich spüre jeden Kilometer einzeln im Herzen.

509

„Er fand meine Haare so toll. Die waren richtig lang, bis zum Arsch, und ich hab sie immer gut gepflegt. Nie gefärbt und so, damit ich keinen Spliss kriege. Aber von solchen Sachen hast du ja keine Ahnung!“ Lachend streichelt sie meine übersichtliche Frisur.
„Denkst du“, lache ich mit. „Ich war auch mal ein Langhaariger.“
„Warum hast du sie abgeschnitten?“
„Erzähl erst, warum du sie abgeschnitten hast!“
„Na, wegen Bernd. Er hat mal gesagt, das tollste an mir wären meine Haare. Ich hab sie abgeschnitten und ihm gegeben. Da hatte er dann, was er wollte. Dachte ich! Mit solider Basis hätte ich mich wahrscheinlich nicht auf ihn eingelassen.“ Plötzlich packt sie meine Arme, so wie ich eben ihre gepackt hatte, und drückt mich gegen die Rückenlehne. „Okay, Jeremy van Hoorn. Ich nehme die Herausforderung an. Ich will dich kennen lernen. Erst Basis, dann Sex. Wie weit ist es von dir zuhause nach Köln?“
„Ungefähr dreihundert Kilometer. Hast du in Köln ein Auto?“
„Nein. Aber ich kann mir eins leihen.“
„Es geht auch gut mit der Bahn. Über Amsterdam, da steigst du um nach Alkmaar–“
„Du redest wie Mama! Ich werde wohl einen Fahrplan rauskriegen, du schrecklich vernünftiger Holländer“, lacht sie und versucht mich durchzukitzeln, aber ich halte ihre Hände fest. Ihre Handgelenke sind so dünn, dass ich beide mit einer Hand packen kann. „Mijn lieve Slobientje“, knurre ich sie an. „Ich bin vielleicht schrecklich und ganz sicher ein Holländer, aber wenn ich nur einen Funken Vernunft in mir hätte, hätte ich die Finger von dir gelassen.“
„Ungefähr das hat sich dein liebes Slobientje auch schon gedacht“, stellt sie trocken fest. Dann bricht wieder Lachen aus ihr hervor. Mit ihren Armen(275) zieht sie meine Rechte zu sich und küsst auf meine Finger. „Ein Hoch auf diese Finger, die keine Vernunft kennen. Liebe Finger, wärt ihr so freundlich, mich loszulassen?“
Sie sind es. Als Gegenleistung hält sie nun meine Hände fest. Dabei findet sie die Narbe. „Was ist denn hier passiert?“
„Blutsbruderschaft ist passiert.“
„Mit wem?“
„Miloš.“
Sie prustet. „Diesen Blödsinn macht der wohl mit jedem, was?“
„Es ist kein Blödsinn. Ihm war es sehr wichtig, und weil er mein bester Freund ist, ist es mir auch wichtig. Und er macht das nicht mit jedem.“
„Nee, sondern nur mit dem bekloppten Milan und mit dir. Aber wir wissen ja jetzt, dass du auch bekloppt bist. Insofern passt es.“
„Sloba, du wirst nicht so abfällig über das reden, was mir wichtig ist.“ Um das mal gleich klarzustellen!
Sie nimmt das nicht ernst, denn sie gibbelt weiter. „Männerfreundschaft, ja?“
„Männerfreundschaft“, bestätige ich nickend.
„Mit so richtig viel Gefühl?“
„Ja.“
„Hörst du ihm auch so zu wie mir eben?“
Wenn er mir was erzählen will, „Ja.“ Je länger dieses Frage- und Antwortgespräch dauert, desto mehr weicht der Spott aus ihrer Miene. „Und sagst seine Geheimnisse keiner Menschenseele weiter?“
„Keiner Menschenseele.“
„Und meine Geheimnisse sagst du auch keinem?“
„So ist es.“
„Und wenn Schluss ist?“
„Dann auch nicht.“
„Und wenn dein Blutsbruder danach fragt?“
„Sloba. Geheimnisse bleiben Geheimnisse. Ich spreche mit Gott darüber, der kennt alle meine Geheimnisse. Aber der ist ja kein Mensch.“(276)
Sie seufzt leise und schmiegt sich an mich. „Dann find ich es gut.“

508

Schließlich stelle ich meinen Sitz richtig ein und lasse mich nieder. An der Seite rastet ein Hebel ein. Aha. Den wird sie nicht ganz zufällig erwischt haben.
„Du bist die Lieblingskusine von meinem besten Freund. Und ich mag deine Familie. Ich will nicht riskieren, dass das alles Brüche kriegt, bloß weil wir den Fehler machen, dass wir zu schnell zu viel wollen. Morgen Abend sind wir schon wieder unterwegs. Übermorgen sind fast tausendfünfhundert Kilometer zwischen uns. Ich will jetzt nicht mit dir schlafen, weil ich weiß, dass es mich ab morgen umbringen wird. Verstehst du das, auch wenn es klingt, als hätte Dijana es gesagt?“
„Ja“, macht sie und schaut aus dem Seitenfenster.
„Schmollst du?“
„Nein. Du hast recht. Das hier … das ist doch alles nur, weil … Đerominko … wenn ich dir was erzähle … lach mich nicht aus, ja?“
Ich ziehe ihr Gesicht zu mir und sehe, dass ihr Tränen über die Wangen laufen. Ich hole die Papierserviette aus dem Kaffeebüdchen vorm Hallenbad aus der Hosentasche. Das Dings zwischen meinen Fingern ist keine Serviette, sondern der Brief, den Lotte uns im Hotel hinterlassen hatte. Ich suche in der anderen Hosentasche und werde fündig.
Sie wischt sich die Augen. Ich kraule ihren Kopf. Sie schluchzt.
„Ich habe zwar allen gesagt, dass ich wegen dem Heimweh nach Banja Luka gekommen bin, aber das ist nicht alles. Ich musste weg aus Köln. Bernd … er akzeptiert nicht, dass Schluss ist. Er wartet drauf, dass ich wieder komme. Ich bin seine Traumfrau, und eines Tages werde ich einsehen, dass wir zusammen gehören. Ich weiß nicht, wie ich im klar machen soll, dass ich fertig bin mit ihm. Er nimmt es nicht ernst, weil ich ja gar nicht begreife, was ich da rede.“ Sie schnauft tief durch. „Er ruft sogar hier an und schickt mir teure Geschenke. Keine Ahnung, wie er meine Adresse rausgekriegt hat. Aber … was mach ich denn, wenn das Jahr hier vorbei ist und er es immer noch nicht kapieren will?“
Ich habe keine Antwort und kraule weiter.
„Wenn wir beide miteinander schlafen, kann ich sagen, dass ich einen Neuen habe und dass er mich vergessen muss.“
„Werde ich nur mit Sex dein Neuer?“
„Nein, ich würde sagen, du bist es schon. Seit gestern Abend. Aber es wäre … deutlicher.“
Das sehe ich anders. „Wenn der Typ wirklich so verbohrt ist, wird er es als Seitensprung deuten und dir ein schlechtes Gewissen machen, dann vergibt er dir aus seiner großen Güte und geändert hat sich nichts.“
Sie bricht wieder in Tränen aus.
Ich lege wieder meine Arme um sie. Ich will sie. Für immer. Auch wenn es anstrengend wird, weil ihre Stimmung offenbar nur Extreme kennt. Ich will sie genau deswegen. Ich streichle durch ihre Haare.
Sie schmiegt sich an mich, ist auf einmal nicht mehr zappelig und laut, sondern weich und sanft und unfassbar schutzbedürftig.
„Wenn er dir Schwierigkeiten macht, sag mir Bescheid.“
„Du würdest dich für mich prügeln?“
„Ich hab damit nicht viel Erfahrung, aber wenn es sein muss, natürlich.“(274)
„Das hätte er nie, niemals für mich getan. Wir sind ja zivilisierte Menschen. Und er hätte auch nie einfach nur zugehört. Er hat für jedes Problem eine Lösung. Und wenn er mir die Lösung präsentiert, muss ich wieder glücklich sein und die Lösung auf mein Leben anwenden und alles ist gut.“ Grimmig schließt sie: „Und ein Taschentuch hätte er auch nicht gehabt.“
Ich kraule ihren Rücken. „Wie lange wart ihr denn zusammen?“
Sie setzt sich auf. „Fast zwei Jahre. Zu lange.“
„Und seit wann geht das schon so?“
„Seit Ostern.“
Fast ein Jahr. Zu lange!

507

hundertvierundfünfzigstes Kapitel

Punkt fünf stehe ich an der Hofeinfahrt. Zwei Minuten später nähert sich dröhnend und knatternd das kleine Auto, das Sloba von einem Kollegen ausgeliehen hat. Sie fährt auf den Hof, ich steige ein, wir begrüßen uns mit einem Kuss, sie wendet und donnert zurück durch die Gasse hinunter in die Neustadt.
„Heute musste ich in einer Klasse ein bisschen Erdkunde unterrichten“, ruft sie mir über die Fahrgeräusche hinweg zu.
„Warum? Ich denk, du machst nur Deutsch?“
„Ja, eigentlich schon. Aber ein paar Schüler haben gefragt, ob ich verliebt wäre und da musste ich es erzählen, und dann wollten sie wissen, wo Holland ist. Und Köln. Und alles drumherum. Ist Köln die Hauptstadt von Holland? Hahaha, die Kinder haben lustige Fragen! Ob ich dich ausgesucht hätte, weil du auch ein Lehrer bist! Wenn ich wieder zurück in Köln bin, kommst du mich besuchen?“
„Natürlich!“

An jeder roten Ampel müssen wir uns ansehen, berühren, küssen, und nicht nur einmal werden wir angehupt, weil längst nicht mehr rot ist. Nach der teilweise sehr schweren Stimmung vom Vormittag bin ich hier ins Kontrastprogramm geraten und ich genieße es.
Irgendwann hält sie am Straßenrand an. „Mann, ist das peinlich“, lacht sie, „Ich habe mich verfahren! Ich war zu lange nicht hier!“
„Ist doch egal“, sage ich, „fahr woanders hin. Ich bin ja nicht das letzte Mal hier.“
„Sag das noch einmal“, seufzt sie und stellt den Motor ab.
„Ich bin ja nicht das letzte Mal hier.“
Sie klettert vom Fahrersitz und hockt sich auf meinen. Ihre Knie sind neben meinen Oberschenkeln; schon das reicht, um mich unter Strom zu setzen.
Plötzlich knackt etwas unter mir und die Rückenlehne des Sitzes rauscht nach hinten. Ich will noch fragen, ob etwas kaputt ist, aber ihre Lippen sind auf meinen.
Ihre Haare sind wie ein Zelt um unsere Gesichter.
Die zweite Gänsehaut überholt die erste. Tief schaut sie mir in die Augen.
Ich versinke in diesem Ozean aus Eisblau und Duft und Nähe und Atemgeräusch und Herzschlag und Kribbeln am ganzen Körper.
„Noch mal.“
„Ich bin nicht das letzte Mal hier“, wispere ich.
Dann überfällt sie mich mit ihrer ganzen Naturgewalt. Überall landen ihre Küsse und sind ihre Hände. Hose auf. Voran, keine Zeit!
Halt! Stopp! Was tu ich denn da?! Ich will das nicht! Ich habe keine Chance gegen sie, im Auto ist zu wenig Platz. Irgendwie kann ich ihre Hände packen, schaffe es, mich unter ihr her wegzuschlängeln, bekomme Oberhand(273), kann ihren Körper mit dem Knie unten halten.
„Du gehst ganz schön ran“, schnauft sie.
Mit dem Ärmel wische ich mir den Schweiß vom Gesicht. „Ich geh nicht ran, ich wehre mich“, stelle ich das richtig.
„Warum?“, gurrt sie und schenkt mir einen unschuldigen Blick. „Hast du Angst vor mir? Wie süß!“
„Ich mein das ernst. Hör auf.“
„Hä?“, macht sie. „Spinnst du?“
„Kann sein. Aber ich will jetzt nicht. Wenn das mit uns mehr werden soll als eine flotte Nummer am Straßenrand, brauchen wir eine solide Basis.“
„Du redest wie Mama“, schnappt sie und versucht sich zu befreien.
Ich lasse sie los und sie verzieht sich zurück auf den Fahrersitz.
Vorsichtshalber steige ich aus, damit ich sicher werde in meiner Beherrschung. Frische Luft schadet auch nicht. Die Autoscheiben sind von innen beschlagen.

