21. Dezember 2015

387

„Was wollte der Bulle eigentlich?“
„Jemand hat deinen Führerschein bei ihm abgegeben.“
„Du könntest ihn alleine abholen.“
„Ist es mein Führerschein?“

Nach dem Frühstück machen wir uns auf den Weg nach Alkmaar.
Der Weg zum Ziel (und zum Zug) zieht sich in die Länge, weil sein Fahrrad seit gestern Mittag am Bahnhof steht und er nicht auf meinem mitfahren möchte. In unserer Straße sind wir zwar so gestartet, aber schon die kleinsten Erschütterungen hat er im Knie gespürt.
Zu Fuß brauchen wir aus demselben Grund sehr lange. Er kann das Knie nicht beugen und kaum belasten. Seiner Diagnose nach ist es nur eine schmerzhafte Prellung, die ohne ärztliche Hilfe auszukurieren ist. Ich werde ihm da nicht reinreden, denn das würde vermutlich in einem Streit enden.

In der Wachstube der – wie hat er es genannt? Dienststelle Mitte? – befinden sich zwei Beamte; eine Frau in unserem Alter und ein älterer Herr.
„Hoi. Was kann ich für euch tun?“, fragt die Frau.
„Wir sind mit Herrn Iedema verabredet“, sage ich.
„Arend, für dich”, sagt sie zu ihrem Kollegen.
Der rückt an seiner Brille, „Die Herren Kusturica und van Hoorn“, tippt er. Er ist um die Fünfzig und wirkt gütig.(203)
„Kusturica“, korrigiert Miloš die Aussprache.
Er nickt, „Kommen Sie mit mir“ und geht uns voraus in ein Bürozimmer im gleichen Flur. Dort nimmt er hinterm Schreibtisch Platz und wir davor. Er öffnet eine Schublade, entnimmt ihr Miloš’ Führerschein und reicht ihn herüber. Dann fragt er: „Fehlt Ihnen vielleicht auch noch ein Schlüsselbund?“
„Ja.“
„Wie sieht er aus?“
„Ein Ring mit einem Autoschlüssel für einen Ford, drei Türschlüsseln – zwei eckig, einer rund, einem fürs Fahrradschloss und einem Karabinerhaken. Und am zweiten Ring eine kleine rote E-Gitarre aus Metall.“
Lächelnd legt der Mann den Bund auf den Tisch. „Und auch noch ein Portmonee?“
Wer ihn nicht kennt, sieht keine Regung, aber ich spüre, dass er aufatmet. Hurra, die Rechnung geht auf!
„Ja. Schwarzes Glattleder, ziemlich alt, und im Sichtfensterchen hoffentlich ein Foto mit einem Sonnenaufgang in den Dünen.“
Er gibt auch dieses Teil ab, dazu den Pass und den Bibliotheksausweis.
„Fehlt noch was?“
„Ja, achtzig Euro und ein paar Münzen, die Monatskarte und mein Mobiltelefon, aber das liegt wohl nicht draußen herum.“
Der Polizist nickt. „Nachdem ich Sie wegen des Führerscheins angerufen hatte, dauerte es keine zehn Minuten, bis eine alte Frau Ihren Pass brachte, dann kamen zwei kleine Jungs, die den Schlüsselbund gefunden hatten und danach eine andere Frau, die das Portmonee abgegeben hat. Zum Schluss ein junger Mann, der Ihre Büchereikarte brachte. Alles ist an unterschiedlichen Orten im Zentrum gefunden worden. So was ist mir in meiner ganzen Dienstzeit noch nicht passiert.“

386

Nach Erledigung meiner Morgenrituale bereite ich Frühstück. „Was willst du essen?“, erkundige ich mich an der Terrassentür.
„Nichts.“
„Doch. Du willst was essen. Dein Bauch weiß das nur noch nicht. Denk mal drüber nach.“
Ungefähr zwei Minuten später bringt er seine leere Tasse rein. „Du könntest diese Pampe anrühren, die du mir gemacht hast, als ich das letzte Mal besoffen war. Die könnte helfen.“
„Hafergrütze. Mach ich. Und zu trinken?“
„Alles außer Salbeitee.“
„Na klar.“
„Was ich dich ja fragen wollte: hast du die Blümchen auf dem Tisch gebastelt?“
„Nein, Merle war gestern Abend hier. Die kann nicht ohne Deko, kennst sie doch.“

Mitten beim Essen klingelt das Telefon. „Ja?“, melde ich mich.
Ein Mann stellt sich vor: „Iedema, Polizei Alkmaar, Dienststelle Mitte. Spreche ich mit Herrn Milos Kusturica?“
„Nein, mit Jeremy van Hoorn. Aber mein Freund heißt so. Worum geht’s?“ (202)
„Kann ich ihn bitte sprechen?“
„Moment“, sage ich in den Hörer und reiche das Dings herüber.
„Wer ist dran?“, fragt Miloš leise.
„Polizei.“
Hastig deckt er den Hörer zu und flüstert: „Ich bin nicht da. Ich kann nicht reden, verstehe die Sprache nicht oder erfinde irgendwas.“
Na hoppla! Verwundert führe ich das Gespräch fort. „Sagen Sie mir bitte, worum es geht. Ich richte es aus.“
„Ein Taxifahrer hat seinen Führerschein gefunden und abgegeben.“
„Wunderbar. Wir kommen vorbei. Wo finden wir Sie?“
Der Beamte nennt die Adresse und ich schreibe mit.
Ich habe kaum aufgelegt, da: „Bist du bescheuert, dem zu versprechen, dass wir vorbei kommen?!“
„Warum regst du dich so auf?“
„Weil ich mit den Bullen nichts zu tun haben will!“
Okay, ganz von vorne. „Warum willst du mit den Bullen nichts zu tun haben?“
„Und sag denen nie wieder, wo ich wohne!“
„Aber der wusste doch schon, wo du wohnst, sonst hätte er ja nicht hier angerufen!“
Er schnaubt serbisch.
Was ist denn bei dem los? „Miloš. Warum?“
„Weil die Bullen das letzte Pack sind! Weil ich mit denen bis jetzt nur Ärger gehabt habe! Dreimal habe ich in der Zelle gehockt, ohne was getan zu haben!! Einmal haben sie mich fast zwei Tage festgehalten und ich durfte nicht mal meine Mutter anrufen!“
Oh, davon weiß ich ja gar nichts. Bei Gelegenheit muss ich mal nachfragen. „Heute wirst du gute Erfahrungen mit der Polizei machen.“
„Woher bist du so sicher?“
„Ich weiß es.“ Er ist nicht überzeugt, deswegen lege ich nach: „Ich begleite dich. Und apropos: du solltest die Typen von letzter Nacht anzeigen.“
„Was soll das bringen? Ich werde keinen wiedererkennen können. Es war dunkel und sie hatten Kapuzen auf.“
„Siehst du, genau das sagst du der Polizei. Wie viele es waren, klein, groß, dick, dünn, alt, jung, haben sie mit Akzent gesprochen und so weiter. Wenn hier einer Akzente auseinander halten kann, dann doch wohl du! Vielleicht sind die da schon bekannt.“
Zweifelnd guckt er mich an und widmet sich weiter seinem Haferbrei.
„Es liegt nicht daran, dass du keinen gesehen hast, sondern es liegt daran, dass du der Polizei misstraust. Ja?“, rate ich ins Blaue. Er schaut nicht auf und ich weiß, dass ich richtig liege. „Wie gesagt, du wirst heute gute Erfahrungen machen. Versprochen.“

385

Ich halte einen Waschlappen unter Warmwasser und wasche das Blut von seinem Rücken. Es wäre mir lieber, er würde zum Arzt gehen. „Und jetzt?“, erkundige ich mich vorsichtig.
„Verbinden.“
„Ohne Verbandsmaterial wird das schwierig.“
„Was hast du denn in der Hausapotheke?“
„Pflaster. Und Kopfschmerztabletten.“
Er steht auf und versucht sich im Spiegel von hinten zu begucken, was aber offenbar kein Ergebnis bringt, denn er fragt: „Blutet es noch?“
„Nein.“
„Dann lass es so.“ Er atmet schwer. „Das wächst wieder zu.“ Nun will er sich mit dem Waschlappen das Blut vom Gesicht wischen.
Ich sehe, wie er schwankt. Ich halte ihn an den Schultern, ziehe den Hocker mit dem Fuß ran und drücke ihn darauf. Dann nehme ich ihm den Lappen ab und säubere ihn behutsam. Anschließend helfe ich ihm in ein T-Shirt und eine Shorts und begleite ihn in sein Bett.
„Körnerkissen“, erinnert er matt.
„Gleich.“ Ich fange an mit dem Gesicht, segne das linke Auge nebst Augenbraue, die Nase, die Lippe. Dann natürlich die Wunde am Rücken, den Bauch, die verschrammten Fäuste. Das rechte Knie, das, wie ich erst jetzt bemerke, dick geschwollen ist (stimmt, er hat gehumpelt) und die Seele, die bei so einem Überfall auch immer Schaden nimmt.
Ich hole die Körnerkissen herauf und die Salbe fürs Knie und ein kleines Schälchen mit Olivenöl. Davon streiche ich ihm auf sein geschundenes Gesicht und die Hände, damit die Haut nicht spannt, wenn die Wunden trocknen oder die Schwellungen noch weiter zunehmen.(201) Danach verteile ich die Körnerkissen unter der Bettdecke und die Salbe auf dem Knie.
Obwohl er mich nicht darum gebeten hat, bleibe ich an seinem Bett sitzen, bis er eingeschlafen ist. Mir hätte das gut getan.
Irgendwann fange ich an zu beten. Danke, dass du ihn bewahrt hast. Gegen drei und ein Messer hätte es auch anders ausgehen können. … Und mach, dass er keine Angst hat, wenn er das nächste Mal im Dunkeln unterwegs ist. Mach sein Herz heil, dazu hab ich ja eben gar nichts gesagt. … Und bestimmt will er sich jetzt einen neuen Anzug kaufen. Schenk ihm so viel Geld, dass er nicht den billigsten nehmen muss. Er trägt doch so gerne so schickes Zeug. … Hatte er eigentlich beim Überfall viel Geld bei sich? Na ja, die Taschen im Anzug waren leer, also wird alles geklaut sein. … Kannst du das bitte so machen, dass die Papiere gefunden werden und sie jemand zu uns zurück bringt oder vielleicht bei der Polizei abgibt? Es dauert furchtbar lange, bis alle Sachen wieder zusammen sind, das weißt du ja auch. Erst recht der Pass. Dafür muss er bestimmt bis nach Den Haag zur Botschaft fahren.

