31. Mai 2016

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Als erstes sichte ich das Sortiment. Die einzigen Blumen, die ich mit Namen kenne, nämlich Rosen und Tulpen, sind nicht dabei. Die Blumen nach Sorten zu ordnen wäre unsinnig. Also teile ich sie in Farbgruppen. Die meisten sind rot und orange. Blaue, gelbe und weiße gibt es auch, aber nicht so viele. Dann baue ich mir einen Arbeitsplatz, breite mich aus und fange an. Zuerst stecke ich nur wahllos die Blumen zusammen, aber irgendwann kommt mir eine Idee und ich löse die Sträußchen auf, die schon in den Flaschen steckten.

Schließlich ist das Werk vollbracht. Die Gäste können sich nun aussuchen, ob sie lieber an orange-gelben oder rot-weiß-blauen Sträußchen sitzen wollen. Holländische Blumen werden in die ganze Welt exportiert, und das darf man meinen Sträußen ruhig ansehen.
Ich organisiere einen Eimer Wasser und ein Geschirrhandtuch, stippe die Flaschen hinein, bis sie vollgelaufen sind und trockne sie ab. Jedes Kunstwerk kriegt einen ganz besonderen Platz. Merle wäre begeistert!
Pünktlich zum Ende meiner Arbeit betritt Dijana den Raum. Sie staunt, sie ruft Obibi und Sloba dazu, sie strahlt, sie küsst. Was will man mehr? Diese bosnische Reise ist ein einziger Triumphzug.

Weniger triumphal sieht Miloš aus, als er eine Weile später zurückkehrt.
„Was hat’s gegeben?“, erkundige ich mich.
Er schnaubt. „Das Übliche! Ich habe mal wieder alles falsch gemacht. Nicht nur die Form, sondern auch den Inhalt. Wenn wir seit gestern Mittag hier sind, wieso komme ich mehr als vierundzwanzig Stunden später? Und wenn er durch halb Europa fährt, um seine Familie wieder zu vereinen, warum muss er dann von den Nachbarn erfahren, dass ich gut in der Heimat angekommen bin? Und so weiter.“
„Aber er denkt doch hoffentlich nicht, dass du hier bleibst?“
Abrupt fährt er mich an: „Jeremy, wie soll ich wissen, was er denkt?“
Besser wäre er nicht hingegangen. „Kommt er heute Abend?“
„Ich habe ihn nicht danach gefragt.“
Dijana tritt aus der Küche, streichelt ihm über die Wange und fragt etwas. Er antwortet widerwillig. Sie fragt noch etwas. Er bleibt reserviert. Erneut streichelt sie sein Gesicht. Dann wechselt sie das Thema – zumindest sieht es so aus, denn auf einmal betrachtet er die nächsten beiden Blumensträußchen. „Orange und rot-weiß-blau? Ist das Zufall?“, fragt er.
„Natürlich nicht! Es sind die Farben des Europameisters!“
„Richtig, das niederländische Team ist ja Europameister. Das hatte ich ganz vergessen“, spielt er mit. „Unsere Dekofachfrau wäre stolz auf dich!“
„An die habe ich eben auch schon gedacht.“
Er zückt das Handy und knipst Fotos und ich wette, er schickt sie zu Merle.
Dijana sagt noch etwas zu ihm und er übersetzt es für mich: „Es ist nichts mehr zu tun. Dragi müsste gleich kommen, wir können gehen uns schick machen.“


hundertdreiundfünfzigstes Kapitel

Es ist wahnsinnig anstrengend, die ganze Zeit mit drei Sprachen zu jonglieren und von der einen zur anderen zu wechseln. Und es macht wahnsinnigen Spaß, mit Dragans und Dijanas Großfamilie zu feiern. Das Essen ist lecker, das Bier auch (Miloš hat es mir fast aufgedrängt, bitteschön Bier zu trinken, wenn mir danach ist) und ich genieße es aus vollen Zügen, in dieser ganz neuen Gesellschaft zu sein.
So wohl war es mir sehr lange nicht mitten zwischen Leuten, die ich kaum kenne. Aber ich glaube, mein werter Freund hat kein bisschen übertrieben: sie lieben mich. Es kann nur so sein. Und es gehört zu dem Thema, das wir besprochen haben, als wir vor Graz auf der Autobahn standen: Ich habe überhaupt keinen Grund, schüchtern zu sein.
Ich stehe eine halbe Stunde in der Küche und Dijana redet von nichts anderem mehr als dass ich so klug und toll und freundlich bin und dass es ganz egal ist, dass ich die Sprache nicht spreche, weil man sich einfach so mit mir verstehen kann.(270) Die gleiche Erfahrung machen die Eltern der Kinder, die gestern (und auch heute) da sind. Meist ist mindestens ein Kind da, wo ich sitze. Ich versuche zwar, sie in die Spielecke zurück zu schicken, aber das funktioniert nur so lange, bis mir wieder eins dringend etwas zeigen muss. Und Sloba … ich will sie wiedersehen. Ich muss! Wenn sie zurück in Köln ist, werde ich meine Scheu vor großen Städten bekämpfen und sie besuchen fahren. Ohne ihren Cousin.

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