506

„Als ich eben nach den Plänen fragte, meinte ich hauptsächlich die für heute.“
„Ach so. Also, ich habe Pläne, aber erst ab fünf. Dann kommt Sloba, sie will mir was zeigen. Bis dahin hab ich Zeit.“
Er reagiert nicht, obwohl ich ihren Namen fast singe. „Wo wollt ihr denn hin?“
„Weiß ich nicht. Vermutlich irgendwas unaussprechliches mit pič oder sič oder so.“
„Du solltest es mal versuchen mit serbisch. Es klingt immer besser. Du hast Talent.“
„Hunde haben auch Talent, Männchen zu machen und trotzdem kommt nicht jeder in den Zirkus.“

Heute ist es bedeckt und kühler als gestern. Es hat auch schon geregnet, der Asphalt ist stellenweise nass. Wir gehen ein bisschen in der Stadt herum, in der um diese Zeit fast nur Rentner und Hausfrauen mit kleinen Kindern unterwegs sind. Miloš zeigt mir die Schule, in die er früher gegangen ist, das alte Gebäude der Stadtbücherei (heute ist sie woanders), wo seine erste Freundin gewohnt hat, wo früher das Kino war und wo er am liebsten nach der Schule herumgehangen hat, als Lesen nicht mehr sein hauptsächlicher Zeitvertreib war. Seltsamerweise verliert er kein Wort darüber, wo Milan gewohnt hat. Wenn er es nicht tut, fange ich nicht damit an! Zum Schluss kommen wir ans Hallenbad. Wir haben keine Schwimmsachen dabei, deswegen bleibt es bei einem Blick ins Innere. Eine Schulklasse hat Sport.
Am Kiosk vor der Halle kauft er uns zwei Becher Kaffee und belegte Brötchen.
„Willst du wieder zurück?“, fragt er.
„Willst du mir noch was zeigen? Wenn ja, will ich noch nicht wieder zurück.“
Vom Schwimmbad aus gehen wir durch ein heruntergekommenes Wohngebiet und dann eine Industriebrache, natürlich einen Hügel hinauf, um zum nächsten Punkt auf Miloš’ Liste der unscheinbaren Sehenswürdigkeiten zu gelangen. Hinter dem Hügel hört das Gelände plötzlich auf, vor uns ist ein riesengroßes Loch. Wir klettern auf einem Pfad hinab und ich stehe das erste Mal in meinem Leben in einem Steinbruch.
Ich schaue mich um. Die Wände sind steil, der Boden liegt voller Geröll, hier und da ist auch zersplittertes Holz und gelegentlich Müll. Kleine Bäume versuchen ihr Glück auf dem Untergrund, aber außer Gras und Moos wächst nicht viel. Dann sehe ich, dass Miloš neben einem Felsbrocken kniet und blicklos in die Gegend starrt. Oh je. Ich weiß, wo wir hier sind. Es ist der ideale Platz für einen Mord.
Ich hocke mich zu ihm und lege eine Hand auf seine Schulter.
„Ich habe kein Grab“, sagt er dumpf. „Ich weiß nicht, wo sie ihn verscharrt haben. Als der Krieg schon zu Ende war, hat mir ein Schulfreund gesagt, dass sie ihn hier … wir hatten nicht viel miteinander zu tun, aber er konnte mir nicht mehr in die Augen gucken, hat er gesagt. Er wusste es von seinem großen Bruder, der war damals dabei gewesen.“
„Wohnt der Bruder noch hier?“
„Ja. Auf dem Zentralfriedhof.“
Eine lange Pause entsteht.
Schließlich sagt er mit brüchiger Stimme: „Jeremy, wenn du irgendwo in diesem Land für mich beten willst, dann tu das hier und jetzt.“
„Wofür soll ich beten?“
„Für echte Sicherheit, gegen Schüchternheit, für Einheit in Bosnien, für meinen eigenen Frieden, was auch immer.“
„Mit Handauflegen?“
„Bitte.“
„Aber ich hab kein Salböl dabei.“
„Es muss ohne gehen.“

505

Auf einmal fließt Wasser irgendwo in der Maschine. Das ist ein gutes Zeichen. Ich schiebe sie zurück unter die Arbeitsplatte. Etwas blockiert, ich werfe mich dagegen, dann klappert drinnen etwas. Ich öffne die Tür. Wo vorher nur kalkfleckiges Metall und die Wasserverteiler aus weißem Plastik waren, liegt jetzt eine kleine Gabel mit nur zwei Zinken. Damit waren gestern Häppchen zusammengepiekt. Ich hole sie heraus und versuche erneut zu starten.
Die neuen Geräusche klingen wie eine Spülmaschine, die sich zum Dienst meldet!
Dijana steht von der Küchenbank auf und freut sich mit Küssen und einer Menge Wörter. Zwei verstehe ich: veoma dobro. Ich tippe auf die Zeichnung in der Betriebsanleitung, in der das Sieb dargestellt ist.
Sie bedeutet mir, dass es kaputt ist.
„Novi“ sage ich, das heißt neu, aber was heißt kaufen? Was heißt, dass das Dings wichtig ist? Wann wird ein Übersetzer kommen und uns helfen?
Na, erst mal muss es jetzt ohne Sieb gehen, denn es scheint ja schon ein paar Tage länger kaputt zu sein und alle Gäbelchen sind herausoperiert. Ich stelle den Gitterkorb wieder in die Maschine und räume Geschirr hinein. Dijana füllt Spülmittel ein, schließt den Kasten und stellt ihn an. Tadellos. Danke, Jesus! Und mein Kaffee hat auch die richtige Temperatur.

Jetzt betritt Miloš den Raum. Er hat keine Zeit uns zu begrüßen, weil seine Tante ihn schon mit einem Schwall Wörter bedeckt. Er antwortet lächelnd und wendet sich mir zu. „Du prachtvoller Kerl hast also die Spülmaschine wieder ans Laufen gebracht. Sie dankt dir unendlich, denn sie hat sich schon den ganzen Tag im Abwasch gesehen.“
Da muss ich widersprechen. „Nein, Jesus hat sie repariert. Ich habe nur ein bisschen an ihr gerüttelt. Ich hab doch keine Ahnung von solchen Sachen.“
„Jaja“, lacht er. „Du und keine Ahnung von irgendwas, das man reparieren kann.“
Dijana klopft auf seinen Arm und sagt noch etwas.
Miloš nickt und führt die Übersetzung fort: „Falls du dich bisher nicht zuhause gefühlt hast hier im Haus, sollst du wissen, dass du immer bei ihr willkommen bist, auch–“
Sie unterbricht ihn wieder und fügt noch etwas hinzu.
„Also, dass du willkommen bist, auch wenn du mal ohne mich aufkreuzen willst. Und sie hat es noch gar nicht gesagt, wie glücklich sie ist, dich getroffen zu haben. Und jetzt will sie niederländisch lernen, damit sie uns auch mal in Zuyderkerk besuchen kommen kann.“
Ich stehe auf, gehe zu ihr hin, nehme sie in den Arm und küsse sie auf die Wange. In dieser Sprache brauchen wir keinen Übersetzer.

Als wir am Frühstückstisch sitzen, will er wissen: „Hast du Pläne für die nächste Zeit?“
„Auf jeden Fall! Ich habe massenweise Einladungen von allen Leuten für alle Sehenswürdigkeiten bekommen. Einig waren sie sich besonders darin, dass ich im Sommer kommen muss. Im Sommer ist hier alles viel schöner. Das sagt auch Dragi, der übrigens meint, ich soll dich alleine nach Schweden fahren lassen und derweil hierher kommen.“
Miloš grinst immer noch. „Soso, das sagt er.“
„Was ist eigentlich so lustig?“
„Es freut mich, dass du dich hier so wohl fühlst, obwohl du zuhause ziemliche Angst hattest, weil du ja angeblich gar keine Fremdsprachen kannst. Und weil du niemanden kennst. Und keine Ahnung von Sitten und Gebräuchen hast. Und so weiter.“
Scheint so, dass er noch gar nicht mitbekommen hat, dass Sloba und ich seit neuestem ganz andere Gebräuche studieren. „Meine Fremdsprachen funktionieren ein bisschen anders als deine. Die wachen erst auf, wenn ich sie rede. Vorher nie. Da weiß ich halt nie, wie viel noch von ihnen übrig ist.“

504

Ich werde wach, lange bevor mein Schlaf zu Ende ist. Sofort ist mein Kopf voller Gedanken.(271) S-L-O-B-A.
Ich weiß noch gar nicht, was auf mich zu kommt. Und was draus werden kann. Wenn sie Germanistik studiert, wird sie hinterher nicht in den Niederlanden arbeiten. Mein Beruf funktioniert nicht in Deutschland, das Schulsystem ist ganz anders. Müssen wir an die niederländisch-deutsche Grenze ziehen oder haben wir auch woanders eine Zukunft?
Sloba. Du laufender Wahnsinn. Du Wunderschöne. Du verrücktes Huhn mit deinen hellroten Haaren. Oder sind sie vielleicht orange?
Ein anderer Gedanke stört die Harmonie. Heute ist leider schon unser letzter kompletter Tag hier in Peckovar. Die Hinfahrt hat bewiesen, dass wir mehr als einen Tag für die Rückfahrt einrechnen müssen und Montag müssen wir ja wieder an unseren Arbeitsstellen sein.
Auf einmal wird mir klar, dass ich gestern Abend eine Fernbeziehung angefangen habe, und zwar keine, bei der man sich nur am Wochenende sehen kann, sondern eine mit richtig vielen Kilometern dazwischen. Ach du Scheiße. Will ich das wirklich?
Ja, ich will. Ich muss.
Ich gucke zur Uhr. Neuneinhalb Stunden, dann ist fünf.
Weil ich nicht wieder einschlafen kann, stehe ich auf.

Im großen Esszimmer steht überall aufgestapeltes benutztes Geschirr, Besteckhaufen, Gläser, leere Weinflaschen und mittendrin meine Blümchen. Irgendjemand hat sie alle zusammen gestellt, es sieht aus wie ein großes Beet. In der Küche ist Dijana zugange. Sie spült.
„Dobar dan“, begrüße ich sie.
Sie erwidert meinen Morgengruß, und: „Kava?“
„Da“, stimme ich zu. Kava ist Kaffee, und den kann ich jetzt gut gebrauchen. Meine Nacht hatte nämlich nur knapp vier Stunden. Deutsch ist eine sehr komplizierte Sprache und es dauert lange, bis man sich ausreichend verabschiedet hat, selbst wenn es nur für einen Tag ist.
Sie trocknet sich die Hände ab und bringt mir die Thermoskanne, eine Tasse und ein Kännchen Milch. Löffel und Zucker stehen bereits auf dem Tisch. Wahrscheinlich war Miloš heute schon mal hier; er trinkt den Kaffee süß und ich mit Milch.(272)
„Warum spülst du von Hand?“, frage ich sie und klopfe gegen die angelehnt stehende Tür der Spülmaschine.
Sie sagt einige Sätze, von denen ich keinen verstehe. Dann nimmt sie ein nicht vorhandenes Stück Holz und zerbricht es zwischen den Händen.
Warum gehen Spülmaschinen kaputt, wenn man sie wirklich nötig braucht? Es muss ihnen doch klar sein, dass sie sich unbeliebt machen! Gestern hat sie noch tadellos gearbeitet!
Ich lasse den Kaffee auf dem Tisch stehen – er ist eh’ noch zu heiß – und öffne den unwilligen Küchenhelfer. Ich nehme den unteren Gitterkorb heraus und untersuche die mögliche Fehlerquelle. Das Sieb, in dem sich die groben Verschmutzungen sammeln, ist nicht da.
Dijana will wieder ans Spülbecken, aber ich bedeute ihr, sich an den Tisch zu setzen. Ich brauche Platz. Als nächstes ziehe ich den Klotz nämlich aus der Küchenzeile und untersuche die Hinterseite. Ich bewege die Schläuche, vielleicht klemmt ja etwas drin und nehme mir dann die Beleuchtungsanzeigen vor. Eine Lampe blinkt. Das wird die Fehlermeldung sein. Mit Pantomime frage ich nach der Betriebsanleitung und bekomme das Heft. Leider hat der Hersteller keine niederländischen, deutschen oder englischen Kunden. Sag mal, Jesus, du kannst doch alles … wie wäre es heute früh mit einer Spülmaschinenübersetzung?
Immerhin kann ich die Lämpchen gemäß der Zeichnung zuordnen. Ich verriegle die Klappe und drücke den Startknopf. Nichts tut sich. Also versuche ich es so, wie ich die Anleitung interpretiere und arbeite mich durch das Fehlermenü.

503

Wie kommt sie jetzt darauf? „Es ist ungewohnt, aber ich finde es lustig, dass hier alle so lange Namen kriegen, an denen dann sofort wieder was abgekürzt wird. Aus Miloš wird Milodinko und dann heißt er Miko. Ich komme her als Jeremy, werde dann Đerominko, aber ihr könnt mich ja nicht auch Miko nennen. Wie werde ich abgekürzt?“
„Das hast du falsch verstanden. Er heißt nicht Miko, weil einer -dinko drangehängt hat, sondern weil er mit mi anfängt und mit ko aufhört. Du würdest vielleicht Đeko heißen, aber bis jetzt hat noch keiner was gesagt. Was ich eigentlich–“
Zwei Leute treten lachend und redend aus dem Haus und zünden sich Zigaretten an. An der Tür ist Licht, aber vermutlich sehen sie uns nicht. Ich wende mich wieder Sloba zu, die ja irgendwas sagen wollte, bevor wir abgelenkt wurden.
Sie steht auf den Zehenspitzen und küsst mich. Auf den Mund.
Klarer Fall. Sie will meine Telefonnummer haben.
Ich will ihre.

„Hast du morgen auch frei?“, frage ich, als wir genug geküsst haben. Vorerst.
„Nein, ich muss arbeiten. Zwei Tage frei mitten in der Schulzeit, das geht für eine Familiensache, aber länger nicht.“
„Wieso Schule? Ich dachte, du studierst in Köln.“
„Das tue ich auch, außer jetzt. Ich hatte schreckliches Heimweh und als ich gehört habe, dass in Banja Luka eine Deutschlehrerin gesucht wird, habe ich mich sofort beworben. Ein Jahr bin ich hier, dann muss ich noch ein Jahr in Köln studieren, dann bin ich fertig.“
„Und dann bist du Lehrer?“
„Nein, Germanistin. Aber ich kann als Lehrerin arbeiten. Wir könnten unsere eigene Schule aufmachen. Eine ex-jugoslawisch-deutsch-niederländische Schule. Am besten genau auf der Grenze. Was hältst du davon, Herr Kollege?“
Die Idee ist zum Küssen. „Bringst du den Serben nur deutsch bei oder kannst du auch serbisch unterrichten?“
„Ich kann sogar kroatisch unterrichten und bosnisch. Die Unterschiede sind nicht groß, wenn man damit aufgewachsen ist.“
„Könntest du auch Niederländern serbisch beibringen?“
„Mit Deutsch als Transitsprache sehe ich da keine Probleme.“
„Aber ich verirre mich immer in den kyrillischen Buchstaben!“
„Das können wir ganz einfach lösen, hab keine Angst“, lacht sie. „Morgen werden wir mit dem Unterricht anfangen. Wann hast du Zeit?“
„Ich denk, du hast morgen keine Zeit?“
„Ich muss arbeiten, aber du glaubst doch nicht, dass ich auch den Rest des Tages zuhause in meiner winzigen Bude hocke, während ihr hier seid! Wenn ich mich beeile, kann ich um fünf hier sein.“
„Dann beeil dich bitte.“
„Lass uns abhauen“, flüstert sie verschwörerisch.
„Keine gute Idee. Es wird auffallen, wenn ich nicht da bin und dann machen sie sich Sorgen, ob ich mich verlaufen habe.“
„Aber morgen. Morgen hauen wir ab.“
„Um fünf steh ich hier am Tor und warte auf dich.“

Dragan schaut gerade zur Tür, als wir das große Zimmer betreten. Was so ein alter Vater von sieben lebenslustigen Mädchen ist, sieht er bestimmt sofort, was passiert ist.
Trotz der vorgerückten Stunde wird immer noch nach Musik verlangt. Ich lasse mich mehrsprachig überreden, erneut in der Band mitzuwirken. Irgendwann steht die Frau an der Gitarre auf und gibt mir ihr Instrument. Hat mich vielleicht der Bassist verpetzt?
Ich singe kein richtiges Lied, sondern nur, was mir so in den Sinn kommt. Englische, niederländische und deutsche Zeilen (und dab-daba-dab) wechseln einander ab. Die deutschen sind nur für Sloba. Slobodanka. Deutsch ist jetzt meine Sprache der Liebe, Bosnien das Land des Lächelns.
Slobodanka, das bedeutet Freiheit, und so ist es. Ich bin hier frei geworden von meiner Schüchternheit. Vielleicht wird sie wieder kommen, aber der erste Schritt in ein freies Leben ist gemacht.