Mein erster Weg am nächsten Morgen führt ins Nachbarzimmer. Das Bett ist leer! Kopfschüttelnd gehe ich nach unten. Gestern war er mehr tot als lebendig, und heute läuft er schon wieder um den Block?
Nicht ganz. Er sitzt auf der Terrasse, neben sich auf Mommis Gartentisch eine Tasse Kaffee, das rechte Bein auf den zweiten Stuhl hochgelegt, und genießt die Strahlen der Wintersonne. Jetzt erinnert er mich wirklich an den Boxer aus dem Film; der hatte seinen Kampf nämlich verloren.
Er macht die Augen nicht auf. „Guten Morgen. Drinnen ist Kaffee für dich.“
„So weit bin ich noch nicht, ich muss erst ins Bad. Wie geht’s dir?“
Jetzt guckt er mich doch an – soweit es das Gesicht zulässt. „Beschissen, aber viel besser als gestern Nacht.“

Fußnoten 201 - 250

201 Das habe ich mal in einem Film über einen Boxer gesehen.
202 wie alle Niederländer, die seinen Namen lesen, macht er aus den U zwei Ü. So sind wir: u gelesen, ü gesprochen. Miloš muss seinen Namen immerzu dagegen verteidigen.
203 Außenwirkung ist nicht gleich Innenzustand, ich weiß, aber wenn einer gütig aussieht, ist er kein Arschloch. Ich sehe gute Chancen für Miloš’ heilsame Erfahrungen mit unserer Polizei
204 auch wenn das ziemlich sicher ein Zitat war
205 und die dazu auch noch Zeit mit mir verbringt. Das muss man sich mal vorstellen!
206 konditionell hätte es sicher besser geeignete Zeitpunkte gegeben
207 ganz so viel Ruhe soll dann doch nicht einkehren in meinem Leben!
208 trotz meiner flapsigen Schnelldiagnose glaube ich nicht, dass es daran liegt, dass er wegen dem dicken Knie weder joggen noch schwimmen kann.
209 korrekter geht es nicht. In der Bibel ist ja auch von Olivenöl die Rede.
210 das kann nicht alles an Shakira liegen. Ich glaube, sie ist eher eine der Begleiterscheinungen.
211 zumeist verheißt das gesamteuropäische Hausmannskost
212 der Mann ist kein Niederländer, würde ich sagen, aber Yugo ist er auch nicht. Keine Ahnung, woher er kommt.
213 der übrigens nicht nur van Wieringen und Papa heißt, sondern auch noch Frans
214 ja, ich weiß sie schon jetzt auswendig!
215 Unsere Kommunikation ist längst ein Anschreien und Nicht-ausreden-lassen geworden
216 genau wie ich es ihm gezeigt habe
217 Und das sage ich trotz der Einsamkeit, die mich hier manchmal überkommt!
218 was wird er tun, wenn ich eine entzückende Bosnierin kennen lerne, zum Beispiel im Februar? Wird er seinen Entschluss überdenken?
219 Start in Zuyderkerk, durchs IJsselmeer, die Nordsee, Nord-Ostseekanal, Polen: Danziger Bucht, Nogat, Weichsel, Bug, Weißrussland: Djnepr-Bug-Kanal, Pripjat, Ukraine: Djnepr, Schwarzes Meer, Türkei: Marmarameer, griechische Ägäis, Ionisches Meer, Italien: Tyrrhenisches Meer, Golf von Genua, Ligurisches Meer, Rhonedelta (zu Frankreich), spanische Balearen, Gibraltar, portugiesische und nordspanische Atlantikküste, französische Biscaya, Golf von St. Malo, Seinebucht, Straße von Dover, belgische Nordseeküste, Nordseekanal (IJmuiden nach Amsterdam), Markermeer, Ankunft in Zuyderkerk pünktlich zum Kaffeetrinken bei Mommi.
220 Ob es deshalb eine Wikingergrippe ist, hält sie für fraglich, was aber beweist, dass sie noch Humor hat. Humor ist wichtig, wenn man Grippe hat.
221 kann also zwischen 20 und 35 sein …
222 wie hatte Fraukeline das noch genannt? Analoger Datenträger? Diese Computerfritzen haben schon reichlich komische Wörter. „Zettel“ ist einfacher gesagt.
223 bis auf Merles Nachnamen
224 Ist nicht jede Reise eine Bildungsreise? In diesem Fall hat die Suppe die Reise getätigt.
225 das mit meinen Rückfragen ist noch nicht besser geworden. Wenn meine Mitmenschen aber auch so seltsame Sätze machen! Da darf man sich nicht wundern, dass ich mir nicht auch noch komplexe Rückfragen überlege!
226 weil sie uns ja gebeten hat, Stillschweigen zu wahren, bleibt ihr Unwohlsein eine ganz normale Krankheit
227 das heißt, ich kenne sie von unten und von oben
228 Sollte er eines Tages seine Vorurteile gegenüber den Yugos überwunden haben, könnte er bei der EU als Völkerverständiger arbeiten
229 bis dahin war mir nicht klar, wie viel Größenunterschied zwischen uns ist
230 in der Reihenfolge
231 und er sich nach meinem Empfinden immer mehr in sein Schneckenhaus verkriecht
232 Davon abgesehen, dass ich neugierig bin, respektiere ich das. Schließlich sage ich ihm ja auch nicht alles, was mich bewegt.
233 sogar der gehorcht ihm
234 das ist die Mutter von Vicky, die ja gleich zu Beginn einen Kontrollbesuch abgehalten hatte und seitdem regelmäßig hereinschaut und wissen will, was wir so tun. Manchmal bleibt sie auch zum Essen.
235 dafür muss man nicht mal den Nachbargarten in ganzer Länge durchschreiten, hinaus auf den Trampelpfad und dann durch unsere Heckenpforte und den Garten zurück zum Haus gehen. Der Zaun zwischen den beiden Grundstücken ist ausgesprochen überstiegsfreundlich mit seinen knapp fünfzig Zentimetern Höhe, da kommt sogar mein kurzbeiniger Mitbewohner drüber.
236 Erfreulicherweise kann man das landesnachbarfeindliche Theater stoppen – man muss es nur schnell genug tun. Wenn sie nämlich erst angefangen haben, Vorurteile auszutauschen, kann die Stimmung ganz schnell kippen und dann vergessen sie, dass sie sich eigentlich mögen.
237 Wäre der Mitbewohner ein bisschen weniger Intellektueller und ein bisschen mehr Handwerker, wäre ihm das sicher aufgefallen.
238 Er benimmt sich wie ein unausgeschlafenes Kind!
239 Ungefähr so einen Terz wie jetzt. Ich hasse es, über Geld zu reden.
240 holländischer Käse schön und gut, aber wir Holländer sind ja nicht allein auf der Welt
241 nachdem er sich über den zweckentfremdeten Schrubberstiel aufgeregt hat, ich könnte doch nicht einfach Gegenstände wegnehmen und sie für andere Dinge verwenden und überhaupt! Meine Güte, es war doch bloß ein Stück Holz!
242 Tamar und Debora sind die beiden Mädchen, für die er übersetzt hat.
243 ich nehme an, dass sie da hin wollen, ich weiß nicht, ob es Kaffee und Büchertisch gibt
244 demnach baut der Predigttext auf eine Stelle im Neuen Testament auf
245 zum Beispiel bei Milan und Miloš!
246 ums genau zu sagen, bin ich ziemlich sehr sauer auf ihn!
247 slowenisch kann er ein bisschen aus dem Urlaub und italienisch ist dem Kroatischen ähnlich, sagt er.
248 Muss sie ja! Schließlich hat sie weder Verhörlampe noch Bruderschaftsschwur, die sie als Brechstange verwenden könnte, um den Tresor seines Schweigens zu knacken
249 da ich ihn bei Bedarf mit Brandblasensalbe und anderen Hausmitteln versorge, bin ich im Bilde, wo er sich die meisten Verbrennungen einfängt
250 außer ich bin zu langsam und er ist schon etwas mehr als etwas abgekühlt

384

„Ich hab da keine präzisen Vorstellungen. Hauptsache, es ist nicht pink oder so.“
„Klar.“ Bevor sie weiter spricht, hört sie erst zu, was am gegenseitigen Ende der Leitung gesagt wird. Dann: „Erdtöne, grau oder als maximalen Farberguss grün. … Moment.“ Und wieder an mich: „Willst du drauf pennen können?“
„Wäre praktisch. Es muss kein Schlafsofa sein, aber es müsste schon lang genug sein, dass ich für einen Mittagsschlaf drauf passe.“
Merle schätzt mich auf „eins neunzig“ und schließt: „Danke, du bist ein Schatz! Tschüss!“ Sie steckt das Handy weg und teilt mit: „Er hört sich um. In seiner Verwandtschaft und seinem Freundeskreis ist gerade das große Umziehen ausgebrochen.“
„Cool, danke. Und mit wem hast du nun geredet?“
„Fergus.“
„Ah, noch einer, den ich dringend treffen muss.“

Eigentlich war der Plan gewesen, einen fliegenden Wechsel zwischen Merle und Miloš zu machen, also dass sie geht, wenn er heimkommt, aber irgendwann gähnt sie immer mehr und verabschiedet sich. „Sag ihm liebe Grüße“, trägt sie mir auf.
„Mach ich.“ An der Tür schiebe ich noch nach: „War schön mit dir.“
„Ganz meinerseits. Bis morgen Nachmittag.“
„Ja. Schlaf gut.“