502

Als der Abend später wird, werden Musikinstrumente ausgepackt und das Wunder geht weiter. Ich finde mich mitten in der Kapelle wieder, kenne keins der Lieder (schließlich ist die Feier keine Hochzeit), weiß keinen Text und klopfe auf ein paar Trommeln herum, als hätte ich nie andere Lieder gespielt.
Zum Glück wird auch in dieser Band rotiert, sodass ich nach einiger Zeit die Trommeln an einen Mann weitergeben kann, der zur Verwandtschaft gehört und dessen Name mir entfallen ist. Ich brauche dringend ein bisschen Ruhe und frische Luft und verziehe mich in einem unbeobachteten Moment nach draußen.
Im Hof ist es mir nicht leise genug und ich verlasse das Grundstück. Ich gehe die Gasse aufwärts, dann stehe ich mitten auf einem winzigen Platz vor einer kaum größeren Kirche. Das muss die sein, die immer zur vollen Stunde bimmelt. Im Schein der einsamen Straßenlampe auf dem Platz sieht sie uralt aus; vermutlich ist sie weiß getüncht. Ihre Tür ist nur angelehnt. Ich schlüpfe hinein.
Drinnen ist es kalt und sehr dürftig beleuchtet. Ich folge dem Kerzenschimmer und setze mich in eine der hölzernen Bänke.
Danke für diesen wunderschönen Familienausflug, sage ich zu Jesus. Kann das nicht immer so sein, dass ich mir sicher bin und Freude habe an Gesellschaft und nicht ständig drüber nachdenke, was wer wie gemeint hat, als er wie geguckt hat, nachdem ich was auch immer gesagt habe? Es kommt keine Antwort, aber ich will das Thema nicht ruhen lassen. Meinst du vielleicht, ich sollte nicht mehr so kompliziert denken? Wäre das so einfach, hätte ich ja längst damit aufgehört. Es ist immer noch still in meinem Kopf – von meiner Stimme abgesehen. Ich will damit sagen, ich brauche deine Hilfe, um die Schüchternheit loszuwerden. Nichts. Also sage ich es selbst: In deinem Namen, Jesus, kündige ich der Schüchternheit. Sie hat keinen Platz mehr in meinem Leben. Ich will sie nicht mehr haben und sie soll nicht wiederkommen. Ich fühle gar nichts. Aber ich habe es ja schon zu Miloš gesagt, manche Dinge entwickeln sich im Prozess und irgendwann stellt man fest, sie haben sich geändert. Da fällt mir noch was ein. Und wo wir mal dabei sind, kannst du mir auch das Ding mit der Identität erklären?
Endlich meldet er sich zu Wort. Da gibt es nichts, was ich dir erklären müsste, mein Junge. Du weißt alles, was du über deine Identität wissen musst. Das Problem daran ist, dass du es mit dem Hirn weißt und nicht mit dem Herzen.
Das hilft mir gerade überhaupt nicht. Ich stehe aus der Bank auf, stoße mir zum Andenken das Schienbein an irgendeiner finsteren Kante und verlasse die Kirche.

Am Hoftor steht Sloba und schaut mir entgegen. „Wo warst du?“
„Ich brauchte ein bisschen Ruhe“, weiche ich aus. Kann ich ihr das mit der Kirche sagen? Weiß sie überhaupt was von Gott?
„Und wo hast du deine Ruhe gefunden?“
„In der kleinen Kirche.“
Sie nickt. „Miko hat das schon gesagt, dass ihr an Gott glaubt.“
„Und du, glaubst du auch an Gott?“
„Nein. Miko sagt, er hat ihn kennen gelernt, aber das ist ja seine Sache. Der Gott kann sich mir ja mal vorstellen.“
„Soll ich für dich beten?“
„Du bist ja voll der Missionar! Aber lass mal. Vielleicht morgen, ja?“
„Okay“, mache ich und weiß nicht, was ich sonst sagen soll.
Sie holt Luft, als wolle sie etwas sagen, überlegt es sich dann aber anders. Im nächsten Anlauf fragt sie: „Magst du den Namen Đerominko?“

501

Als erstes sichte ich das Sortiment. Die einzigen Blumen, die ich mit Namen kenne, nämlich Rosen und Tulpen, sind nicht dabei. Die Blumen nach Sorten zu ordnen wäre unsinnig. Also teile ich sie in Farbgruppen. Die meisten sind rot und orange. Blaue, gelbe und weiße gibt es auch, aber nicht so viele. Dann baue ich mir einen Arbeitsplatz, breite mich aus und fange an. Zuerst stecke ich nur wahllos die Blumen zusammen, aber irgendwann kommt mir eine Idee und ich löse die Sträußchen auf, die schon in den Flaschen steckten.

Schließlich ist das Werk vollbracht. Die Gäste können sich nun aussuchen, ob sie lieber an orange-gelben oder rot-weiß-blauen Sträußchen sitzen wollen. Holländische Blumen werden in die ganze Welt exportiert, und das darf man meinen Sträußen ruhig ansehen.
Ich organisiere einen Eimer Wasser und ein Geschirrhandtuch, stippe die Flaschen hinein, bis sie vollgelaufen sind und trockne sie ab. Jedes Kunstwerk kriegt einen ganz besonderen Platz. Merle wäre begeistert!
Pünktlich zum Ende meiner Arbeit betritt Dijana den Raum. Sie staunt, sie ruft Obibi und Sloba dazu, sie strahlt, sie küsst. Was will man mehr? Diese bosnische Reise ist ein einziger Triumphzug.

Weniger triumphal sieht Miloš aus, als er eine Weile später zurückkehrt.
„Was hat’s gegeben?“, erkundige ich mich.
Er schnaubt. „Das Übliche! Ich habe mal wieder alles falsch gemacht. Nicht nur die Form, sondern auch den Inhalt. Wenn wir seit gestern Mittag hier sind, wieso komme ich mehr als vierundzwanzig Stunden später? Und wenn er durch halb Europa fährt, um seine Familie wieder zu vereinen, warum muss er dann von den Nachbarn erfahren, dass ich gut in der Heimat angekommen bin? Und so weiter.“
„Aber er denkt doch hoffentlich nicht, dass du hier bleibst?“
Abrupt fährt er mich an: „Jeremy, wie soll ich wissen, was er denkt?“
Besser wäre er nicht hingegangen. „Kommt er heute Abend?“
„Ich habe ihn nicht danach gefragt.“
Dijana tritt aus der Küche, streichelt ihm über die Wange und fragt etwas. Er antwortet widerwillig. Sie fragt noch etwas. Er bleibt reserviert. Erneut streichelt sie sein Gesicht. Dann wechselt sie das Thema – zumindest sieht es so aus, denn auf einmal betrachtet er die nächsten beiden Blumensträußchen. „Orange und rot-weiß-blau? Ist das Zufall?“, fragt er.
„Natürlich nicht! Es sind die Farben des Europameisters!“
„Richtig, das niederländische Team ist ja Europameister. Das hatte ich ganz vergessen“, spielt er mit. „Unsere Dekofachfrau wäre stolz auf dich!“
„An die habe ich eben auch schon gedacht.“
Er zückt das Handy und knipst Fotos und ich wette, er schickt sie zu Merle.
Dijana sagt noch etwas zu ihm und er übersetzt es für mich: „Es ist nichts mehr zu tun. Dragi müsste gleich kommen, wir können gehen uns schick machen.“


hundertdreiundfünfzigstes Kapitel

Es ist wahnsinnig anstrengend, die ganze Zeit mit drei Sprachen zu jonglieren und von der einen zur anderen zu wechseln. Und es macht wahnsinnigen Spaß, mit Dragans und Dijanas Großfamilie zu feiern. Das Essen ist lecker, das Bier auch (Miloš hat es mir fast aufgedrängt, bitteschön Bier zu trinken, wenn mir danach ist) und ich genieße es aus vollen Zügen, in dieser ganz neuen Gesellschaft zu sein.
So wohl war es mir sehr lange nicht mitten zwischen Leuten, die ich kaum kenne. Aber ich glaube, mein werter Freund hat kein bisschen übertrieben: sie lieben mich. Es kann nur so sein. Und es gehört zu dem Thema, das wir besprochen haben, als wir vor Graz auf der Autobahn standen: Ich habe überhaupt keinen Grund, schüchtern zu sein.
Ich stehe eine halbe Stunde in der Küche und Dijana redet von nichts anderem mehr als dass ich so klug und toll und freundlich bin und dass es ganz egal ist, dass ich die Sprache nicht spreche, weil man sich einfach so mit mir verstehen kann.(270) Die gleiche Erfahrung machen die Eltern der Kinder, die gestern (und auch heute) da sind. Meist ist mindestens ein Kind da, wo ich sitze. Ich versuche zwar, sie in die Spielecke zurück zu schicken, aber das funktioniert nur so lange, bis mir wieder eins dringend etwas zeigen muss. Und Sloba … ich will sie wiedersehen. Ich muss! Wenn sie zurück in Köln ist, werde ich meine Scheu vor großen Städten bekämpfen und sie besuchen fahren. Ohne ihren Cousin.

500

Hat er nicht eben noch gesagt, dass Dijana sich über unsere Hilfe freuen wird? Na ja, wahrscheinlich schiebt er den Besuch seit gestern vor sich her, da muss man auch mal spontan handeln. „Kommen sie heute Abend auch zur Feier?“
„Weiß ich nicht.“
„Frag sie doch.“
„Ich weiß nicht, ob ich will, dass sie kommen, deswegen will ich nicht vorher wissen, was sie vorhaben.“
Keine leichte Familie, hat Dragi es gestern genannt. Wohl wahr.
„Soll ich beten?“
Er hebt die Schultern. „Bete gleich. Wenn ich weg bin.“
„Wie lange wird es dauern?“
Wieder hebt er die Schultern. „Das kommt drauf an.“
Laut Marjorie ist das eine der typischen Jeremy-und-Miloš-Phrasen. Wenn ich sie sage, passen sie ganz gut oder sie fallen mir gar nicht auf, aber Miloš füllt seine Sätze immer zu so komischen Anlässen mit ihnen, bei denen sie gar nichts sagen oder nur Zeit schinden. Er nervt mich unglaublich damit. „Worauf kommt es an?“, frage ich mit Nachdruck.
„Wie schnell es mir reicht.“
Am besten gehst du, bevor es dir reicht, denke ich, aber das sage ich nicht. Vermutlich kann man das vorher schlecht einschätzen.
Sowie er den Hof verlassen hat, bete ich für Bewahrung und Ruhe und dass sein Vater friedlich mit ihm umgeht. Dann gehe ich ins große Esszimmer, wo Obibi mit einem jungen Mann Böcke aufstellt und darauf Platten legt. Mit meinem Eintreten ruft sie nach Sloba. Die kommt aus der Küche und stellt uns vor. Der junge Kerl heißt Aleks und ist Obibis Freund.
Sloba verschwindet wieder in der Küche und ich mache mich nützlich. Zu dritt haben wir die langen Tafeln schnell aufgebaut. Obibi breitet weiße Tischdecken aus, während wir Stühle gruppieren. Als nächstes bringt Sloba Geschirr und Besteck, das wir sinnvoll verteilen. Übrigens sieht sie heute wieder zum Anbeißen aus, auch wenn Rock und Shirt aus etwas mehr Stoff bestehen. Und die Militärlatschen hat sie gegen hohe Cowboystiefel getauscht.
Obibi verlässt den Raum, bringt zwei große Plastikkisten, stellt sie auf einem Tisch ab und geht dann in die Küche.
Sloba gibt bekannt: „Jetzt brauchen wir noch ein bisschen Tischdeko“, vermutlich zweisprachig, denn Aleks verdreht die Augen.
„Da fragst du ja genau den Richtigen“, grinse ich.
„Miko hat gesagt, du bist geschickt.“ Sie öffnet eine Plastikkiste.
„Das kommt drauf an, was du haben willst“, antworte ich und weil das seine letzten Worte waren(269), bete ich in Gedanken noch einmal für Miloš.
„Kleine Blumensträuße will ich haben“, lacht sie. „Die Blumen sind alle da in der Kiste, als Vasen könnt ihr die Glasfläschchen aus der anderen Kiste nehmen.“
Aleks sieht die Einzelteile, wittert Arbeit und verzieht sich.
„Aber ich sag dir gleich: ich bin Grobmotoriker.“
„Lieber grobe Motorik als gar keine, so wie bei Aleks“, kichert sie. „Komm, ich zeige dir, wie ich es mir vorstelle.“
„Wieso machst du es nicht selber?“
„Mama braucht mich in der Küche.“ Blitzschnell hat sie ein paar Blümchen zusammengefasst, etwas Grünzeug drumherum und in die Vase gesteckt.
„Ach so“, mache ich erleichtert, „das ist ja einfach.“
„Es soll hübsch aussehen, ich will keine gehobene Floristenkunst. Machst du das?“
Nickend gebe ich mein Einverständnis und weil zugleich Dijana aus der Küche ruft, bin ich meine Zuschauerin los.