Ich schaffe Ordnung in der Küche, aber als es Mitternacht ist, gebe ich die Warterei auf.


hundertachtzehntes Kapitel

Ich bin gerade im Bett angekommen, als ich ihn an der Hintertür hantieren höre. Scheint so, dass die mal wieder Zicken macht. Das Schloss klemmt bei länger andauerndem feuchtem Wetter(200), und ich weiß noch nicht, wie ich das beheben kann. Ich springe aus dem Bett und rufe schon auf der Treppe: „Warte, ich mach auf!“
Er stolpert mir entgegen und fällt in die Küche.
Manche Leute nennen mich praktisch orientiert, vermutlich stehe ich deswegen jetzt nackt halb im Garten und die Terrassentür geht nicht mehr zu. Gut, dass ich nicht auch noch Licht angemacht hatte! Eilig ziehe ich seine Beine beiseite, um die Tür schließen zu können. „Bist du besoffen?“
„Nein, halbtot“, ächzt er und versucht auf die Füße zu kommen.
Jetzt sehe ich es auch. Sein Gesicht ist blutüberströmt, das Hemd ist nicht mehr zu retten, am Jackett ist ein Ärmel halb abgerissen! „Was ist passiert?“
„Bin überfallen worden. Zieh was an.“
Das tue ich in Rekordzeit und düse wieder runter. Miloš hat es inzwischen bis auf den Klodeckel geschafft und bei Beleuchtung sieht er noch schlimmer aus. „Soll ich dich ins Krankenhaus bringen?“
„Nein.“
„Sondern?“
Er holt Luft und verzieht vor Schmerzen das Gesicht. „Hilf mir beim Ausziehen und so und dann ein heißes Körnerkissen und Körperteile segnen und so.“
Du liebe Zeit. Mit dem ist heute nichts mehr zu gewinnen.
Als erstes lege ich alle in unserem Haushalt vorhandenen Körnerkissen in den Backofen. Im Bad ziehe ich ihm die Reste der schwarzen Jacke aus. Am Rücken hat er auch eine blutende Wunde davon getragen.
„Wie viele waren es?“
„Drei und ein Messer.“ Mit zitternden Händen fummelt er an den Hemdknöpfen herum und kriegt sie nicht auf. Moment, denke ich gerade, er ist doch der Feinmotoriker unter uns, als er mit einem serbischen Fluch die Knopfleiste packt und kräftig dran reißt. Kleine Knöpfe springen durchs Bad und wie zur Entschuldigung murmelt er: „Es war eh’ kaputt.“

383

Merle nickt. „Vor allem hoffe ich, dass er beim Kellnern die Finger vom Alkohol lässt. Es täte mir furchtbar leid, wenn er schwach würde. Je nach dem, welche Veranstaltung es ist, steht er den ganzen Abend an der Bar und mixt Cocktails und so. Also, bei den Cocktails wird Fergus ihm erst eine Einweisung geben wollen – das macht er immer so, sagt er, damit alle dieselben Mengenverständnisse haben – aber wenn ich mir vorstelle, ich müsste den ganzen Abend Wein ausgeben und dürfte selber keinen Tropfen anrühren … Schwierig.“
„Wie hast du das gemacht, als du noch im Restaurant warst?“
„Da bin ich ja die meiste Zeit nur zwischen der Küche und den Tischen hin und her gerannt. Irgendwann, wenn ich nicht mehr so wütend auf den Scheißkerl bin, gehen wir da mal essen. Armand versteht sein Handwerk.“
„Armand ist der Koch?“, frage ich nach und sie nickt, „Am besten essen wir da den ganzen Abend seine Gemüsesuppen und dazu frisch gebackene Reiswaffeln. Himmlisch, sag ich dir.“
„Reiswaffeln? Wie macht er die?“
„Ich glaube, er hat den Reis gemahlen und dann–“
„Merle“, unterbreche ich sie lachend, „Natürlich hat er ihn gemahlen, sonst wird kein Mehl draus. Welche Reissorte hat er genommen? Damit fängt das Geheimnis an.“
„Ach so. Wir gehen hin und dann fragst du ihn selbst.“
„So langsam muss ich mir eine Liste machen, welchen Koch ich wo besuchen will und nach welchem Rezept fragen. Dazu muss ich ja auch noch bei jedem einen Überredungsversuch bereit halten, falls er nicht sofort meiner Meinung ist und sein Wissen teilen will.“
„Überredungsversuch?“, lacht sie. „Okay, von mir erfährt Toni kein Sterbenswörtchen.“
Nebenbei schaue ich auf die Uhr. „Sag mal, wie lange dauert diese Firmenfeier eigentlich? Die sollte nachmittags anfangen, um drei oder so. Ist das normal?“
„Firmenfeiern können ziemlich lange dauern.“ Trotzdem holt sie das Mobiltelefon aus der Handtasche. Nach ein paar Sekunden weiß sie: „Nur die Mailbox. Aber er sieht ja, dass ich angerufen habe, er wird sich melden. Vielleicht sitzen sie noch in der Firma beisammen und essen was. Wenn du stundenlang mit Essen zu tun gehabt hast, aber selber keine Zeit hast, was zu essen, brauchst du hinterher was. In Ruhe.“
„Ist das üblich, dass alle zusammen essen, also auch die Aushilfen?“
„Bei Toni schon. Ihm ist es wichtig, dass sie ein gutes Team sind. Sie müssen sich aufeinander verlassen können. Und wer zusammen arbeitet, soll auch zusammen essen.“
„Deswegen bist du zu ihm gewechselt.“
„Auch. Vor allem aber, weil er mich wollte. Ungefähr ab seinem dritten Besuch im Restaurant hat er mich immer wieder gefragt, wann ich bei ihm anfange. Ich könnte ja viel mehr als nur Teller tragen. Na ja, wenn man so umworben wird und beim eigenen Chef keinen Rückhalt hat – da geht man halt.“
„Ich freu mich für dich, dass es dir jetzt besser geht auf der Arbeit.“
„Der Pisser hätte den Gast wenigstens zurechtweisen können. Aber er hat sich bloß für mich entschuldigt.“
„Verzeih ihm das. Er wusste nicht, was er an dir hat.“
„Na, mal sehen“, brummt sie.
Eine Stille entsteht und ich überlege, ob ich ihr ein erneutes Gebet zum Thema anbieten soll, als sie fragt: „Warum habt ihr kein Sofa? Wollt ihr keins?“
„Doch, langfristig schon. Im Moment ist nur kein Geld da.“
„Aha“, macht sie, nimmt erneut das Handy und fängt kurz darauf an zu sprechen: „Hallo, Experte für alles Technische! Störe ich? … Ach, du bist so charmant. … Ja, weshalb ich anrufe: du hast gesagt, dass deine Schwester mit ihrem Freund zusammenzieht, da wollte ich mal fragen, ob sie vielleicht ein Sofa zuviel hat? Ein guter Freund aus meiner Band … genau, der Schlagzeuger, der mit dem Bassisten zusammen gezogen ist. … Ach so … warte mal.“ An mich geht die Frage: „Willst du ein helles oder lieber ein dunkles?“
„Wie viele Sofas hat er denn da rumstehen?“
„Nur sein eigenes und das gibt er nicht her. Sag mal deine Wünsche.“

382

Ich hebe die Schultern. „Lehrer werden war einfacher.“
„Und das willst du bis an dein Arbeitslebensende weiter machen?“
„Hab noch nicht drüber nachgedacht, was anderes zu tun. Und es reicht ja auch, dass du vor kurzem die Stelle gewechselt hast und bei Miloš so was vielleicht im nächsten halben Jahr ansteht, wenn dein Chef mehr für ihn zu tun hat als er zwischen der Busfahrerei erledigen kann. Ich bin eher so ein beständiger Typ.“(199)
Sie grinst mich an, „Das bist du.“
Ich will gerade fragen, warum sie das so bedeutungsschwer gesagt hat, da lässt sie einen rasanten Themenwechsel folgen: „Was gibt es zu essen? Es riecht schon sehr gut!“
„Torta Verde mit Rosenkohl als Hauptperson.“
„Torta Verde? Ist das nicht eher so eine leichte Sommerangelegenheit mit Mangold?“
„Ja, aber ich habe sie der Jahreszeit angepasst. Setz dich schon mal an den Tisch.“
„Hast du einen Stammplatz?“
„Der Tisch ist eine Woche alt, so weit sind wir noch nicht gekommen. Lass dich einfach irgendwo nieder. Praktisch wäre es in der Nähe des Tresens. Da kannst du mal Besteck raus nehmen, wenn du willst.“
„Ich will! Du weißt ja, ich krame so gerne in den Schränken von anderen Leuten rum.“

Man stelle sich vor: Sie schafft es, unserem dekorationslosen Männerhaushalt Tischdeko zu entlocken. Ein Trinkglas lernt um auf Vase und meine Essstäbchen haben aus Küchenpapier eine Art Blüte bekommen und dürfen „Blume“ spielen. Ein weiteres Stück Küchenpapier hat sie an den Rändern ausgefranst und als Tischdeckchen unter den improvisierten Blumenstrauß gelegt. Typisch Frau, sag ich mal.
Sie schweigt beim Essen (nicht typisch Frau, sag ich mal …) und erweist meiner Torta Verde somit alle Ehre. Dazu trinkt sie einen leichten Rosé und ich genieße mein liebes Lieblingsbier. Es wird in einem kleinen Kloster in der Normandie gebraut und man muss schon wissen, in welchen Getränkemarkt man dafür geht. Aber mit ihren Kontakten dürfte ihr die Beschaffung ein Leichtes sein. Ihr Job ist großartig, bisher hat er nur Vorteile gebracht.