499

„Nein. Nein, Jeremy, wir wären es nicht mehr. Helena hat diese Knöpfe gedrückt, wie du es sagst, und sie hat mich rasend gemacht damit. Stimmt. Aber das war nicht alles. Selbst wenn sie mir nicht vorgeschrieben hätte, was ich tun soll, hätte es nicht funktioniert. Ich kann keine Frau lieben, die meinen besten Freund verachtet.“
Verachtung ist ein hartes Wort. So kam sie mir bisher nicht vor. Und sie hätte wohl auch kaum bei mir Rat gesucht, wenn sie mich verachten würde.
„Du glaubst das nicht. Aber es ist so. Sie verachtet nicht dich als Person, sondern deine Ansichten. Deinen Glauben. Sie lästert über das, was dir wichtig ist. Und so eine Frau kann ich nicht lieben.“
Mit einem Mal kribbelt meine Haut. Kriegt er den nächsten sentimentalen Schub? Bitte nicht. Ich stehe auf und schaue mir das Panorama aus anderen Blickwinkeln an.
Miloš folgt mir. „Willst du irgendwo was essen gehen oder sollen wir gucken, was Dijana herumliegen hat?“
Puh. Er ist wieder normal.
„Ich will nichts anderes essen als was aus ihrer Küche kommt.“
„Das ist ein schönes Kompliment. Hast du genug niederländische Wörter gehört oder brauchst du noch mehr?“
„Wahrscheinlich brauche ich morgen noch mehr, aber für heute ist es genug, denke ich.“
„Gut. Wahrscheinlich ist Dijana mit Vorbereitungen beschäftigt, sie kann unsere Hilfe bestimmt gebrauchen. Falls du helfen willst.“
Wir begeben uns wieder an den Abstieg. Dabei fällt mir ein: „Habt ihr übrigens irgendwelche Geburtstagsrituale? Etwas, das ich wissen müsste?“
„Sei ganz frei und fühl dich wohl. So lieben sie dich.“
„Wie, so lieben sie mich? Die kennen mich doch gar nicht.“
Miloš hält meinen Arm fest und bleibt stehen. „Doch, Jeremy. Sie kennen dich. So schnell wie du hat in der Familie noch niemand die Herzen erobert.“
Das Kribbeln auf meiner Haut ist kein Kribbeln, sondern ein Ameisenwettrennen. Warum ist erobern hier so einfach und in der Zwaagse Straat so anstrengend? Ich will weg, aber er lässt nicht los. „Bis Milan in der Familie war, hat es ein paar Monate gedauert. Und der konnte ja die Sprache. Aber du–“
„Kannst du mich mal mit deinen Gefühlsausbrüchen in Ruhe lassen?“, fauche ich ihn an, mache meinen Arm los und flüchte talwärts.

Noch vor dem Parkplatz hat er mich eingeholt, packt meinen Arm und zerrt mich herum. „Du wirst mich jetzt nicht wie ein verschlossener Niederländer mit halben Sätzen abspeisen und den Rest habe ich vergessen. Rede mit mir.“
Aha. So fühlt sich das also an.
„Ich wollte dir eine Liebeserklärung von meiner Familie sagen und du … tja, glaubst du, dass ich dich verarschen will? Das ist nicht so, ich meine das alles ernst.“
„Es geht auch nicht um den Inhalt der Botschaft, sondern ihre Form.“
„Hä?“
„Du hast mit den falschen Worten das richtige gesagt. Aber die Worte haben etwas in mir ausgelöst, das nicht gut war.“
„Und … ähm … was hat das ausgelöst?“
„Verstehst du nicht.“
Prüfend guckt er mich an. Nach ein paar Atemzügen sagt er: „Ich glaube nicht, dass ich es nicht verstehen würde. Du willst es nicht erklären. Das ist okay.“

Als wir das Auto im Innenhof abstellen, sagt er: „Du musst es jetzt eine Weile ohne mich aushalten. Ich gehe zu meinen Eltern.“

498

Beim Abstieg habe ich mehr Luft und kann fragen: „Wie hoch überm Meer sind wir?“
„Für diesen Fleck weiß ich es nicht, aber das Rathaus von Peckovar ist bei einhundertdreiundsiebzig.“
„So wenig?!“
„Was hast du denn gedacht?“, belustigt er sich, „Zweitausend?
„Weiß ich doch nicht! Ich kann das nicht einschätzen!“
„Das ist doch total einfach!“, wundert er sich. „Der Norden liegt nicht besonders hoch.“
„Das ist überhaupt nicht einfach. Und woran soll ich mich orientieren?“
Unvermittelt lacht er schallend los. „Ich weiß es! Es muss so sein. Ein Naturgesetz! Du stellst Flachländerfragen, weil ich Landrattenideen habe!“
Wenn du es so sagst, muss es stimmen. „Und wie weit ist das Meer entfernt?“
Er lacht immer noch. „Bosnische oder kroatische Küste?“
„Beides.“
„Logo“, grinst er. „Bis zum nächsten Strand könnten es ungefähr zweihundertfünfzig Kilometer sein. Bis Neum sind es mindestens dreihundert.“
„Und da bei Neum sind diese zwanzig Kilometer Küste.“
„Richtig.“
„Welchen Strand würdest du bevorzugen?“
„Den bei Dersum aan Zee.“
„Hast du Heimweh?“
„Nein. Aber er ist der schönste. Vor allem hat er die schönste Brandung. Und die Nordsee riecht besser als die Adria. Welche Sprache war das, in der du dich gestern mit Onkel Dragi unterhalten hast?“
Ach, der Herr Themenwechsel ist auch mitgefahren! „Deutsch.“
„Dragi kann deutsch? Das wusste ich gar nicht.“
„Es ist nicht viel, er kann es von früher. Als er jung war, hat er in Stuttgart gearbeitet.“
„Stimmt“, fällt es ihm wieder ein, „Mercedes. Stuttgart hat übrigens die größte serbische Gemeinschaft in Deutschland. Aber es wohnen auch viele andere Yugos da. Falls du mal in einem Gespräch mit anderen Leuten ein bisschen klugscheißen möchtest.“
„Danke.“

Wir fahren zurück nach Peckovar. Er biegt jedoch nicht in die enge Gasse ein, sondern fährt noch ein Stück weiter bergauf. Wir steigen erneut in einem Waldstück aus.
„Bist du sicher?“, frage ich, damit sich die Enttäuschung nicht wiederholt.
„Ja“, macht er.
Auch in diesem Wald gibt es eine Lichtung. Am Rand der Wiese sind Bänke aufgestellt, von denen aus man Ausblick in ein kleines Seitental hat. Es ist windstill und im Sonnenschein recht mild. Wir lassen uns nieder.
„Hübsch hier“, sage ich. „Was verbindet dich mit diesem Ort?“
„Vor fünfzehn Jahren habe ich hier oben etwas sehr wichtiges gelernt.“
„Aha. Was?“
„Ich war mit Slobas bester Freundin irgendwo hier im Wald … da gab es noch keine Wiese und keine Bänke … und wir hatten Sex. Ich war sechzehn und sie dreizehn, und es gab nur dieses eine Mal. Der Punkt ist: man fängt nichts an mit der besten Freundin der Lieblingskusine, selbst wenn die einen in voller Absicht anspitzt, bis man nur noch sabbert. Wenn nämlich Schluss ist, kann es passieren, dass die liebste Kusine auf einmal nicht mehr bedingungslos auf deiner Seite ist, denn du hast ihre beste Freundin zum Weinen gebracht.“
„Sehr wichtig.“
„Ja, aber es war nicht eindrücklich genug, um die ganze Tragweite des Themas zu begreifen. Man fängt auch nichts mit der Ex vom besten Freund an.“
„Verzeih es dir. Wenn Helena nicht diese Knöpfe gedrückt hätte, die dein Vater immer gedrückt hat, hätte es besser geklappt zwischen euch. Dann wärt ihr vielleicht noch zusammen.“

497

„Tun wir was auch immer vor oder nach dem Mittagessen?“
„Heute gibt es keins. Dragi feiert abends, da gibt es genug zu essen. Wenn es sein muss, kaufen wir uns was.“
„Kann man hier Euro umtauschen?“
„Vergiss es, du bist in der Provinz. Die EU ist ziemlich weit weg, auch wenn Slowenien schon dazu gehört. Über den Euro denken nur Geschäftsleute nach.“
„Wie soll ich mir dann was kaufen?“
Er strahlt übers ganze Gesicht. „Ich lade dich ein.“
Darauf hat er gewartet, ach, ich gönne es ihm! „Wie heißt das Geld hier?“
„Marka und Feninga.“
„Das klingt wie Mark und Pfennig, das war das Geld aus Deutschland, bevor da der Euro eingeführt wurde.“
„Klugscheißer“, grinst er. „Die D-Mark hatte hier schon immer einen stabilen Kurs.“
„Hattest du noch Reste von früher?“
„Nein, ich war in Hoorn in der Bank und habe sie umtauschen lassen. Zuhause ist der Wechselkurs besser als hier. Ich muss ja auch tanken.“
Zuhause hat er gesagt. „Du bist gut vorbereitet“, stelle ich fest.
„Überrascht dich das?“
„Nö.“

Wenig später sitze ich endlich noch mal im Auto (ich hatte es schon fast vermisst) und wir fahren bergab, über kleine Straßen, eine schmale Brücke und wieder bergauf, bis Miloš mitten in einem Waldstück anhält.
Wir steigen aus und gehen weiter in den Wald hinein. Ich komme ganz schön ins Schnaufen, denn der Weg windet sich die ganze Zeit bergauf.
„Flachländer“, grinst Miloš.
Ich will etwas erwidern, kann aber nicht. Ist das hier schon mit dieser gefährlich dünnen Höhenluft? Auf welcher Höhe über Normalnull sind wir eigentlich? Das war schrecklich in den Alpen, dauernd haben meine Ohren geknackt. Meine Güte, muss der so rennen?
Als hätte er meine Gedanken gehört, verlangsamt er seinen Schritt. Vielleicht hat er mich auch einfach angeguckt. Ich bin wahrscheinlich knallrot im Gesicht.
Vor uns beginnt sich der Wald zu lichten.
Es muss eine Straße nach hier oben geben, denn da sind Häuser gebaut.
„Scheiße“, sagt Miloš.
„Wieso, was ist denn los?“, will ich wissen.
Er winkt ab.
„Sag doch mal.“
„Ach, vergiss es.“
„Nein, werde ich nicht. Und du wirst nicht den verschlossenen Bosnier raushängen lassen, der mich mitten in der Fremde mit halben Sätzen und abwehrenden Gesten abspeist. Klar?“
Er tritt einen Stein weg, wendet sich ab, atmet ein paar Mal tief durch und dreht sich wieder zu mir um. „Sorry. Als ich das letzte Mal hier war, war hier Natur. Und ein wahnsinniger Ausblick übers Tal. Da hinten an der anderen Seite vom Tal ist Peckovar, und wenn man weiß, wohin man gucken muss, kann man auch Dragis Haus sehen. Und jetzt … jetzt haben irgendwelche neureichen Bonzen den Berg gekauft und ihre Scheiß-Villen drauf geklotzt.“
Was soll ich dazu sagen? Fünf Jahre sind fünf Jahre. In der Zeit verändert sich manches. „Na komm. Zeig mir was anderes.“
Er seufzt und macht kehrt.

496

„Sehr gut.“
Er nimmt den winzigen Stift und das zerfledderte Heft aus der Tasche. „In Merles Familie werden die Paare gemeinsam benannt. Bei uns ist das anders. Da bekommen alle einen oder mehrere neue Namen. Das ist dein neuer Name.“ Er schreibt.
„Tepomnko“, lese ich.(267) Er schreibt noch ein Wort. „In lateinischen Buchstaben ist es einfacher.“
„Derominko.“
„Nein, das ist kein d, guck, es hat diesen Strich. Dj spricht man es. Đerominko.“
„Aber es gibt doch viele Namen mit j, warum brauche ich diesen komischen Buchstaben?“
„Erstens ist das đ nicht komisch und zweitens wird das j bei uns nur wie in ja gesprochen.“
„Warum kann ich mein j vorne nicht behalten?“
„Weil Đerominko kein j vorne hat. Es ist der Name meiner Familie für dich. Jeremy und Đerominko klingen vorne beide gleich, deswegen müssen sie aber nicht auch noch gleich geschrieben werden.“
„Tolle Logik.“ Ich lasse das neue Wissen ein Stückchen sacken. Dabei stößt es einen Gedanken an. „Wenn Djamila von hier käme, hätte sie das đ auch?“
Miloš verdreht die Augen und schnaubt laut. „Man hätte damals nicht mir das Lexikon schenken sollen, damit ich weniger Fragen habe, sondern dir! Es ist egal, woher sie kommt, ihr Name ist nicht slawisch. Du hast einen englischen Vornamen, bist du Engländer?“
„Du hast ein Lexikon geschenkt bekommen, damit du weniger Fragen hast?“, greife ich das sofort auf.
Er verdreht die Augen noch mehr. „Ja. Und, hat es geholfen? Nein, ich habe es durchgelesen und den Leuten danach noch mehr Löcher in die Bäuche gefragt.“
„Du hast ein ganzes Lexikon durchgelesen?“
„Ja. Mehrmals.“
„Und wer ist auf die Idee gekommen?“
„Welche Idee, die mit dem Lexikon oder die mit deinem neuen Namen?“
„Beides.“
„Dijana.“
„Ach … eben hat sie mich mit Jeremy begrüßt.“
„Vielleicht war sie nicht sicher, ob du das magst. Manche Leute mögen keine Spitznamen. Sie hat mich nämlich gefragt und ich wusste keinen von dir. Außer Jimmi, aber das sagt ja nur Amalia, das habe ich nicht weitergegeben.“
„Danke, Milodinko.“
„So weit bist du also schon gekommen.“ Er schneidet sich ein Stück Käse ab und isst es auf.
Ich trinke meine Tasse leer. „Hast du gleich was vor?“
Er hebt die Schultern. „Sloba hat Andeutungen gemacht … aber wenn du was anderes machen willst … warum?“
„Ich verstehe Zoran jetzt.“
„Hast du über Nacht kroatisch gelernt?“, wundert er sich.
„Nein. Aber ich verstehe, warum er mit dir so redet. Ich habe vorgestern und gestern viel deutsch geredet und gestern auch englisch mit Bogi und bei allen anderen serbisch gehört. In meinem Kopf ist fast Durchzug, ich kapiere nicht mehr viel.“(268)
„Du brauchst niederländische Wörter.“
„Jep.“
„Gut. Dann bleibt Sloba hier. Sie wird sich nicht langweilen, sie kann in der Küche helfen.“