„Ich war übrigens in der Zwischenzeit nicht untätig und habe die Bandprobe auf morgen Nachmittag verlegt. Ich hoffe, du hast dann noch nichts vor.“
„Warum ist dir das eigentlich so wichtig? Hatten wir uns nicht drauf geeinigt, dass wir uns erst im neuen Jahr wieder treffen?“
„Miloš hat gesagt, dass er neue Lieder hat. Ich weiß nicht, was mit dir ist, aber ich will sie nicht erst nächstes Jahr hören, auch wenn das nur noch ein paar Tage dauert. Hinterher überlegt er es sich anders und findet die Lieder auf einmal nicht mehr gut genug – das will ich nicht riskieren. Bei dem weiß man nie.“
„Na ja … insgesamt ist er ziemlich logisch sortiert.“
„Logisch sortiert? Das ist ja mal ein hübsches Kompliment. Was ich dich fragen wollte: Wie läuft’s mit seiner Abstinenz in Sachen Frauen, Drogen, Alkohol?“
„Warum fragst du ihn das nicht selber? Wie läuft’s mit deiner Abstinenz in Sachen piesacken, respektlose Witze, lächerlich machen?“
Sie verdreht die Augen. „Hast ja recht. Ich glaube, ich mache Fortschritte. Einer zum Beispiel war, dass ich ihm den Kellnerjob vermittelt habe. Ich hoffe, er versteht das auch so.“
„Ich denke schon. Du solltest ihm allerdings nicht noch mal an den Arsch fassen. Das war ganz nah an der Grenze.“
„Aber warum hast du dann gelacht? Ich fand es lustig und er war ja gar nicht böse.“
„Es war lustig wegen der Situationskomik, aber mach bitte keine Gewohnheit draus.“

381

Beim Kaffeetrinken erzählt Theodorus von seinen Reisen durchs ganze Land. Er ist viel unterwegs, predigt in Gottesdiensten und hält Vorträge auf christlichen Konferenzen. Seine Themen sind immer dieselben: Gottes Vaterherz, Berufung, Prophetie. Die Kurzfassung haben wir beim Spaziergang gekriegt.
Bei meinem Freund ist wieder Normalität eingekehrt, es gibt Nachfragen. „Und was macht deine Familie, wenn du nie zuhause bist?“
„Meine Familie kommt gut ohne mich aus. Ich habe zwei Töchter, die eigene Familien haben. Sie sitzen vermutlich gerade alle zusammen unter einer Palme und feiern Weihnachten. Eigentlich sollte der Opa mitkommen, aber ich hatte Amalia versprochen, mit euch zu feiern.“
„Hast du denn keine Frau?“
„Doch, sie ist schon im Himmel. Ich weiß aber noch keinen Termin für das Wiedersehen.“
„Sagt Gott dir das vorher?“
Theodorus lacht. „Du sagst deinem Freund doch auch, was du nächste Woche vorhast?“
„Stimmt“, macht er verlegen, „du bist ja Prophet.“


hundertsiebzehntes Kapitel

Freitagmittags ist Miloš noch keine fünf Minuten aus dem Haus, um nach Alkmaar zum Kellnern zu fahren, als das Telefon klingelt und Merle mit ihm reden will.
„Wieso rufst du ihn nicht auf dem Handy an?“, ist alles, was mir dazu einfällt. „Es bimmelt zwar den ganzen Tag, aber er trägt es auch überall mit sich rum, sogar zum Klo. Da wirst du bestimmt einen Moment finden, in dem er mal rangeht.“
„Aber er geht halt nicht dran“, rechtfertigt sie sich.
„Was willst du denn von ihm? Vielleicht kann ich dir auch helfen.“
„Wir wollten uns ja heute Abend im Proberaum treffen, aber Lisanne hat mir eben abgesagt, also müssen wir das verschieben.“
„Davon wusste ich gar nichts. Und überhaupt hat Miloš auch keine Zeit, der ist – wieso weißt du das nicht?“, fällt mir ein, „du hast ihm doch den Termin gegeben?“
„Muss ich denn alles wissen?“, schnaubt sie lachend. „Firma ist Firma und ich habe frei!“
„Also, wenn Lisanne und Miloš keine Zeit für dich haben, kannst du ja zu mir kommen, bevor du sonst den ganzen Abend alleine bist.“
„Auf die Einladung hab ich gewartet. Wie viel Uhr?“
„Och, so gegen sieben?“, biete ich fröhlich an. Der Abend ist gerettet.
„Gut. Soll ich was zu trinken mitbringen?“
„Das kannst du gerne tun.“

Ich bereite schon jetzt das Essen vor, dann kann es nachher einfach in den Ofen und ich habe Zeit, mich um meinen Gast zu kümmern. In der Küche und auf der Terrasse harren diverse Wintergemüse ihrer Weiterverarbeitung, aus denen mache ich uns eine Torta Verde mit Blätterteig und Ziegenkäse.
Weil ich mich aus unerfindlichen Gründen mit den Teigzutaten verrechnet habe (es wird viel zu viel), verändere ich auch die Gemüsemenge und verteile alles statt in der Springform auf einem Backblech. Den Mitbewohner wird es freuen!
Um Punkt neunzehn Uhr steht Merle an der Tür. Sie hat einen Korb dabei, aus dessen Tiefen mir das grüne Etikett meiner Lieblingsbiersorte entgegenglänzt.
„Hurraha“, singe ich, „du merkst dir alles!“
„Sei so lieb und nimm mir das Dings ab, es ist schwer.“
Ich tue ihr den Gefallen, derweil hängt sie Jacke und Schal auf. Mir voraus geht sie in den Wohnraum, aber sie kommt nicht weit. „Ist das irre!“, sagt sie atemlos. Ich gehe an ihr vorbei und stelle den Korb auf den Tresen. „Miloš hat mir erzählt, dass du Möbel gebaut hast … aber ich hatte da eher an … normale Sachen gedacht. Wie absolut geil! Warum bist du bloß Lehrer geworden und nicht Möbeldesigner?“

380

„Sprichst du serbisch?“
„Nein.“
„Kroatisch?“
„Nein.“
„Bosnisch?“
„Nein. Warum fragst du?“
„Wenn du die Sprachen nicht sprichst, woher weißt du dann die Bedeutung meines Namens? Oder hast du das recherchiert, um vorbereitet zu sein?“
Theodorus ist stehen geblieben und schaut Miloš an. „Ich habe nicht recherchiert.“
„Woher weißt du es dann?“
„Gott hat es mir eben gesagt.“
„Hat der dir noch mehr Geheimnisse über mich gesagt?“
„Was meinst du mit Geheimnissen?“
„Solche Sachen, die keinen was angehen.“
„Ist die Bedeutung deines Vornamens ein Geheimnis?“ Er wartet keine Antwort ab, „Miloš. Dein Gott ist nicht der Gott, der Geheimnisse ausplaudert. Aber es ist kein Geheimnis, dass er dich über alles in der Welt liebt. Über alles in der Welt“, wiederholt er, „Und das ist die Bedeutung deines Namens.“
Er verzieht keine Miene. „Warum habe ich dich bisher nie in der Kirche gesehen?“
Ich blicke nicht mehr durch. Noch nie habe ich erlebt, dass er so oft das Thema wechselt, so viel ausweicht, nicht nachfragt und stattdessen von etwas ganz anderem spricht. Was hat er denn gegen die Bedeutung seines Namens? Ich habe „lieblich, süß“ noch nie so schön übersetzt gehört! Vor ein paar Tagen hat er doch noch den Heilig-Geist-Kometeneinschlag erlebt, wie kann sein Herz so hart sein?
Das Herz. Na klar, das ist der Grund! Theodorus hat es gerade noch gesagt. „Ich sehe dein Herz.“ Wenn ich das Benehmen mal eins zu eins auf mich übersetze, dann zieht er gerade Spundwände hoch, um sich gegen eine plötzliche Flut zu schützen. Wer rechnet schon damit, dass der ungeliebte Vorname eine Liebeserklärung ist?
Und sein Herz ist so hart, weil es voller Narben ist. Die hat nicht nur der Krieg hinterlassen, sondern auch sein Vater, die einsame Zeit hier, Milans Tod, die schwierigen Verhältnisse in Bosnien und so weiter. Viel zu oft vergesse ich, dass er erst vier Monate mit Jesus geht und Jesus mit seiner Liebeskur noch ganz am Anfang steht.

Die beiden gehen vorneweg und ich, in Erleuchtungen vertieft, ein paar Schritte hinterher. Sie unterhalten sich, aber ich verstehe nicht, worum es geht. Allerdings reicht mir auch das, was ich eben gehört habe. Treffen mit Theodorus sind immer herausfordernd. Er sagt einem so krasse Dinge, und die so liebevoll, dass sie – zumindest bei mir – mitten ins Herz fallen.
Ich wusste natürlich, dass das passieren würde, und ich habe mich auch danach gesehnt. Zeit mit Theodorus zu verbringen ist wie Zeit mit Jesus zu verbringen, nur irgendwie … Man kann nicht sagen, dass es direkter ist, denn näher als Jesus kann mir niemand sein, aber es bringt eine Saite in mir zum Klingen, die nicht klingt, wenn ich in Jesus’ Gegenwart bin. Theodorus ist ein sehr gesegneter Mann, ein Geschenk Gottes.(198)

Mommi hat schon Kaffee gekocht und steht nun in der Küche, wo sie Plätzchen auf einen großen mit Gold verzierten Teller schichtet.
Ich stelle das Kaffeeservice auf den Tisch.
„Geht’s dir gut?“, fragt sie, als ich in die Küche komme, um die Kanne zu holen.
„Ja. Er ist toll. Bei fast allem, was er sagt, will ich mitschreiben, weil es klingt, als wenn es von Gott ist.“
Sie lächelt. „So geht es mir auch immer.“