495

„Nein“, lache ich, „also keine Frau und Kinder. Aber vier kleine Brüder.“
„Sind sie gut?“
Ich bin noch nie gefragt worden, ob meine Brüder „gut“ sind. Aber ich muss nicht nachdenken, es gibt nur eine Antwort: „Ja, das sind sie.“
„Und wie heißen sie? Und wie alt? Was machen sie?“
„Cokko ist zweiundzwanzig und studiert in Rotterdam.“ Soll ich Offshore-Windenergie übersetzen? Wenn ja, wie? Hat hier schon mal jemand was von Windenergie gehört? Und wie weit ist das Meer weg? „Er wird Ingenieur. Ad ist siebzehn und … siebzehn halt. Bas ist fünfzehn und auch nicht einfacher. Eigentlich sind sie nett, aber wir kommen nicht miteinander klar. Und Chris ist neun. Der mag mich. Alle drei gehen zur Schule.“
„Und die Eltern?“
„Gerrit und Marjorie für Ad, Bas und Chris, Douglas und Lucy für Cokko und Lucy und Gerrit für mich“, mache ich die Familie komplett und lache über Dragis Verwirrung. „Und Mommi auch für mich. Mommi ist meine Oma. Und sie hat Miloš aufgenommen, aber er sagt Amalia zu ihr und nicht Mommi, weil sie nur für mich Mommi ist.“
„Ja, man muss viele Namen geben dürfen, und manche Namen sind nur für eine Person.“
„Ist Milodinko nur für dich?“
„Nein, der Name ist für alle. Du kennst ihn nicht so?“
„Nein, ich kenne ihn nur als Miloš.“
„Unsere Mädchen haben alle Namen mit inka und anka am Ende. Es ist für Freude. Und Miloš ist wie Sohn für uns. Zeljko und Marika hatten Geschäft und nicht viel Zeit für ihn. Aber ein Junge kann nicht heißen mit inka und anka. Also haben wir ihm inko gegeben. Milodinko.“
Das ist das schönste Argument, das ich seit langem gehört habe: „Es ist für Freude“. Du machst mir auch Freude, lieber Dragi!


hundertzweiundfünfzigstes Kapitel

Niemand rüttelt meine Schulter, sondern ich wache ganz von alleine auf. Das Fenster steht angelehnt, ich höre die Spatzen im Hof zwitschern. Dann mehrere helle Glockenschläge. Irgendwo muss es eine Kirche geben. Ich habe nicht aufgepasst, wie viele Schläge es gab, aber der Blick zur Armbanduhr verrät: es ist elf.
Unten im Hof kommt ein Auto an (nicht der Audi), Motor aus, zwei Menschen, die sich lachend unterhalten. Miloš und Sloba.
Sloba ist die Wucht in Tüten. Sie ist voller Energie, randvoll mit Lebenslust, ganz anders als ihr Cousin, der hinter seiner gelassenen Fassade viel zu viel grübelt. Sie lacht den lieben langen Tag und ihre rauchige Stimme ist in jedem Gewühl heraus zu hören. Letztes Jahr Ostern, hat sie erzählt, hat sie sich eine Glatze geschnitten. Seitdem lässt sie ihre Haare einfach nur wachsen und färbt sie in allen möglichen Farben. Und dann erst ihre Kleidung! Gestern hatte sie ein knappes Top und einen kurzen Rock an, dazu buntgestreifte Kniestrümpfe und Militärstiefel. Im Bauchnabel und in der Unterlippe hat sie Piercings und auf beiden Oberarmen Tattoos. Vom Typ her würde ich sagen, das sind nicht die einzigen.
Was war das noch, was sie in Köln tut? Ein Studium … am Theater? Oder arbeitet sie am Theater und studiert etwas anderes? Und warum ist sie hier?
Ich stehe auf, finde das Bad, dusche und gehe in Richtung Küche. Ist noch Zeit für ein Frühstück oder warte ich besser aufs Mittagessen?
Mit einem fast perfekten „Goede morgen lieve Jeremy“ begrüßt Dijana mich in meiner Heimatsprache und hat zwei Küsse für mich bereit sowie ein Frühstück mit Kaffee, Brot, Käse und Marmelade. Ich lasse mich am Tisch nieder und fange an zu essen.
Jetzt geht die Tür zum Hof auf und Sloba kommt mit einer Kiste Gemüse herein. „Guten Morgen“, trällert sie.
Ich habe gerade den Mund voll und nicke nur zurück.
Miloš liefert seine Kiste mit Lebensmitteln in der Küche ab und setzt sich zu mir. „Alles gut?“, will er wissen.

494

Nach dem Essen kommen auch die drei Jungs zu mir, denn es hat sich wohl herumgesprochen, dass man mit mir tolle Dinge erleben kann. Natalija ist nicht begeistert! Sie will mich nur für sich haben. Ich erkläre ihr, dass ich die ganze Familie besuche und nicht nur sie. Erst schmollt sie, dann stellt sie mir die Jungs vor. Der Älteste heißt David, der Mittlere Ivica und der Jüngste Miloš. Deswegen hat der große Miloš vorhin so konsterniert geguckt! Sie haben ja geglaubt, er sei tot.
Irgendwann kommt das Familienoberhaupt zu mir, nimmt mich den Kindern weg und fragt mit einem Deutsch, das mehr holpert als meins: „Gefällt dir unser Land? Du hast heute kleines Stück gesehen.“
„Es ist hübsch. Allerdings müsste ich es im Sommer sehen. Im Februar ist es überall nur braun und grau.“
„Gute Idee. Komm uns im Sommer besuchen.“
„Miloš will im Sommer nach Schweden“, deute ich an, aber er lacht und winkt ab. „Er will immer weit weg. Er soll nach Schweden fahren, komm ohne ihn!“
Da reden wir dann noch mal drüber … „Woher kannst du Deutsch?“, frage ich.
„Ich habe als junger Mann gearbeitet in Stuttgart bei Mercedes und jetzt ich rede mit Slobodanka deutsch, so ich nicht alles vergesse. Kennst du Stuttgart?“
„Nein, da war ich noch nie. Es ist weit weg von uns.“
„Nach Köln ist es nicht weit?“
„Nein, das ist viel näher. Sloba hat schon gesagt, dass sie uns besuchen kommen will, wenn sie wieder studiert.“
„Wie sagt man in deiner Sprache Guten Tag?“
Ich sage es ihm, er spricht es nach und weil er noch mehr wissen will, bringe ich ihm auch noch ein paar andere Worte bei.
„Marika hat keine Wörter sagen können. Mehr als vier Jahre war sie in Niederlande, und kann kein Wort. Wie hat sie gelebt?“
„Wer ist Marika?“
„Wie sagt man … Schwester von …“, er winkt wieder ab, „Mutter von Milodinko.“
Milodinko!! Ich wusste es, er hat hier einen Kosenamen. Was für ein schönes Wort! Da ist Musik drin. „Deine Schwägerin“, helfe ich.
„Genau.“
Und da ich die Tatsache seines Kosenamens verdaue, geht mir auf, dass ich zum ersten Mal den Vornamen seiner Mutter höre. Das ist soweit nichts Ungewöhnliches, wir haben ja kaum mal ein Wort gewechselt, aber Miloš hat sie auch immer nur „meine Mutter“ genannt. Hatte er denn keine Kosenamen für sie? Hat er sie nie „Mama“ genannt?
„Ich glaube, sie hat nicht gelebt. Sie hat sich nur gewünscht, wieder hier zu sein. Geht es ihr jetzt besser?“
Dragan hebt die Schultern. „Es ist Problem mit ihr. Sie redet wenig und macht viele … Vorstellungen?“
Sie macht Vorstellungen? „Sie hat Erwartungen?“
„Ja, Erwartungen. Mit wenig sagen und viele Erwartungen ist es schwer, ihr etwas richtig zu machen. Und Zeljko … sein Vater … hat auch Erwartungen, aber andere. Er sagt Erwartungen, aber sie sind … zu groß an Milodinko.“
Au weia! Kein Wunder, dass Miloš so seltsam drauf ist, sobald es um seine Eltern geht! „Wohnen sie weit weg?“
„Nein. Es ist kurzer Weg zu Fuß.“
„Aber sie wissen, dass wir heute angekommen sind?“
„Ja, warum?“
„Warum sind sie nicht hier? Die halbe Familie ist hier, und es wohnen nicht alle in diesem Haus.“ Je länger ich sein bröckeliges Deutsch höre, desto seltsamer werden auch meine Sätze. Ich kann leider nichts dagegen tun. Mein Trost ist, dass er es nicht merkt.
„Warum sind sie nicht hier, das ist gute Frage. Vielleicht warten sie, dass er zu ihnen geht.“
„Meinst du, dass er das tun wird?“
„Ganz bestimmt tut er das, er ist guter Junge. Aber ob es gut ist? Das weiß man danach. Er ist sehr unterschiedlich zu ihnen. Zu Problem von Marika und Problem von Zeljko kommt Problem von Milodinko. Kannst du dir vorstellen, es ist keine leichte Familie.“ Er winkt ab, „Jetzt erzähl mir. Hast du auch Familie?“

493

hunderteinundfünfzigstes Kapitel

Dijana zeigt uns die Zimmer, die für die nächsten Tage unsere sind. Es sind keine Gästezimmer, betont sie, sondern die Zimmer, in denen zuletzt Dodo und Fifi gewohnt haben.(266) Es ist ihr wichtig, dass wir den Unterschied wissen. Wir sollen uns nicht als Gäste, sondern wie zuhause fühlen. Sloba übersetzt für mich.
Auf einmal ist sie mit Miloš verschwunden.
Scheint so, dass Dijana in der Küche mit ihrer Hilfe gerechnet hatte. Ich lasse mir die Chance nicht entgehen – sie kann mich nicht wegschicken, denn dann säße ich alleine rum – und folge ihr ins Herzstück des Hauses.
Da stehen wir nun in trauter Zweisamkeit und ich inhaliere meinen ersten serbisch-bosnischen Kochkurs. Ich darf meine Nase in jeden Topf stecken und alles anfassen und überall probieren. Es riecht so fremd und so gut.
Dijanas Wortschwall tut gut nach der schweigsamen Fahrt, und wo Worte nicht reichen, helfen Gesten, Handfertigkeiten und Küchenverstand.
Wie konnte er hier nur weggehen? Wie tief hat er sich ins eigene Herz geschnitten, nur um seinem Vater zu entkommen!

Zum Essen erscheint ein alter Mann mit nur einem Arm, der, wie Sloba mir erklärt, im Nachbarhaus wohnt und keinen hat, der für ihn kocht. So ein kleines bisschen gehört er zur Familie, auch wenn das Miteinander schwierig ist, weil er taub ist und grundsätzlich nichts mit Menschen zu tun haben will.
Dijana lässt sich davon nicht in ihrer Freundlichkeit beirren, wie ich sie einschätze.
Nachmittags füllt sich das Haus zusehends. Slobas jüngste Schwestern Jadi und Obibi kommen von der Arbeit heim. Sie sind in der Ausbildung und wohnen noch bei den Eltern. Jadi bringt zwei Freunde mit und alle bekommen zu essen.
Kurz darauf gibt es Kindergeschrei im Hof. Ich gehe zum Fenster. Drei kleine Jungs zwischen zwei und sechs Jahren tanzen um den total verdreckten Audi, patschen drauf herum und freuen sich daran, dass ihre Hände Spuren hinterlassen. Wahrscheinlich haben sie noch nie so ein Auto vor sich gehabt. Ein älterer Herr – ganz sicher Dragi – scheucht die Bande zur Haustür und kommt mit einer jungen Frau – vermutlich eine seiner Töchter – hinterher.
Meine Mutmaßungen stellen sich als richtig heraus. Bei der Frau handelt es sich um Bogi, die älteste Tochter des Hauses. Sie begrüßt uns herzlich und stellt Miloš ihre Söhne vor. Auf einmal werden die drei ganz scheu und verstecken sich hinter der Mutter. Was will man erwarten, sie haben ihren Onkel noch nie gesehen! Und für ihn ist es auch nicht einfach.
Für mich hingegen ist es sehr einfach. Ich kann den Trubel beobachten und mich dem Stimmengewirr hingeben und mich zuhause fühlen. Es ist wunderbar. Sloba stellt uns alle gegenseitig vor und kaum habe ich den Neuankömmlingen die Hände geschüttelt, Begrüßungsküsse erhalten und weitergegeben, geht die Tür auf und eine weitere junge Frau nebst Mann und einem vielleicht fünfjährigen Mädchen betritt den Raum. Langsam ahne ich, wieso die Räume so groß sind und so viele Stühle am Rand zu Stapeln aufgestellt sind.
Ich begrüße Midi, ihren Mann Danko und die bezaubernde Natalija. Wir schließen sofort Freundschaft. Sie liest mir aus ihrem Bilderbuch vor und bis es Abendessen gibt, habe ich ihr gezeigt, wie man Schattenfiguren an der Wand macht. Den Hahn mag sie am liebsten, aber er ist auch am schwierigsten, man braucht beide Hände.
Beim Essen will sie auf meinem Schoß sitzen, aber ich bin dagegen. Freundlich und bestimmt schicke ich sie auf ihren Platz zurück und als ich aufschaue, bemerke ich, dass ihr Papa mich bewundernd anguckt.
Bogi spricht gut englisch und übersetzt, was er sagt: „Bei jedem anderen hätte sie ein herzzerreißendes Geheul angestimmt. Du kannst sehr gut mit Kindern umgehen. Was arbeitest du?“
Ich lache. Das war klar! „Ich bin Lehrer. Die Kinder meiner Gruppe sind zwischen drei und sechs Jahren alt, meist sind es so um die fünfundzwanzig und manche von ihnen sprechen kein Wort niederländisch. Das lernen sie bei mir.“

492

Die eventuellen Mitfahrkontakte haben sämtlich abgesagt, aber nach dem gestrigen Theater finden wir das nicht schlimm.
Ebenfalls nicht schlimm ist das Wetter südlich der Alpen, vielerorts scheint die Sonne und es ist trocken. Die Straßen sind wenig befahren und wir kommen zügig voran.
Hier sind Grenzen keineswegs abstrakte Begriffe, sondern sehr sichtbare Dinge.
Das erinnert mich an meine Kindheit. Da gab es noch Grenzkontrollen, wenn man nach Deutschland oder Belgien wollte. Heutzutage undenkbar.
Die Slowenen lassen uns zügig ein- und wieder ausreisen, die Kroaten auch, aber die Bosnier wirken eher verschlossen.(265) Vor dem Grenzübergang hat sich ein langer Stau gebildet. Nach einer halben Stunde sind wir kaum weiter gekommen.
„Wann stellt Tante Dijana das Essen auf den Tisch?“, frage ich um kurz nach elf.
„Wenn wir angekommen sind.“
So ganz verschlossen ist er noch nicht, aber schon sehr wortkarg. Seit wir hier stehen, hat er vielleicht drei zusammenhängende Sätze gesagt, der Rest waren nur einzelne Wörter.
Wobei … wenn ich mir das vorstelle … vor fast fünf Jahren ist er das letzte Mal hier gewesen, und damals war ja nur die Rede von ein paar Monaten Aufenthalt im fernen Norden. Ich weiß nicht, wie ich nach der langen Zeit empfinden würde.

Bei der Weiterfahrt fällt mir auf, dass die Straßenschilder doppelt beschriftet sind, in lateinischen und kyrillischen Buchstaben. Stimmt, wir sind nicht nur in Bosnien, sondern auch in der serbischen Republik. Srpska.
Nachdem wir die Stadt hinter dem Grenzübergang durchquert haben, führt die Straße bald nur noch an Dörfern, nackten Feldern und kahlen Wäldchen vorbei, es sieht recht trist aus. Dann kommt ein Stück Autobahn. Immer wieder sind links und rechts bewaldete Berge zu sehen. Nicht besonders hoch, wenn man sie an den Alpen misst, aber für meine Verhältnisse schon eher Berg als Hügel zu nennen. Miloš hat das Navi längst ausgeschaltet. Seit der Grenze hat er kein Wort mehr gesagt und da ich keine Lust habe, Selbstgespräche zu führen, halte ich auch den Mund und schaue aus dem Fenster.
Jetzt geht es durch einen langen Tunnel, an einem Fluss entlang, noch ein kürzerer Tunnel, normale Schnellstraße, und auf einmal sind wir mitten in einer großen Stadt. Wie mag sie heißen? Es gibt richtige Hochhäuser mit Glasfassaden. Bosnien ist ein Land der Gegensätze. Aber ich habe keine Zeit, darüber nachzudenken, weil wir das Zentrum schon wieder verlassen haben. Hinaus aus der Stadt, breite Straße, Dörfer, Felder, wenige Autos, alte Trecker und ein Pferdefuhrwerk, Wälder, kleine Stadt, schmale Straße, Brücke über einen Fluss (nicht der von eben, würde ich sagen) noch mehr Wald, Berg rauf, Berg runter, noch ein Beginn einer Stadt, Stadtzentrum, breite Straßen, große Häuser, bergauf, schmale Straßen, kleine Häuser, noch weiter rauf, enge holprige Gasse, Toreinfahrt, Innenhof. Motor aus.
Er schnauft durch, dehnt den Rücken, reibt sich das Gesicht.
Gegenüber geht eine Tür auf und zwei Frauen kommen heraus, die eine in unserem Alter, die andere könnte ihre Mutter sein. Die junge hat hellrot gefärbte Haare.
Er steigt aus und geht ihnen entgegen. Sie nehmen sich in die Arme und halten sich minutenlang fest. Ob etwas gesprochen wird, kann ich nicht beurteilen. Dann löst sich die Rothaarige aus dem Knäuel und kommt zum Auto. Ich steige auch aus und sie strahlt mich mit den gleichen eisblauen Augen an, die Miloš auch hat.

491

Jetzt lacht er. „Theodorus ist nicht gemein. Du musst mal davon wegkommen, dass alle lieb mit dir umgehen müssen, wenn sie es gut mit dir meinen. Wenn Theodorus gemein wäre, hätte er dir nichts gesagt. Aber er meint es gut mit dir. Er mag dich. Wegen deinem Popp und Amalia, aber auch wegen dir selber. Und wenn du ihm zutraust, dass er hört, was Gott ihm sagt, kannst du auch davon ausgehen, dass er dich nicht abgefertigt hat, sondern dass er das ausgerichtet hat, was dein Problem ist.“
„Meinst du das also auch?“
„Was ich meine, ist völlig unerheblich.“
„Jetzt bist du ausgewichen. Also, was meinst du?“
„Jeremy, es ist nicht wichtig, was ich in dieser Frage denke. Das musst du klären. Mit Gott. Das ist eine Sache nur zwischen euch beiden.“
„Aber wie krieg ich denn raus, was meine Identität ist? Gott hätte mir das ja inzwischen mal sagen können, wir reden ja auch über allen möglichen sonstigen Kram.“
„Die Frage meinst du nicht ernst, oder? Wie lange gehst du mit Jesus?“


hundertfünfzigstes Kapitel

Wir sind um halb zwölf im Hotel angekommen, haben die Ordnung im Doppelbett geklärt, Miloš hat sich hingelegt und ist sofort eingeschlafen. Das war wohl dringend. Weil ich ja unterwegs zweimal geschlafen hatte, habe ich länger gebraucht, vor allem, weil er nun mal recht intensiv schnarcht. Wer findet Ruhe, wenn nebenan gesägt wird? Irgendwann habe ich versucht, das Geräusch einzukapseln, wie er es genannt hat.
Es muss geklappt haben, denn meine Nacht endet damit, dass mich jemand an der Schulter rüttelt; ich weiß nicht, wie lange das schon so geht, aber es geht noch eine Weile weiter.
„Äh“, mache ich verpennt.
„Tante Dijana sagt, ich klinge schon ganz nah. Komm schon, wach auf.“
Weil er tatsächlich ganz nah klingt, öffne ich die Augen und schaue ihm mitten ins Gesicht. Er liegt neben mir, hat den Kopf auf den angewinkelten Arm gebettet und lächelt mich an. Das eingekapselte Nebengeräusch, das sich jetzt entkapselt, ist starker Verkehrslärm.
„Hast du gut geschlafen?“
„Glaub schon.“ Die frühe Sonne scheint durchs offene Fenster (aha, deswegen ist es so laut) und bringt kalte Luft mit. „Mach das Loch da zu.“
Er robbt vom Bett und schließt das Fenster. „Ist meine Stammkundschaft zufrieden mit dem neuen Weckservice?“
„Sehr. Aber willst du vielleicht erst ein paar Runden um den Block laufen, und dann bin ich wach und wir können los?“
„Dieses Hotel hat im Keller nicht nur die Tiefgarage, sondern auch einen Fitnessraum.“
„Na, dann geh doch da mal hin“, versuche ich ihn loszuwerden.
Er grinst darüber. „Schon wieder? Ich war doch erst eine Stunde dort!“
„Eine Stunde?! Wie spät ist es denn?“
„Kurz nach acht.“

Als ich im Bad fertig bin, hat er schon alle Sachen zusammen geräumt. Wir gehen zum Frühstück und danach zum Portier, um die Schlüssel abzugeben und unsere Rechnung zu begleichen. Der begrüßt uns zweisprachig in deutsch und vielleicht kroatisch(264) und gibt Miloš ein gefaltetes Papier.
Er blättert es auf und reicht es an mich weiter. „Eine Nachricht für uns. Was steht da?“
„Wir kennen doch gar keinen in Graz“, wundere ich mich und übersetze, was ich lese: „Ich wünsche euch eine entspannte Weiterfahrt! Kommt gut an und kommt gut heim. Es war toll, euch kennen zu lernen. Lotte.“ Ich stecke das Blatt in meine Hosentasche.

490

„Es reicht, wenn ich ausweiche bei komischen Fragen, das musst du nicht nachmachen. Wir haben drüber geredet, warum ich vorspiele, ein cooler Typ zu sein. Jetzt frage ich dich: Warum bist du schüchtern?“
„Weil ich nicht vorspiele, ein cooler Typ zu sein.“
„Das ist Blödsinn. Du hast überhaupt keinen Grund, schüchtern zu sein. Du siehst gut aus, bist sehr vielseitig – du kannst segeln, trommeln, kochen, Möbel bauen, zuhören, Rat geben und so weiter. Und ich wette, dass du mit acht nicht allein an deinem Tisch gesessen hast.“
„Pieter und ich waren mit zwei anderen Jungs an einem Vierertisch.“
„Siehst du. Warum denkst du immer, es wäre nicht genug?“
„Das ist ja gar nicht so.“
„Doch. Ist es. Und sei mal ehrlich mit mir, ich war eben auch ehrlich.“
Ehrlich hin oder her, ich weiß nicht, was ich sagen soll.
Miloš lässt die Pause immer länger werden, aber weil von mir nichts kommt, sagt er schließlich: „Theodorus hat mir gesagt, dass die meisten Probleme, die man so in seiner Persönlichkeit hat, immer nur mit einer Frage zusammen hängen: Was denkt Jesus über mich? Welche Identität hat er mir gegeben? Und wenn man die Frage geklärt hat, sind die anderen Fragen gar nicht mehr wichtig.“
Identität. Da ist es wieder. Theodorus’ großes Thema. Miloš’ großes Thema. „Hat er dir das zu einem von deinen Problemen gesagt oder über mich?“
„Warum sollte er mit mir über dich reden?“
„Ich mein ja nur.“
„Und wie kommst du überhaupt darauf?“
„Er hat mir neulich fast das Gleiche gesagt. Ich habe ihn nämlich gefragt, warum ich immer so unsicher bin.“
„Och“, macht er erstaunt, „Wo hast du Theodorus denn getroffen?“
Verplappert. „In Hoorn. Vor allem weil ich ja angeblich einen starken Willen habe, wegen dem Willem. Da ist es seltsam, dass ich bei Entscheidungen so unsicher bin und was Leute über mich denken und so.“
„Und, hast du schon angefangen, nach der Antwort zu suchen?“
„Nein.“
„Warum nicht?“
„Ich war sauer auf ihn.“
Miloš lacht, „Warum denn das?“
„Weil er mich so abgefertigt hat. Bei Mommi und als wir beide bei ihm waren, war er ganz freundlich und dann auf einmal hat er sich gar nicht um mich gekümmert.“
„Du solltest niemals bei ihm zur Seelsorge gehen, wenn du ihm schon so eine Kleinigkeit übel nimmst.“
„Warum?“
„Die Stunden bei ihm sind unglaublich anstrengend. Danach habe ich Kohldampf, als wäre ich quer durchs IJsselmeer geschwommen. Deswegen war Amalias Tipp wahnsinnig gut, die Seelsorge auf Mittwochmorgen zu legen. Die erste Lektion, die er mir beigebracht hat, war die: wenn ich zu ihm komme, habe ich keine Rechte mehr. Ich komme freiwillig und das einzige Recht, das ich habe, ist zu gehen. Aber dann muss ich nicht mehr wiederkommen.“
„Versteh ich nicht.“
„Nicht das Recht, ausreden zu dürfen. Nicht das Recht, dass er meinen Gedanken zuhören muss. Nicht das Recht, dass ich Gott verstehen will, nicht das Recht, über meinen Vater zu urteilen, auch wenn der schlecht mit mir umgegangen ist. Das ist sehr hart. Und ich bin es nicht gewöhnt mich zu unterwerfen.“
„Aber warum geht er so gemein mit dir um?“

489

Eine reichliche Weile später sagt er leise: „Wahrscheinlich hat es angefangen, als wir vierzehn waren, Milan und ich. Vorher war es egal, dass er Bosnier war und ich eine kroatische Mutter hatte. Aber dann sind zwei ältere Jungs in unsere Klasse gekommen, einer von der anderen Schule und einer, der sitzen geblieben war. Das waren Nationalisten. Wer kein Serbe war, den haben sie verprügelt und über den Schulhof gejagt oder durch die halbe Stadt, je nach dem, wo sie einen aufgegabelt haben. Und die schüchternen Kinder erst recht. Die haben sich ja nie gewehrt. Also habe ich mir angewöhnt, nicht schüchtern zu sein.“
Schüchtern?!?“
„Ja. Als wir mit acht Jahren Freunde geworden sind, war Milan ein wilder Kerl, ein richtiger Draufgänger. Ich habe am liebsten irgendwo in einem stillen Winkel gesessen und gelesen. Ich hatte mir das Lesen selbst beigebracht, als ich fünf war. Rennen und Ballspiele und solche Dinge mochte ich nicht. Deswegen war doch der Platz an meinem Tisch frei, neben mir wollte keiner sitzen. Das war zu langweilig. Nur deswegen konnte der Lehrer Milan da hinsetzen. Woanders war kein Platz.“
„Und seit du vierzehn bist, spielst du allen Leuten vor, dass du ein cooler Typ bist.“
„Ja. Hast du es geglaubt?“
„Ja. Also, manchmal. Meistens. Je länger ich dich kenne, desto öfter wundere ich mich aber über Einzelheiten.“
„Welche Einzelheiten?“
„Zum Beispiel, warum du in den drei ersten Jahren in Zuyderkerk so einsam warst. Wärst du wirklich ein cooler Typ gewesen, hättest du schnell Kontakte gehabt, egal ob du bleiben willst oder nicht. Oder aber, du hättest nicht so drunter gelitten, dass du niemanden hattest.“
„Ich habe nicht gelitten.“
„Doch. Hast du. Wäre es dir egal gewesen, wärst du nicht in der Jesus-Pop-Band gewesen. Mit deinem musikalischen Niveau muss die Verzweiflung schon groß gewesen sein, dass du bei so einer Gurkentruppe mitgemacht hast.“
Wieder entsteht eine Pause.