379

hundertsechzehntes Kapitel

Das Essen ist anspruchsvoll genug, dass die Unterhaltung während der Mahlzeit ruht. Wir haben eine leichte Kürbiscremesuppe, überbackenen Karpfen und dazu Kartoffelgratin und gedünsteten Mangold mit Senfsahnesoße und zum Nachtisch gibt es Birnenkompott mit oder ohne Schokostreusel.
Nach dem Dessert schaffe ich es noch, den Tisch abzuräumen, aber danach geht nichts mehr. Mommi braucht auch ziemlich sichtbar eine halbe Stunde auf dem Sofa. Ich werde mich dann auf diverse Sessel verteilen.
Die beiden anderen dagegen rüsten sich für einen Spaziergang, das heißt, Theodorus zieht sich an, als würde es zur Polarexpedition gehen und Miloš angelt nach seinem Jackett.
„Brauchst du keine Mütze, Schal, und so weiter?“, wundert der alte Mann sich.
„Nein, mir ist nicht kalt.“
„Der friert nie“, mische ich mich ein. „Aber das heißt nicht, dass man eine Frostbeule ist, sondern dass er nicht normal ist.“
„Willst du mitkommen?“, lädt Miloš mich ein.
Mommi hält das für eine gute Idee. „Genau, Junge. Geh mit raus.“
Mein Mitbewohner hat schon meinen tragbaren Klimaschutz geholt und treibt mich trotz der Verdauungslethargie hinaus in die Kälte.
Es dunkelt, obwohl es gerade mal halb vier ist. Aber das wird besser, der kürzeste Tag des Jahres ist schon vorbei. Bald ist wieder Frühling. Hach, der Frühling …
Wir spazieren so eine Weile vor uns hin (besser gesagt, nebeneinander her) und irgendwann kommt mir ein Gedanke in den Kopf, den ich, wie ich nun mal so bin, gleich ausspreche, auch wenn ich gar nicht weiß, woher er kommt und wozu er taugt. „Eigentlich habt ihr ja ganz schön viel gemeinsam.“
„Die brennende Liebe für Jesus“, tippt Theodorus.
„Noch mehr. Ihr seid zum Beispiel beide erst als Erwachsene zu Jesus gekommen, da kann ich ja nicht mitreden. Ihr seid beide früher LKW gefahren und habt nicht den Beruf gehabt, den ihr haben wolltet. Ihr habt beide einen Freund verloren und ihr wart beide im Krieg.“ Sofort bereue ich, was ich losgetreten habe. Warum muss ich am friedlichsten aller Tage vom Krieg anfangen? Ist das Thema nicht schon haarig genug, wenn es ihn einfach so überkommt?
Leider greift der Alte das auf. „Du bist im Krieg gewesen? Als Soldat?“
„Nein, als Zivilist. Im Bosnienkrieg.“
„Hm“, brummt er. „Ich sehe es.“
„Was siehst du?“, fragt Miloš irritiert nach.
„Ich sehe dein Herz. Eine andere Frage: Glaubst du an Zufälle?“
„Nein.“
„Gut. Dann glaube ich, dass unser Treffen hier kein Zufall ist, und dass unser liebender Gott uns sogar Jeremy Willem als Stichwortgeber geschickt hat“, er nimmt mich in den Arm und mein schlechtes Gewissen löst sich auf wie eine Rauchwolke im Wind.
„Warum nennst du ihn immer Jeremy Willem? Das sagt sonst niemand“, lenkt Miloš ab.
„Ich weiß, dass ihn niemand sonst so nennt, aber ich sage dir, er hat den Namen Willem nicht bekommen, damit er nur im Pass steht. Willem bedeutet ‚der Entschlossene’ und ‚der Willensstarke’. Viele Könige der europäischen Geschichte hießen übrigens auch so, rat mal, warum. Zusammen mit Jeremy, ‚Gott erhöht’ ist das seine Berufung. Gott wird ihn erhöhen, weil er seinen starken Willen dem Herrn untergeordnet hat.“
Noch mehr große Worte über mich. Mir zittern die Knie.
Theodorus lächelt mich an und im Dämmer sieht es fast aus, als leuchteten seine blauen Augen. Das heißt, vielleicht tun sie das ja tatsächlich. Bei Theodorus weiß man nie.
Jetzt schaut er Miloš an. „Die Bedeutung deines Namens–“
„Kenne ich schon“, unterbricht er unwillig.
„Glaubst du. Ich sage dir: Sie ist nicht lächerlich oder peinlich. Das ist nur eine der unendlich vielen Lügen, die die Welt dir über Gott eingetrichtert hat. Noch bevor du gezeugt warst, hat er schon an dich gedacht. Er hat dich geformt, als deine Mutter noch nichts von dir wusste. Er hat dir den besten Namen gegeben, der ihm für dich eingefallen ist. Du bist sein Schatz, das Liebste, was er hat. Das ist die Bedeutung deines Namens, Miloš.“

378

Zehn Minuten später ist auch der Gast des Abends da.
Ich habe seinen Mantel aufgehängt und will mich wieder im Sessel niederlassen, da sagt Theodorus zu mir: „Jeremy Willem. Du wirst meinem alten Freund Willem immer ähnlicher.“
„Oh, ähm … danke … aber ich sehe doch ganz anders aus?“(197)
Schmunzelnd präzisiert er: „Ich meine nicht dein Äußeres.“
Über meinen Popp gibt es nichts schlechtes zu sagen, er war aufrichtig und untadelig, ein weiser und weitsichtiger Mensch. Und ich werde genauso? Wow. Das ist ein großes Wort.
„Danke“, wiederhole ich. „Weißt du noch mehr unbekannte Dinge über mich?“
Er lacht. „Mengenweise. Aber das hat noch Zeit.“
„Und weißt du auch was über den Miloš?“, frage ich weiter.
Theodorus mustert ihn freundlich. Schließlich sagt er: „Auch das hat noch Zeit.“
„Was hat noch Zeit? Und was weißt du über mich?“
„Aha“, sagt Mommi, „Jeremy hat es dir nicht gesagt. Theodorus ist ein Prophet.“
„Ein Prophet?!“
„Ja“, lacht sie. „Wenn er also mitten im Gespräch „ich höre es“ sagt, dann heißt das nicht, dass er unaufmerksam ist.“
„Eher im Gegenteil. Nur halt in zwei verschiedene Richtungen“, schließe ich mich an.
Er kann es nicht fassen. „Ein Prophet wie Elia im Alten Testament?“
„Ja, ungefähr. Elia hatte eine andere Arbeit zu verrichten als ich. Magst du den Elia?“
Miloš nickt. „Er ist mein Lieblingsprophet. Er ist so stark und doch ganz menschlich. Vor allem mag ich den Kampf gegen die 450 Baalspriester. Erstes Königebuch Kapitel achtzehn. Aber auch seine anderen Wunder finde ich toll. Das Alte Testament habe ich erst einmal durchgelesen, aber seine Geschichten schon viel öfter.“
„Gehst du schon lange mit Jesus?“
„Ich denke, du bist Prophet? Wieso fragst du mich dann solche Sachen?“, wundert er sich.
„Natürlich kann ich Gott danach fragen, aber sollen wir denn den ganzen Tag schweigend herumsitzen?“, amüsiert Theodorus sich. „Na komm, sag es mir.“
„Bald sind es fünf Monate. Seit dem vierten August.“
„Und hast du schon was mit Jesus erlebt?“
„Ganz viel. Zum Beispiel letztes Wochenende, da hat er–“
„Einen Moment bitte, ihr beiden“, unterbricht Mommi. „Lasst uns erst mit dem Essen anfangen. Ich kenne euch. Der eine kann nicht aufhören von Jesus zu schwärmen und der andere will immer noch eine Geschichte und noch eine Begebenheit hören.“
„Und wer ist dann wer?“, frage ich. „Das trifft doch auf beide zu?“
„Ja, eben“, lacht sie, „deswegen werden sie auch nicht so schnell fertig damit. Miloš, hol bitte Teller, Gläser und Besteck, und du hilfst mir, das Essen aufzutragen. Die Suppentassen habe ich schon in der Küche.“

377

Miloš grinst übers ganze Gesicht. „Ich.“
Ertappt. Trotzdem will ich das noch ein bisschen auf Abstand halten.(195) „Zurück zum Thema Theodorus“, dränge ich, und mir ist egal, ob er nachher gleich noch einmal damit anfängt. „Wie wärs, wenn du ihn kennen lernst? Und ich versteh gar nicht, was dein Problem ist. Theodorus gehört auch nicht zur Familie, hat ganz sicher keine Geschenke und … was war noch dein dritter Punkt?“
„Ts“, macht er theatralisch. „Im Februar wird das alles genau andersrum ablaufen. Dann wird es meine Verwandtschaft sein und du wirst niemanden kennen und dann werde ich dich auch so abspeisen. Dann wirst du sehen, wie toll das ist.“
„Ja, das wird ganz großartig“, stimme ich ein, „da kommt ja noch dazu, dass du sofort alle Leute ansprichst und keine Angst vor neuen Bekanntschaften hast … und bei mir sieht das ein bisschen anders aus. Aber weißt du, das ist mir egal. Wenn du dich in Peckovar nicht um mich kümmerst, werde ich meine Deutschkenntnisse auspacken, das ist ja anscheinend die Sprache, die ich dir voraus habe, und mich mit deiner werten Kusine Slobodanka vergnügen.“ Abrupt stehe ich auf. „So, ich gehe jetzt duschen. Du kannst dir in der Zeit überlegen, was du anziehen willst. Es muss ja nicht sein, dass wir wegen dir zu spät kommen.“
„Ja, Schatz“, grinst Mister Pünktlich mich an.

Miloš wird nicht viel Zeit vorm Kleiderschrank verbracht haben, denn er trägt – was sonst – den Anzug und ein weißes Hemd und dazu die blaugraue Krawatte. Er hat noch eine, die schwarz mit dünnen roten Schrägstreifen ist, aber seit Mommi – wer sonst – ihm gesagt hat, dass ihm die bläuliche besser steht, weil sie seine Augenfarbe betont, trägt er nur noch die.
Bis vor kurzem habe ich solche Klamotten nur als unbequem wahrgenommen. Pieter hat zu zwei Vorstellungsgesprächen in Deutschland einen Anzug getragen (ich habe ihn begleitet, deswegen weiß ich das) und die erste Tat, wenn er das Gespräch hinter sich gehabt hat, war immer die gleiche: Jacke ausziehen, Schlips lösen, Kragen aufknöpfen. Er fühlte sich in den Sachen eingesperrt.
Aber vielleicht gilt das nicht für alle Jacketts?
Neulich ist mir eine Sache passiert, die mich überrascht, ja fast schockiert hat.
Das kam so: Ich saß im Pausenraum und da ist mir ein Modekatalog in die Finger geraten. Ich habe eine Weile damit zugebracht, die Herrenmode zu betrachten und dabei Unterschiede zwischen den heute aktuellen Schnitten festgestellt. Ohne Miloš’ Hinweis, dass sein Anzug altmodisch ist, wäre mir das nie aufgefallen. Und auf einmal kam mir der Gedanke: Was könnte so ein Anzug mit mir machen? Und vor allem mit meiner Wirkung auf andere? Ich müsste es mal ausprobieren!
Mein Kumpel sieht nämlich total schnieke aus in seinem alten abgewetzten Jackett. Und außerdem trage ich ja gerne Hemden – das senkt die Hemmschwelle.(196) Ein weißes Hemd fühlt sich kaum anders an als ein grün kariertes.