Schließlich sagt er: „Stimmt.“
„Siehst du. Wärst du wirklich ein cooler Typ gewesen, wäre es dir leichter gefallen, deine Mutter zu verlassen. Aber du warst in der Klemme. Einerseits hat sie sich an dich geklammert und jeden Schritt von ihr weg unterbunden, andererseits hattest du Angst alleine zu sein.“
„Tust du mir einen Gefallen?“
„Klar.“
„Hör auf mich so zu durchschauen.“
„Eine Frage noch.“
„Bitte.“
„Darf ich noch vor unserer Heimfahrt dafür beten, dass Gott das heil macht?“
„Warum ist dir das so wichtig?“
„Na ja, wir gehen ja im Allgemeinen davon aus, dass Gott das alles schon lange weiß, denn er kennt dich durch und durch und er weiß Sachen, von denen ich keine Ahnung habe; die vielleicht nicht mal dir selber ganz klar sind. Und warum sollte ein Problem, das in Bosnien entstanden ist, nicht auch da aufhören? Einfacher als jetzt kriegen wir es nicht.“
„Meinst du, das ist dann sofort weg?“
„Kann sein, weiß ich nicht. Es kann ja auch ein Prozess in Gang gesetzt werden und am Ende ist es weg. Darf ich?“
„Nicht hier im Auto. Erst wenn wir angekommen sind und niemand zuguckt oder zuhört. Wenn wir ganz alleine sind. Es soll niemand sehen, wenn der Heilige Geist seltsame Dinge mit mir macht.“
„Gut. Sag mir, wenn der Zeitpunkt richtig ist.“
„Ich habe übrigens auch eine Frage. Warum bist du schüchtern?“
„Wie, warum bin ich schüchtern?“

488

„Du lässt nie locker, he?“
„Das liegt an meiner Natur. Würde er dich feuern?“
„Deine Natur ist ein komisches Ding.“
„Ich kenne komischere Dinge. Würde er dich feuern?“
„Er kann mich ja gar nicht feuern, weil ich nicht fest angestellt bin.“
„Dann würde er dir keine Termine mehr nennen. Würde er das tun, wenn du dich gegen die Grapscherei wehrst?“
Er stößt die Luft aus und gibt den Widerstand auf. „Weiß ich nicht.“
„Wen könntest du fragen, ob er das tut?“
„Keine Ahnung.“
„Du bist genau so ein armes kleines unsicheres Würstchen wie ich, he? Weißt auch nie, was die anderen von dir halten und willst, dass sie gut von dir denken.“
„Das will doch jeder, oder?“
„Ja, aber mir sagst du, ich soll mich davon lösen, weil es unwichtig ist. Wichtig ist nur, was Gott über mich denkt. Das hast du mir letzten Sommer auf Dersummeroog gesagt.“
„Stimmt“, räumt er ein. „Aber es ist schwierig. Es hängt viel davon ab, dass ich sicher aussehe. Man wird anders behandelt.“
„Wann hast du angefangen mit sicher aussehen?“
„Was ist denn das für eine komische Frage?“
Na klar. Abblocken, wenn es heikel wird. Das kennen wir ja schon. Zurück zum Thema. „Wen kannst du fragen, ob Toni dich feuert, wenn du dich nicht begrapschen lassen willst?“
Er schnauft aus. „Am ehesten Fergus.“
„Dem vertraust du?“
„Ja. Der ist wie du, er kann sich nicht verstellen. Und er ist auch ein Handwerker.“
Hat das Handwerkerdasein irgendwelche Auswirkungen auf die Persönlichkeit? Falls ja, solltest du manche Handwerker nie kennen lernen. „Dann frag ihn. Und wenn es so ist, dass Toni das akzeptiert, dann wehrst du dich beim nächsten Mal.“
„Wie soll ich das machen? Ich will keine Zicke sein.“
„Du kannst die Person höflich und bestimmt darauf hinweisen, dass ihre Hand nichts in deiner Kleidung zu suchen hat. Und du bist damit im Recht. Sogar vor dem Gesetz.“
„Dann werde ich weniger Trinkgelder bekommen.“
„Na und? Du bist nicht darauf angewiesen. Du hast einen festen Job bei Steven und Toni bucht dich so oft zum Kellnern, weil er dich mag.“
„Woher weißt du das?“
„Er hat es mir gesagt. Er kann dich nicht einschätzen und weiß nie, was du denkst, aber wenn du dich weiterhin für seine Firma engagierst, soll es nicht dein Schaden sein.“
Das hat er zu dir gesagt?“
„Wörtlich. Was hast du denn gedacht, weshalb er dich oft bucht?“
„Ich dachte, er hat sonst keinen.“
„Von wegen. Bei der russischen Hochzeit bist du ihm ans Herz gewachsen, hat er gesagt.“
„Wow“, macht er beeindruckt.

Eine Frage ist unbeantwortet geblieben. Ich hake nach: „Wann hat es angefangen, dass du aussiehst, als seist du in allem sicher?“
„Warum ist das so wichtig für dich?“
„Vielleicht kann Gott, wenn du die Geschichte aufrollst, den Fehler beheben. Solange es wichtig für dich ist, sicher auszusehen und du es gar nicht bist, kann er dir keine echte Sicherheit geben, weil du dich ja auf deine Maske verlässt.“
„Du bist nicht mein Seelsorger.“
„Das stimmt. Und das ist gut so.“

487

„Mist“, lässt Lotte sich von hinten vernehmen.
Ich drehe mich zu ihr um und sie nimmt ein Stöpselchen aus dem Ohr. „Ich dachte, du schläfst. Es war so still.“
„Ich habe Hörbücher dabei. Ihr könnt also meinetwegen auch deutsche Geheimnisse austauschen, ich kriege nichts mit“, lacht sie und steckt den winzigen Lautsprecher wieder ins Ohr.
„Was hat sie gesagt?“
„Wir können anfangen mit Geheimnisse austauschen, sie kriegt es nicht mit.“
„Aha. Dann fang mal an mit den Geheimnissen. Es gibt weder Fluchtmöglichkeiten noch andere Ablenkung.“
„Wieso soll ich anfangen?“
„Weil du der Jüngere bist.“
Na klar. Im Zweifelsfall müssen die Jüngeren immer zuerst ran. Übrigens irrt er sich, es gibt durchaus Ablenkung. „Ich hab noch nie im Schneetreiben gepinkelt.“
„Es funktioniert genau wie im Sonnenschein. Achte auf den Wind“, grinst er.
Ich angele nach meiner Jacke, die seit dem Halt in Linz auf der Rückbank liegt.
„Bring meine mit“, bittet er, „ich muss auch.“
„Ist das die Meisterschaft im Synchronpinkeln?“, lache ich. Wir steigen beide aus und gehen zum Straßenrand.
„Na klar! Und wir sind das niederländische Team. Auf die Plätze, fertig, los!“
„Hup hup Oranje!“, singe ich.
Er gibt den Stadionreporter: „Das niederländische Team liegt in Führung … ist das zu fassen? Die Richter vergeben die höchste Punktzahl! Die Niederlande sind Europameister!“
Noch nie hatte ich so viel Spaß beim Pinkeln. Und wahrscheinlich war mir auch noch nie so kalt. Mein Kreislauf hat den ganzen Tag auf Sparflamme gearbeitet, weil ich ja fast nur herumgesessen habe im angenehm klimatisierten Auto. Jetzt hängt er durch. Ich beginne meine Wintersportkarriere mit der anspruchsvollen Figur „Hampelmann“. Leider wird mir von der Zappelei mit Armen und Beinen nicht warm, ich gerate nur aus der Puste. Schließlich setze ich mich wieder ins Auto.
Miloš folgt mir eine Sekunde später. „Haben wir denn nichts mehr zu essen?“, fragt er.
„Doch. Den Vanillekuchen des Europameisters.“
„Gut. Essen wir ihn auf. Gibt es auch etwas zu trinken?“
Ich krame im Rucksack, der seit heute Morgen zwischen meinen Füßen steht. „Eine halbe Flasche Saft.“
Auf einmal besinnt sich mein Kreislauf seiner Aufgaben und pumpt das Blut kreuz und quer in meinem Körper herum. Europameisterlich, würde ich sagen. Ich ziehe die Jacke aus und lege sie auf die Rückbank.
Lotte nimmt einen Stöpsel aus dem Ohr und fragt: „Hast du was zu mir gesagt?“
„Bisher nicht. Willst du Kuchen?“
„Gerne.“
„Miloš hat ihn gebacken. Sein erster Erfolg in der Küche“, informiere ich, damit sie dem Werk die nötige Ehre erweist und reiche ihr den Deckel der Dose mit zwei Stücken herüber, damit sie nicht auf die Sitze krümeln muss.
„Danke.“

„Würde Toni dich feuern, wenn du dich gegen die Grapscherei wehrst?“
„Wie kommst du denn jetzt darauf?“
„Wir wollen uns Geheimnisse erzählen und ich soll anfangen. Also frag ich dich danach.“
„Das hast du falsch verstanden“, beschwert er sich. „Du sollst keine Fragen stellen, sondern mir ein Geheimnis sagen.“
„Ich sag dir dann hinterher eins. Antworte. Würde Toni dich feuern?“
„Ich hätte dir nichts davon erzählen sollen.“
„Nein, es war anders. Ich hab die Münze in der Unterhosennaht gefunden und habe dich daraufhin gefragt. Würde er dich feuern?“

486

Er winkt ab, „Lange nicht mehr. Das mit den vierzehn Stunden bis Peckovar war von Anfang an unrealistisch. Ich habe keine Pausen, keine Zustiege, keinen Stau, kein Wetter bedacht, sondern nur die Kilometer und die Durchschnittsgeschwindigkeit von hundertzwanzig genommen und damit ausgerechnet, wie lange es dauert. Das ist, als wollte man einen Seeweg mit dem Lineal messen.“
„Eine Landrattenidee“, grinse ich.
„Ja. Schlimm?“
Ich winke ebenfalls ab.
Er grinst ebenfalls. „Willst du weiter oder sollen wir uns ein Bett suchen?“
„Da wir nicht auf der Flucht sind, bin ich eher für die Variante mit dem Bett.“
„Gut. Frag Lotte, ob sie uns in Graz was empfehlen kann.“

Lotte kann. Sie ruft in dem Hotel an, in dem sie die kommende Nacht verbringen wird und fragt, ob noch zwei Zimmer frei sind. Das ist leider nicht der Fall, aber vielleicht halten wir es auch im Doppelzimmer aus? Nach meiner Zusage reserviert sie das Zimmer und gibt mir das Blatt mit ihrer Buchungsbestätigung, auf dem die Adresse des Hotels steht. Ich tippe sie ins Navigationsgerät ein.(263)
„Mit euch habe ich es wirklich gut getroffen“, lacht sie. „Ich werde nicht nur zuhause abgeholt, sondern auch bis zum Hotel gefahren. Fahrt ihr öfter quer durch Europa? Vielleicht begegnet man sich ja noch mal.“
„Ich weiß nicht, wie sich dieser Besuch entwickelt, ich kenn die Verwandtschaft noch nicht. Wenn wir uns mögen, wird das hier sicher nicht die letzte Fahrt gewesen sein.“

In Linz werden wir Charly los. Über die Zwischenfälle wird kein Wort verloren, er zahlt seine Rechnung, nimmt sein Gepäck und geht.

Am frühen Abend hat es wieder zu schneien begonnen; dieses Wetter begleitet uns bis weit hinein nach Österreich.
Mit halber Aufmerksamkeit sehe ich ein Polizeifahrzeug mit rotierendem Blinklicht am Rand der Autobahn stehen.
„Was stand auf dem Schild?“, will Miloš wissen.
„Auf welchem Schild?“
„Die hatten ein Schild am Auto, auf dem stand was drauf.“
„Hab ich nicht bemerkt.“
Er bremst ab.
„Warum wirst du langsamer?“
„Weil wir vielleicht auf einen Stau zufahren. Bevor du fragst, woher ich das weiß: ich weiß es nicht, aber es ist ein Erfahrungswert.“
Ich seufze tief. „Wie weit ist es noch bis Graz?“
„Hundertfünfzig Kilometer. Das steht übrigens da.“ Er tippt auf den Bildschirm des Navigationsgerätes. „Wenn wir aber im Stau stehen, dauert es länger als eine Stunde und zwanzig Minuten. Das ist auch ein Erfahrungswert.“
„Logo“, mache ich und seufze noch einmal.
„Was gibt’s?“, erkundigt er sich.
„Mir reicht’s mit dieser Reise. Ich mag nicht mehr stillsitzen. Außerdem muss ich pinkeln und Hunger hab ich auch.“
„Von Graz aus sind es nur noch etwas mehr als dreihundert Kilometer. Zum Mittagessen sind wir längst da.“
„Hast du eigentlich angerufen, dass wir heute nicht mehr ankommen?“
„Natürlich.“
„Trotzdem. Ich will nicht mehr hier rumsitzen.“
Das Stauende ist in Sicht und Miloš wechselt auf die rechte Spur. Dort fährt er noch eine Weile an der Autokolonne auf der linken Spur vorbei, dann geht nichts mehr.