Mommi begrüßt uns an der Tür. „Hallo meine lieben Jungens! Frohe Weihnachten!“
Ich schließe sie in die Arme. „Danke für die Einladung, meine liebe Mommi!“
„Bedank dich beim Abschied“, lacht sie, „noch hast du ja nichts gekriegt.“
Das ist ein alter Spaß zwischen uns, angeblich soll ich damit angefangen haben, aber wie immer bei diesen Geschichten kann ich mich an nichts erinnern.
„Ist Theodorus schon da?“
„Nein, noch nicht. Ihr seid früh dran.“
„Na, rate, an wem das liegt.“
„Ich rate, dass es am Miloš liegt“, sagt sie und drückt ihn an sich. „Beeinflusst euch auch im nächsten Jahr so positiv, ja? Ich schau euch so gerne dabei zu.“

376

In den bisherigen Jahren habe ich in der Vorweihnachtszeit allerhand Leckeres gebacken, unter anderem mein im Freundes- und Kollegenkreis sehr geschätztes Kerstbrood. Das wird bereits Mitte November gebacken, enthält erlesene Zutaten (Trockenfrüchte, Marzipan, Mandeln, Nüsse und einiges mehr) und ruht dann sechs Wochen. Je ruhiger es ruht, desto besser wird es.
Mitte November hatte ich bekanntermaßen nicht viel Ruhe, und erst recht keine zum Kerstbroodbacken. Auch danach bin ich zu keiner meiner lieben adventlichen Tätigkeiten gekommen. Entweder hatte ich keine Zeit – oder keine Küche.
Aber das macht nichts, denn Mommi hat mehr dieser Spezialitäten unserer Familie gebacken als in anderen Jahren, die sind für uns, und zum Weihnachtsessen am 25. Dezember lädt sie uns auch ein.
Ebenfalls kommen wird ein alter Freund von ihr und Popp, der seine Familie am zwanzigsten in den Weihnachtsurlaub verabschiedet hat. Mehr Leute sind nicht zu erwarten, denn Cokko hat vorgestern morgen einen günstigen Flug nach Vancouver ersteigert, Abflug mittags,(194) und feiert mit Douglas und der kanadischen Verwandtschaft, und in Alkmaar bleibt man unter sich.

Miloš gibt sich Mühe, nicht schon wieder so einen Terz vom Zaun zu brechen, weil er ja schon wieder zu einer Familienfeier eingeladen ist und mit niemandem verwandt ist und keine Geschenke hat und so weiter, aber so ganz wohl fühlt er sich offenbar auch nicht, sonst würde er sich nicht erkundigen: „Wer ist dieser Freund von Amalia, der da sein wird?“
„Theodorus. Er war ein Schulfreund von Popp. Ich bin früher oft bei ihm gewesen, also, als ich noch klein war.“
„Ein Schulfreund von deinem Opa?“, fragt er erstaunt nach. „Wie alt ist er?“
„Da in einer Zeit geboren ist, in der anständige Männernamen mit -us endeten, schließlich heißt er ja Theodorus–“
„Sag mir doch einfach, wie alt er ist.“
„Popp ist 1927 geboren. Da kannst du dir ungefähr ausrechnen, wie alt er ist. Genau weiß ich es nämlich auch nicht.“
„Es muss ein großer Altersunterschied zwischen deinem Opa und Amalia gewesen sein.“
„Vierzehn Jahre. Das ist für die damalige Zeit nicht so irre viel gewesen.“
„Er wäre jetzt einundachtzig – sie ist siebenundsechzig?!“
„Inzwischen achtundsechzig. Warum?“, wundere ich mich über sein Erstaunen.
„Ich kenne sie nun schon eine Weile. Ich hätte beim besten Willen nicht sagen können, wie alt sie ist. So weise, als sei sie uralt, und zugleich so lebendig, als sei sie jung … also keine junge Frau, aber so, als könnte sie meine Mutter sein!“
Das finde ich lustig. „Sie könnte tatsächlich deine Mutter sein, dann hätte sie dich mit sechsunddreißig gekriegt. Nicht gerade eine junge Mutter, aber warum nicht?“
Er schnauft aus. „Wie kann sie deine Oma sein?“
Das bin ich schon oft gefragt worden. „Sie hat den Gerrit gekriegt, als sie zweiundzwanzig war. Und der hat mich gekriegt, als er siebzehn war.“
„Ehrlich, Jeremy, sag nicht immer gekriegt, das klingt schrecklich.“
Jaja. „Allerdings waren wir ja bei einem anderen Thema. Theodorus.“
„Genau“, unterbricht er. „Was hast du da über die anständigen Männernamen gesagt, die mit -us endeten? Hieß dein Popp Wilhelmus?“
„Nein, aber das lag nur daran, dass sein Vater nicht Wilhelmus, sondern Willem geheißen hat. Du weißt schon, der Willem, nach dem ich auch benannt bin. Bei so einer Tradition kann man nicht einfach ein -us anhängen.“
„Und was war los mit deinem Popp, als er die Tradition einfach aufgehört hat und seinen Sohn Gerrit genannt hat?“
„Wer sagt, dass Gerrit nur Gerrit heißt?“
„Ach so. Gerrit Willem. Na, dann weißt du ja, wie du eines Tages deinen Sohn nennen wirst. Mindestens als Zweitnamen.“
„Wer sagt, dass ich Kinder haben will?“

375

„Voll krass“, schnauft er, „ich habe an einem Abend genauso viel verdient wie in einer durchschnittlichen Woche an der MBB.“
„Wieso, was kriegst du denn da?“
„Fürs Busfahren pro Stunde zehn und beim Hausmeister neun Euro.“
„Zehn?!“ Ich schnappe nach Luft. „Die zahlen dir lächerliche zehn Euro?!“ Busfahren ist doch eine verantwortungsvolle Tätigkeit, die entsprechend entlohnt werden sollte!
„Was glaubst du, was ich bei den anderen Jobs gekriegt habe, als ich noch welche hatte?“
„Sags mir“, bitte ich matt.
„Teilweise fünf Euro oder sechs. Und bei den Yugos war es auch nicht mehr. Daran gemessen sind zehn eine Menge. Vor allem kommen sie zuverlässig, weil ich ja jeden Tag fahre und keine Konkurrenz habe.“
„Aber … der Mindestlohn!“, hoffe ich auf ein rettendes Ufer. „Wir haben doch einen Mindestlohn! Acht Euro fünfundsiebzig oder so.“
Er hebt die Schultern. „Das heißt nicht, dass alles bei dir ankommt. Bei den Jobs früher gab es dann noch Leihgebühr für die Arbeitskleidung, tägliche Fahrt zum Produktionsort, Vermittlungsgebühr und so weiter, je nach dem, bei wem man unter Vertrag war.“
„Aber warum zahlt die MBB auch so schlecht?“
„Sie zahlt nicht schlecht. Außerdem sieht es ja so aus, dass Gott mir einen Job verschafft hat, bei dem ich deutlich über Mindestlohn verdiene. Gott und Merle. Wusstest du, dass die beiden so eng zusammenarbeiten?“


hundertfünfzehntes Kapitel

Gott und Merle sind sehr produktiv. Bereits am Montagmorgen erhält Miloš den nächsten Auftrag zum Kellnern, dieses Mal für Freitagnachmittag bei einer Firmenfeier. Und dieses Mal ruft sie nicht an und gibt einen heißen Insidertipp weiter, sondern telefoniert im Auftrag ihres Chefs.
„Sie hat den Unterschied extra betont“, erzählt er mir in der letzten Mittagspause vor den Weihnachtsferien. „Sie sagt, Herr Blaakmans ist auch in der Galerie gewesen und hat geguckt, wie ich arbeite, ob ich freundlich bin und wie ich mich bewege. Er hat zwar nichts gesagt, aber wenn er unzufrieden gewesen wäre, hätte er ihr keinen neuen Termin für mich genannt.“
„Darf ich mal fragen, worüber du dich jetzt mehr freust? Darüber, dass es mehr Geld gibt für deine Arbeit oder darüber, dass du neue Aufgaben kriegst?“
Kurz denkt er nach. „Es ist beides. Wenn es nämlich das ist, was Gott an größeren Aufgaben für mich bereit hat, weil ich im Kleinen treu war – dann kann es nur gut werden. Auch wenn es anstrengend ist, immer freundlich zu bleiben und den ganzen Abend zu lächeln.“
„Lächeln per Anordnung?“
„Ja. Und versuch das mal, wenn du gerade das Buffet hübsch gerichtet hast und dann fällt so eine Meute von Wölfen drüber her und binnen Sekunden bleibt nur ein Trümmerfeld übrig. Das ist nicht zum Lächeln.“
Welches Buch liest er wohl gerade, dass er solche Worte verwendet? Meute von Wölfen, binnen, Trümmerfeld!
„Fergus hatte mich zum Glück gewarnt. Und dass die Gäste manchmal ziemlich unhöflich sind. Merle hat auch erzählt, dass sie an der vorigen Stelle von einem Gast angegriffen worden ist und sich gewehrt hat und dafür gekündigt wurde. Eigentlich ist das verrückt. Man bringt den Leuten zu Essen und zu Trinken und will, dass es ihnen gut geht – und die benehmen sich so daneben. Aber er sagt, dass diese unkultivierten Gäste deutlich in der Minderzahl sind. Und da fällt es mir wieder ein, du wolltest Herrn Blaakmans sowieso mal wegen den kleinen roten Pastetchen besuchen. Komm vorbei, bring jedem eine Kleinigkeit mit und schon lassen sie dich eintreten in ihren erlauchten Kreis. Etwas, das ich nie schaffen werde.“
„Warum sollte ich schneller Kontakt zu ihnen kriegen als du?“
„Du hättest ihre Gesichter sehen sollen, als ich gesagt habe, dass ich nicht kochen kann! Als käme ich von einem fremden Stern!“
„Na, zum Glück haben sie sich dann ja doch mit dir abgegeben.“
„Ja, da kann ich froh sein.“

374

Für die Konstruktion des Tresens habe ich mich an einer Bauanleitung aus einem Buch orientiert und eigene Ideen eingebracht. Die Bauanleitung sah zum Beispiel vor, dass die enthaltenen Fächer nur von einer Seite zu nutzen sind. Ich will aber nicht für jede Gabel, die am Tisch fehlt, aufstehen und um den Tresen herum gehen, deswegen werde ich an der Vorderseite, die in den Wohnraum hineinschaut, Türen anbringen, die zu den Fächern an der Rückseite gehören.
Zugleich ist das eine gute Gelegenheit, mal im Materiallager aufzuräumen.(193) Einige der gesammelten Schätze habe ich schon sehr lange. Weiße und grüne Plexiglasstücke in diversen (zumeist kleinen) Größen, Knäufe aus bemaltem Porzellan, vier kleine Türen mit Einlegearbeiten, die von einem alten Sekretär stammen und so weiter.
Mein Zuschauer belässt es nicht beim Zuschauen, sondern assistiert mit großem Eifer. Deswegen, und weil er ja immer so auf Präzision achtet, lasse ich ihn drei mal drei Zentimeter große Plexiglasquadrate schneiden, die farblich abwechselnd in einen langen Rahmen eingefügt werden. Dahinter will ich einen weißen LED-Lichtschlauch legen; der entwickelt nicht viel Wärme und man kann ihn auch mal den ganzen Tag am Stromnetz lassen. Das wird der Hingucker zwischen den Fächern und der oberen Ablagefläche. Bei der handelt es sich um eine zweieinhalb Meter lange und gut sechzig Zentimeter breite Lärchenbohle, die Pieter mir vor Jahren geschenkt hat. Zuerst wollte ich eine Multiplexplatte verwenden, aber das Massivholz ist viel schöner. Beim nächsten Besuch wird er sich wundern …
Während Miloš noch Quadrate sägt, verschraube ich schon Seitenwände und Front am Gerüst des Tresens, die Bohle wird mit unsichtbaren Dübeln befestigt. Schließlich setze ich die restlichen gesägten Vierecke in den Holzrahmen, befestige ihn, darunter die Türen und an ihnen die Knäufe – und fertig ist der Tresen. So, wie mein Mitbewohner nun guckt, ist er baff.
„Gefällt er dir?“
Er nickt nur.
Welch ein Triumph! Er ist sprachlos!!
„Es war so einfach!“
„Na ja, man muss schon wissen, was man tut. Vor allem bei der Vorbereitung. Was ab ist, ist ab, man kann es nicht wieder dransägen. Aber insgesamt ist Möbelbau keine große Kunst.“ Ich stöpsele den Lichtschlauch in die nächste Steckdose, damit er sieht, wofür er sich zwanzig Minuten lang abgemüht hat.
„Wow“, macht er begeistert und guckt sich unser gemeinsames Werk von allen Seiten an. „Soll ich die Sachen hinein räumen?“
„Warte noch. Ich will erst die Platte ölen. Die meisten anderen Teile sind ja schon lackiert.“
„Ich habe noch nie ein Möbelstück gebaut. Und wenn jetzt einer fragt, kann ich sagen: ich habe den Tresen gemeinsam mit dir gebaut.“
„Wenn ich vorher gewusst hätte, dass es für dich so wichtig ist, mir beim Bauen zu helfen, hätte ich mit dem Tisch gewartet, bis du wieder klar denken kannst.“
„Oh, der Tisch!“, greift er das Stichwort auf, „Der sieht extrem gut aus. Er könnte aus einem teuren Möbelgeschäft kommen. Der hält bestimmt was aus.“ Er kichert.
Ich lache mit. „Zum Beispiel wenn einer drauf haut? Das hält er aus, da kannst du sicher sein.“ Als ich ihn das bisher letzte Mal bei einem seiner Yugo-Vorurteile erwischt habe, hat er wütend auf den Tisch gehauen und alles darauf hat einen Hüpfer gemacht. Ich habe mir das Lachen natürlich verkneifen wollen, aber das hat nicht lange geklappt. „Wie war es eigentlich am Freitag bei der Vernissage?“
Miloš rollt mit den Augen und winkt ab. „Die Veranstaltung sollte von zwanzig bis vierundzwanzig Uhr gehen, aber die Leute haben sich auf das Buffet gestürzt! Als hätten sie wochenlang nichts zu beißen gehabt! Wir konnten gar nicht so schnell nachfüllen und eine halbe Stunde nach Eröffnung war schon nichts mehr da. Um zehn waren dann auch die Getränke alle. Da hat Fergus mich nach Hause geschickt, weil ich ja vorher schon viel geholfen hatte.“
„Und was zahlt Merles Chef, wie heißt er noch – Herr Blaakmans?“

373

Nach dem Telefonat fragt er: „Warum hat das nicht geklappt? Da steht doch, „ich kann alles“. Ich dachte, ich könnte jetzt auch so kochen wie du.“ Er fischt ein Eierviertel aus der Suppe, streut Salz darauf und isst es auf.
„Greift es deinen Glauben an?“
Er winkt ab und nimmt noch eins, „Nein. Aber es scheint ja so zu sein, dass ich etwas falsch verstanden habe. Was war der Fehler?“
„Vermutlich hat es mit den Gaben zu tun. Jeder Mensch hat seine spezielle Mischung an Gaben bekommen, einige sind einfach so da, einige muss man trainieren und zusammen mit dem Talent, das Gott einem gegeben hat, bringt man es weit auf dem Gebiet.“
„Ja. Definitiv. So wie du kochst, hat Gott da auf jeden Fall seine Finger mit im Spiel.“
„Danke. Du kannst andere Dinge besser. Musik machen. Lieder schreiben.“
„Du kannst auch Musik machen und Lieder schreiben.“
„Es ist ja nicht gesagt, dass deine Gaben nicht mit meinen übereinstimmen dürfen. Fremdsprachen dagegen sind dein Fachgebiet. Und Autofahren.“
„Das klingt logisch. Was hast du übrigens Freitagabend mit mir gemacht?“
„Ich hab die Hand auf dein Herz gelegt und Gott gebeten, dass er dich heil macht. Für alles weitere bin ich nicht verantwortlich.“
Die verzückte Abwesenheit breitet sich schon wieder auf seinem Gesicht aus.
„Wo bist du denn gewesen?“, unterbreche ich, denn er ist nicht der einzige, der so etwas zum ersten Mal erlebt.
„Keine Ahnung.“
„Kannst du dich an was erinnern?“
„Ja. Mitten in der Nacht bin ich wach geworden, weil ich zum Klo musste. Ich lag hier unten auf den Stuhlkissen und eine Decke war auf mir.“
„Na ja, dafür bin ich auch verantwortlich“, weite ich mein Teilgeständnis aus.
„Das dachte ich mir schon. Irgendwie bin ich zum Klo gekommen, aber frag mich nicht, was mir dann eingefallen ist. Am Morgen lag ich jedenfalls im Bett. Nackt. Und überall waren Herzchen auf mir, also gemalte. Mit rotem Filzstift.“
„Überall?“, unterbreche ich ungläubig.
„Überall“, bestätigt er und zeigt mir ein Stück Bauch. „Gestern haben sie mich nicht gestört, aber seit heute früh wasche ich daran herum.“
„Die hat Gott gemalt“, behaupte ich überzeugend und wundere mich darüber, dass sie mir bisher nicht aufgefallen sind.(192) „Jedes Stück von dir, in das er besonders verknallt ist, hat er so verziert.“
„Was erklären könnte, wo dieser Stift herkam. Ich besitze nämlich keine Filzstifte, und der, den ich vorm Bett gefunden habe, der ist leer.“
Wie süß. Eine ganze Filzstiftmine hat er auf Miloš vermalt. „Mit dem Erinnern meinte ich Erinnerungen an den Ort, wo du warst. Wie sah es da aus? Hast du Menschen getroffen oder Engel gesehen oder warst du bei Gott?“
Er denkt angestrengt nach, gibt aber auf: „Ich kann es nicht beschreiben. Auch wenn Fremdsprachen angeblich mein Fachgebiet sind.“
Fremdsprachen! Das Thema hatten wir doch schon mal! „Ist es die falsche Sprache? Werden wir neue Lieder kriegen?“
Jetzt lacht er. „Bestimmt!“
„Willst du direkt in den Proberaum fahren?“
„Nein, das hat Zeit bis Dienstag. Darf ich zugucken, wie du den Tresen baust?“
„Na klar.“
Vorher kommt aber unser Mittagessen.

372

Am nächsten Morgen hat sich das Strahlen zu einem intensiven Glimmen abgeschwächt. Diese „Berührung“ scheint ungefähr die Wirkung eines Kometeneinschlags gehabt zu haben. Gut, dass gerade Wochenende ist; ich bin nicht sicher, ob er so zugedröhnt den Schulbus hätte fahren können, auch wenn ein Drogentest keine Ergebnisse gebracht hätte.
Nebenbei gesagt bin ich schwer beeindruckt. Ich wusste zwar, dass Gott zu jedem anders spricht, aber dass die Unterschiede derart immens sind! Jede göttliche Kommunikation ist individuell auf den Menschen abgestimmt. Jeder kriegt, was er braucht. Und Miloš brauchte offenbar einen Dreißig-Stunden-Vollrausch. Ist ja auch klar, er hat schon eine Menge an diversen Drogen und Alkohol ausprobiert; hätte der Heilige Geist ihn auf die gleiche sanfte Weise berührt, wie er es bei mir tut, hätte es längst nicht denselben Effekt gehabt.