485

„Gib mir bitte eins von den kleinen Päckchen aus der Vordertasche vom Rucksack“, weist Miloš mich gewohnt präzise an.
„Was ist das?“, will ich wissen, als ich ihm das gewünschte Dings gebe.
„Ein Paar Ohrenstopfen.“
„Hast du noch mehr davon?“
„Ja, da drin. Nimm dir.“

Es ist eine Erlösung. Der Lärm wird dumpf. Auf einmal merke ich, wie müde ich bin. Mir fallen die Augen zu.


hundertneunundvierzigstes Kapitel

Ich wache auf, weil es still ist. Still und dunkel. Und kalt. Ich bin alleine im Auto, das auf einem Parkplatz steht. Ich öffne die Tür, weil der elektrische Fensterheber ohne den Zündschlüssel nicht funktioniert. Das typische Rauschen des Verkehrs fehlt, also befindet sich der Parkplatz nicht an der Autobahn. Wo sind wir? Und wo sind die anderen? Auf Melissa und ihre vierbeinige Nervensäge kann ich verzichten, aber Miloš darf gerne wieder auftauchen. Der Blick zur Uhr verrät mir, dass es kurz nach sechs ist.
Als ich die Tür zuziehe und das Türenschließgeräusch fehlt, fallen mir die Ohrstöpsel ein und ich puhle sie heraus. Auf einmal befindet sich der Parkplatz sehr wohl an der Autobahn, was ich prima hören kann, weil zugleich Miloš die Fahrertür öffnet.
Schnaufend lässt er sich in den Sitz fallen. „Da bist du ja wieder“, sagt er.
„Wie, da bin ich ja wieder? Ich war die ganze Zeit hier.“
„Ja, aber nicht wach. Du hast den Höhepunkt der bisherigen Fahrt verpasst.“
„Erzähl.“
„Ich habe die Stöpsel ziemlich schnell wieder heraus genommen. Man hört den Motor nicht und keine Sirene, kein Hupen, kein Bremsenquietschen. Also habe ich versucht, das Gekläff einzukapseln.“
„Was heißt denn das?“
„Du hast den ganzen Tag Geräusche um dich, einige sind wichtig, aber die meisten sind nicht wichtig. Die sortiert dein Gehirn aus, um sich vor Überlastung zu schützen. Mit ein bisschen Übung kannst du das steuern; bei eintönigen Geräuschen geht es besonders gut. Na ja. Ich war mäßig erfolgreich. Irgendwann packt Charly die Hundeschnauze und hält sie zu. Einfach so. Der Hund fängt an sich zu wehren, jault, sträubt sich, Melissa keift ihn an, vermutlich, dass er den Hund loslassen soll … du hast von dem ganzen Getöse nichts mitgekriegt?“, erkundigt er sich ungläubig.
„Nein.“
„Zum Glück waren da gerade Hinweisschilder für den Rasthof, also bin ich eingebogen, weil ich abwarten wollte, bis sie sich wieder beruhigt haben. Die arme Lotte, die kann ja nicht weg! Aber da ging es erst richtig los, sie rannte auf dem Parkplatz rum, er hinterher, hat ihr eine gescheuert und dem Hund auch, weil der auf einmal auch außerhalb des Autos kläffte. Da ist Melissa an die Kofferraumklappe gegangen, hat ihr Zeug genommen und ist zur Tankstelle abgedampft. Ich bin hinter ihr her, weil ich ja noch Geld von ihr kriegte, aber das hat sie natürlich überhaupt nicht eingesehen. Ich will gar nicht wissen, was sie mir an den Kopf geworfen hat. Lotte ist hinterher gekommen und hat ihr die Meinung gesagt und dann hat Melissa endlich das Geld rausgerückt.“
„Und wo sind wir hier?“
„Irgendwo mittendrin zwischen Nürnberg und Österreich.“
„Ist das gut? Ich meine, sind wir im Zeitplan?“

484

Lotte unterbricht die Unterhaltung, indem sie mich von hinten anstupst. „Beim nächsten Rastplatz müsste ich mal raus.“
„Hättest du das nicht vorhin erledigen können?“
„Typisch Mann. Außerdem ist dieses „vorhin“ eine Stunde her.“
Sind wir schon eine ganze Stunde unterwegs? Wow, das ist seit Essen das erste Mal, dass wir nicht alle paar Kilometer in einen Stau geraten! „Pinkelpause“, melde ich an.
„Jep“, macht er. „Wann machen wir übrigens Mittagspause?“, fragt er mich und wiederholt das gleich noch einmal auf Slowenisch. Ich gebe die Frage auf deutsch weiter.
Nach kurzer Zeit haben wir folgendes Stimmungsbild: Jožef ist es egal, er hat vorhin noch was an der Raststätte gegessen und bis Nürnberg, wo er uns verlässt, ist es ja nicht mehr weit. Lotte hat zwar Hunger, kann aber auch im Auto essen, sie hat Butterbrote dabei. Ich halte es wohl noch aus bis Nürnberg, wenn das tatsächlich nicht mehr so weit ist. Und Miloš sagt, das wir dann also in Nürnberg Halt machen, denn bis dahin haben wir noch anderthalb Stunden Weg, wenn wir weiter so gut durchkommen.

Nach besagten anderthalb Stunden halten wir an einer Straßenbahnhaltestelle in Autobahnnähe und Jožef zahlt sein Fahrtgeld, nimmt sein Köfferchen und verabschiedet sich.
„Wo steigt der nächste zu?“, will ich wissen.
„An dem Autohof, zu dem wir jetzt fahren, um dort Pause zu machen. Es ist Charly, deutsch und englisch, und er will nach Salzburg. Wir nehmen ihn mit bis Passau oder Linz, das wusste er gestern noch nicht, als ich zuletzt die Emails gelesen habe.“
„Danke für die ausgesprochen ausführlichen Informationen. Scheint so, dass du ziemlich viel deutsch verstehst.“
„Nein. Die Emails hat mir eine Verkäuferin in Barenkarspel übersetzt und die Antworten hat sie auch geschrieben. Wir haben schon ein paar Mal zusammen Mittagspause gemacht.“
Wofür will er englisch lernen? Er wird auch so in der ganzen Welt zurecht kommen.

Mommi hat uns Pizza gebacken, die wir nun in kaltem Zustand verzehren. Dazu trinken wir frischen Kaffee, was unsere Anwesenheit im Bistro legitimiert – obwohl die Angestellten wenig begeistert zu uns herüber geschaut haben, als wir das Picknick auspackten.
Das Handy bimmelt. Ich nehme das Gespräch entgegen, es ist Charly, unser nächster Passagier. „Hi, ich wollte mal fragen … ähm, seid ihr schon da?“
„Ja. Wir machen gerade Mittagspause.“
„Also, weil, ähm … das ist ein bisschen schlecht geplant, aber … ähm–“
„Willst du mir mitteilen, dass du nicht kommst?“, unterbreche ich das Gestammel.
„Nee, ich wollte fragen … also nur wenn das nicht blöd ist … das wär total super, also–“
„Komm zur Sache“, bitte ich.
„Habt ihr noch einen Sitzplatz für meine Freundin frei?“
„Wo will die denn hin?“
„Auch nach Salzburg. Wir würden dann übrigens bis Linz mitfahren.“
„Aha. Warte mal kurz.“ An Miloš gewandt frage ich: „Haben wir noch einen Platz frei für seine Freundin, die das gleiche Ziel hat?“
„Auf jeden Fall! Sag ihm, er soll sie bitte mitbringen. Dann können wir aufholen, was uns dieser Schwachkopf bei Frankfurt vorenthalten hat.“
Ich richte das aus und erfahre, dass sie in einer Viertelstunde ankommen werden.
Lotte gesellt sich zu uns und bekommt das letzte Stück Pizza.
Kurz darauf erscheinen zwei Leute an unserem Tisch, die sich mit Charly und Melissa vorstellen und neben umfangreichem Gepäck auch noch ein zierliches Hündchen mitbringen. „Keine Sorge“, verspricht Melissa, „Mimi ist ganz lieb, die hat noch nie jemanden gebissen.“

Wir sind keine zehn Minuten unterwegs, als ich mich schon frage, was schlimmer ist: ein bissiger Hund oder einer, der unablässig bellt. Die ganz liebe Mimi kläfft pausenlos. Melissa entschuldigt das damit, dass ihr Liebling Autofahren halt nicht gewöhnt ist. Sie streichelt und tätschelt das Tier, redet ihm gut zu, dass es sich beruhigen soll und dass ihm ja nichts passieren wird. Die zusätzliche Lärmbelästigung geht mir noch mehr auf den Geist.

483

„Mach Musik an, wenn du willst“, sagt er während der Weiterfahrt. „Ich habe ein paar CDs ins Handschuhfach gesteckt.“
Ich klappe es auf und prüfe das Sortiment. „Nanu! Keine CD von Shakira!“, lästere ich.
„Shakira trage ich im Herzen“, gibt er grinsend zurück.
„Ob sie das zu schätzen weiß?“
„Na sicher. Was ist ein Musiker ohne Fans? Nichts. Ohne Leute wie mich hätte sie längst aufgehört mit der Musik.“
„Du solltest englisch lernen, dann kannst du sie besuchen und ihr deine Liebe gestehen. Vielleicht nimmt sie dich ja auch mit auf die Bühne. Musikalisch bist du ja.“
„Jaja, für dich ist das alles furchtbar lustig. Aber lach du nur. Ich werde mich im Herbst bei einem Sprachkurs anmelden.“
„Warum tust du das erst im Herbst?“
„Weil ich vorher noch Niederländer werden will, und ich kann mir nicht alles auf einmal leisten. Immerhin muss ich mir die Staatsbürgerschaft mit meinen jämmerlichen dreißig Prozent zusammen sparen.“
„Höre ich da Kritik an unserer Vereinbarung?“
„Überhaupt nicht!“, macht er ironisch.
„Ich habe keine Lust, mit dir übers Geld zu diskutieren. Erst recht hier, wo vielleicht doch das eine oder andere Wort in den übrigen Sprachen verständlich ist.“
„Ja“, sagt er, hat aber nicht aufgegeben, wie er kurz darauf beweist: „Sieh es bitte mal so. Wir haben zwar die gleichen Prozentsätze, insofern ist es gerecht, aber du hast mehr Geld. Aber mein Leben kostet nicht weniger als deins, insofern ist es ungerecht. Ich muss ja auch noch die Fahrerei nach Alkmaar und das Handy zahlen. Das ist kein Privatspaß, ich brauche es für die Arbeit.“
„Aber wenn es gut läuft, gehst du einmal kellnern und hast zweihundert Euro verdient! Die Chance habe ich nicht.“
„Wieso? Du könntest auch kellnern gehen.“
„Lenk nicht ab, du weißt genau, was ich meine. Außerdem hast du nicht mehr Geld, wenn ich kellnern gehe.“
„Und übrigens, wir wollten nicht streiten.“
„Jaha!“, mache ich und reiße mich zusammen. Einige Kilometern später sage ich: „Und wenn du vom Kellnergeld bis zum Sommer keine siebzig und dreißig Prozent nimmst?“
„Hä?“
„Es ist unser Konto, unser Finanzplan, unsere WG. Wir bestimmen die Gesetze. Wir sind nicht an den Prozentsatz gebunden. Also würde ich sagen, behalt das Kellnergeld, bis du den Pass hast und dann kannst du noch mal überlegen, wie du es regelst.“
Er atmet tief durch. „Und warum schlägst du mir das jetzt vor?“
„Erstens, weil ich tatsächlich keinen Streit ums Geld will. Und zweitens, weil es mir vorher nicht eingefallen ist. Drittens, warum hast du das nicht mal angesprochen?“
„Ich wollte keinen Streit ums Geld anfangen.“
„Ich scheine einen schrecklichen Ruf zu haben.“
„Ich bin harmoniebedürftig“, brummt er.
Das bringt mich zum Lachen. „Harmoniebedürftig! Du! Wie hältst du es dann immer aus, derart engagiert mit mir zu streiten?“
„Das ist meine andere Seite.“
„Gut zu wissen. Wie viele andere Seiten hast du?“
„Nur die eine.“

482

„Aha“, mache ich. „Um auf meine Frage zurück zu kommen, was ist das nächste Ziel?“
„Eine Autobahnraststätte namens Medenbach. Kurz vor Frankfurt.“
Ich gebe es an Lotte weiter und sie sagt: „Das war aber nicht alles, was ihr geredet habt.“
„Mein Kumpel ist ein großer Philosoph und er wundert sich über die deutsche Sprache, von der er kein Wort versteht. Das ist nämlich auch ausgleichende Gerechtigkeit. Er spricht vier Sprachen, aber eben kein Deutsch.“
„Vier!“, staunt sie, „das sind viele. Ich kann nur Englisch. Ach ja, und Deutsch natürlich.“
„Haha“, mache ich, „Englisch kann er auch nicht. Wir könnten vor seinen Ohren englische Geheimnisse austauschen und er würde nichts kapieren.“(262)
„Nanana“, brummt er. „Machst du dich über mich lustig?“
„So viel scheint er dann doch zu kapieren“, lacht sie, „Immerhin ging es jetzt um ihn.“
„Ja, aber nur weil ich zu ihm hingeguckt habe.“

Wir reden noch über dies und das, dann löst sich der Stau auf und Miloš’ Fahrweise bewirkt bei Lotte die gleiche Tiefenentspannung wie bei Merle. Nach wenigen Minuten ist hinten Stille. Leider kommen wir schlecht vom Fleck. Durch das schlechte Wetter, reichliche Baustellen, gelegentliche Unfälle und in der Nähe von großen Städten immer wieder hohe Verkehrsdichte ist an ein gleichmäßiges Fahren nicht zu denken.
Schließlich erreichen wir aber endlich den Rasthof Medenbach bei Frankfurt.
Der eine Mitfahrer wartet schon im Bistro der Tankstelle, es ist ein kleiner älterer Herr namens Jožef, der gleich ein angeregtes Gespräch mit Miloš anfängt. Scheint so, dass er auch ein Yugo ist. Von Mitfahrer Nummer zwei, Manuel, ist keine Spur. Als wir vorhin zur vereinbarten Zeit telefonierten, hat er versprochen zu warten!
Miloš gibt mir das Handy, damit ich ihn erneut anrufen kann.
Ich lausche dem Tuten, dann nimmt am anderen Ende jemand ab. „Hallo Manuel, hier ist deine Mitfahrgelegenheit. Wir sind jetzt in Medenbach angekommen. Wo bist du?“, halte ich erst mal alles ganz neutral.
„Wie, jetzt erst? Wir waren vor vierzig Minuten verabredet!“
„Ich habe unterwegs angekündigt, dass Stau ist. Wo bist du?“
„Ist doch scheißegal, oder? Ich bin schon weg, weil ihr nicht pünktlich wart.“
„Das ist kein Grund, unfreundlich zu werden. Du hättest wenigstens absagen können.“
„Leck mich, Alter!“, tönt es mir ins Ohr und die Verbindung ist beendet.
Miloš winkt ab. „Ärger dich nicht drüber. Wahrscheinlich ist es besser so. Vielleicht stinkt er, da wäre es kein Spaß gewesen, mit ihm im Auto zu sitzen.“
„Hast du das jetzt doch verstanden?“
„Man braucht nicht viel Fantasie, um so ein Telefonat zu verstehen. Jožef?“, ruft er den älteren Herrn und sagt ihm in der mir unbekannten Sprache, dass es weiter geht. Das selbe erkläre ich Lotte und unsere multilinguale Reisegesellschaft verlässt das Gebäude.
Weil Jožef deutlich älter ist als ich, überlasse ich ihm den Beifahrersitz. Er lächelt verlegen und bedeutet mir pantomimisch, dass das nicht in Frage kommt und er sich nach hinten setzen wird. Das sagt er vermutlich auch Miloš.
„Amalia hat dich ja furchtbar gut erzogen!“, lacht der. „Jožef sagt, du sollst deine langen Gräten da vorne ausbreiten. Keine Widerrede.“
„Welche Sprache ist das eigentlich, die ihr redet?“
„Slowenisch.“
Aha. Slowenisch ist eine der Sprachen, die er nur ein bisschen kann. Wieso habe ich geglaubt, dass er damit das selbe meint wie ich, wenn ich sage, dass ich eine Sprache nur ein bisschen kann?