„Jeremy“, sagt er auf der Heimfahrt vom Gottesdienst, „in der Bibel steht: Ich vermag alles durch den, der mich stark gemacht hat. Philipper 4 Vers 13. Stimmst du zu?“
„Auf jeden Fall.“
„Gut. Dann werde ich heute kochen.“
Ich verbeiße mir den Protest und lerne lieber mal was über meine Glaubenseinstellungen. Hätte er gesagt, er werde ab sofort nicht mehr fluchen, hätte ich ebenfalls Glauben gehabt. Hierbei jedoch überkommen mich Zweifel. Miloš selbst hat neulich festgestellt, Kochen sei mehr als irgendwelche Dinge in den Topf zu tun und dann hat man eine leckere Mahlzeit. Und jetzt will er mit der Kraft Gottes kochen?
Den heutigen Gottesdienst fand ich übrigens sehr seltsam. Also, es war alles wie immer – aber niemand hat Miloš auf die unübersehbare Veränderung angesprochen. Sehe das nur ich, weil ich weiß, was passiert ist? Oder sind die Leute blind für solche Veränderungen?
In den letzten anderthalb Jahren habe ich zunehmend darüber nachgedacht, mich Gläubigen anzuschließen, die Gott mehr als liebenden Vater verstehen und nicht nur als Schöpfer des Universums, der für Nichtgläubige und andere Sünder ewige Verdammnis bereit hält (kurz zusammen gefasst). Manche Dinge, die meine Kirchgeschwister glauben, treiben mir den Angstschweiß auf die Stirn. Früher gab es Abraham, Mose, David und einige andere Männer Gottes, aber seit wir Menschen seinen Sohn ans Kreuz geschlagen haben, ist er nicht mehr an einer persönlichen Beziehung interessiert. Wunder hat es zu Zeiten Jesu gegeben und noch etwa hundert Jahre danach, dann ist die Kraft versiegt.
Sie halten das für wahr, weil sie es nicht anders wissen! Aber Gott ist doch ganz anders! Früher wollte ich die Leute überzeugen, dass Gott es gut mit uns meint, aber irgendwann habe ich das aufgegeben. Es bringt nichts, außer dass ich Streit kriege. Aber es ist mir schlicht unmöglich, nicht an heutzutage stattfindende Wunder zu glauben! Schon mit Miloš habe ich so erstaunliche Dinge erlebt, dass es eine glatte Verleugnung des Evangeliums wäre, hier von Zufall zu reden.
Leider lähmt mich mal wieder meine mangelnde Entschlussfreude. Und was würde Mommi dazu sagen, wenn ich die Kirche verlasse?

Das Kraft-Gottes-Menü ist eine Art dicke Suppe oder dünner Eintopf, in dem zu ungefähr gleichen Teilen Erbsen und Möhren und zerstampfte Kartoffeln vorhanden sind, dazu Schnittlauchröllchen(191), diverse Kräuter aus der Acht-Kräuter-Tiefkühlmischung und gekochte Eierviertel. Der Geschmack ist nicht allzu definierbar. Weil er die Mühle mit Fleur de Sel auf den Tisch gebracht hat, helfe ich ein bisschen nach.
„Schmeckt es dir?“, fragt er ohne Begeisterung.
Ich versuche mich in Diplomatie: „Dafür, dass du Anfänger bist, ist es–“
„Mir schmeckt es nicht“, unterbricht er. „Soll ich Pizza bestellen?“
Das ist wie eine Erlösung. „Au ja. Pizza wäre toll.“
Miloš ist schon in der Küche und nimmt den Prospekt von der Magnetwand.

371

„Nein, glaube ich nicht“, gibt er brummend zu. „Hilf mir bitte.“
„Lässt du sie los?“
Er nickt. „Hast du sie das eben auch alles gefragt?“
„Miloš, darum geht es hier nicht. Helena wollte mein Schweigen, sie hat mein Schweigen. Verstanden? Du hast mich nie danach gefragt, aber du hast auch mein Schweigen. Was du mir sagst, gebe ich nicht an sie weiter.“
Er räuspert sich. „Danke.“
„Bitte. Du lässt also los, dass sie dir weh getan hat?“
Er nickt wieder.
„Und du lässt auch los, dass du sie noch liebst?“
Er nickt noch einmal.
„Dann sag das jetzt selber.“
„Das kann ich nicht. Das ist ja, als würde ich die Zeit mit ihr und die ganzen Gefühle wegwerfen.“
„Du wirfst es nicht weg, sondern du gibst es Gott. Er wird vorsichtig damit umgehen, denn er liebt dich mehr als alles auf der Welt.“
„Aber trotzdem … das fühlt sich ganz … beschissen an.“
„Das denk ich mir. Sprich es mit mir zusammen, ich helfe dir.“
Mühsam kommen ihm die Worte über die Lippen, „Ich lasse Helena los und dass sie mir wehgetan hat und dass ich sie noch liebe. Ich lasse es alles los.“
„In Jesus' Namen, amen!“, schicke ich noch hinterher und lege meine Hand auf sein Herz. Ich wechsele in die anderen Sprachen und spüre Gottes Gegenwart. Als nächstes passieren krasse Dinge. Erst fängt er an zu zittern, wie ein Erdbeben. Dann kippt er um.
Panisch rattert mein Hirn. Erstversorgung! Stabile Seitenlage! Schocklagerung! Herz-Lungen-Massage! Jesus! Hilfe!
Beruhige dich, antwortet er. Es ist nicht schlimm.
Ähm … was ist denn mit ihm los?, will ich verwirrt wissen. Hab ich was falsch gemacht?
Du, mein lieber Freund, hast überhaupt nichts gemacht, und schon gar nichts Falsches.
Das hilft nicht, meine Verwirrung zu entwirren. Und was hast du gemacht?
Ich habe ihn berührt.
Berührt?! Und dann kippt er gleich um?
Er lächelt, so wie man lächelt, wenn man einem begriffsstutzigen Kind etwas erklärt. Ja, so etwas kann vorkommen.
Aber warum bin ich noch nie umgekippt, wenn du mich berührt hast?
Weil ich für ihn mehr Schwung genommen habe als für dich.
Du hast ihn umgehauen?
Wusstest du nicht, dass ich umwerfend bin?


hundertvierzehntes Kapitel

Das Strahlen am Frühstückstisch ist fast nicht auszuhalten, ich verstehe jetzt, warum das Volk Israel in 2.Mose 34,29-35 ihrem Anführer den Tipp mit der Decke gegeben hat. Kommunikation ist nicht möglich, er summt nur vor sich hin, wenn ich etwas zu ihm sage. Wenn ich die Redewendung „besoffen in Christus“ nicht vorher schon einmal gehört hätte, würde ich sie sofort erfinden. Ob er wohl wieder normal wird? Oder ist das sein neuer Normalzustand?
Ich wende mich den Projekten meiner Wohnzimmerschreinerei zu.

Im Laufe des Tages schaffe ich es nach mehrmaligem Besuch im Baumarkt, auch den Tisch auf seine vier Beine zu stellen. So ist es ja immer. Vorher denkt man, man hätte alles da und sei für jede Eventualität ausgerüstet, aber mittendrin im Projekt merkt man erst, wie viele Eventualitäten auftreten können.
Der besondere Clou an dem Tisch ist, dass man mit wenigen Handgriffen und einer überschaubaren Menge Werkzeug Beine und Platte voneinander lösen kann. Eine Weltneuheit, was meine Möbel betrifft! In Zukunft müssen wir nicht mehr die Türrahmen aufstemmen, wenn er mal woanders stehen soll.
Als vorletzten Schritt sauge ich gründlich im Wohnraum, und als letzten trage ich eine erste Schicht Öl auf. Ich hoffe, mein nach wie vor nicht zurechnungsfähiger Mitbewohner patscht nicht als nächstes darauf herum.

370

„Ich weiß“, lächelt sie. „Es wäre nur so einfach gewesen, wenn du mir die Lösung gleich mitgeliefert hättest.“
Soll ich es doch sagen? Nach kurzem inneren Kampf entscheide ich mich dagegen. „Ich glaube, für dich gibt es auch zwei Möglichkeiten. Erstens, du denkst alleine vor dich hin, oder zweitens, du suchst dir professionelle Hilfe. Du nimmst deine Vorgeschichte und deine Erfahrungen in jede neue Beziehung mit, und nach jedem Scheitern ist der Frust größer. Das muss ja nicht so sein. Darüber nachdenken solltest du aber auf jeden Fall.“
„Ja. Danke. Bringst du mich noch zum Zug?“
„Gerne.“

Nachdem ich sie am Bahnhof verabschiedet habe, gehe ich nachdenklich nach Hause.
Ist es vielleicht so, dass du Helena gerade durch mich zu dir holst?, frage ich Jesus. Nach der langen Zeit? Sechs Jahre ist sie mit mir zusammen und es tut sich nichts, und jetzt, mehr als ein Jahr danach, kommt sie und will Gebet und Segen und Rat von mir? Wie passt denn das zusammen?
Manche Dinge brauchen ein bisschen länger, sagt er. Das weißt du doch selber.

Kaum bin ich zurück, baut Miloš sich vor mir auf. Er ist zwar ein gutes Stück kleiner als ich, aber das gleicht er mit Entschlossenheit aus. In der Zwischenzeit hat er das weiße Hemd ausgezogen und steht im T-Shirt vor mir, die muskulösen Arme vor der Brust verschränkt und immer noch den finsteren Blick in den Augen. „Was wollte sie hier?“, will er wissen.
Wie er so wirkt, steht er mächtig unter Druck.
Weil ich nichts sage, schießt er die nächste Frage ab: „Was habt ihr über mich geredet?“
„Es ging nur am Rande um dich. Sie war hier, weil sie meinen Rat wollte.“ Ich versuche an ihm vorbei ins Haus zu gelangen, aber er verstellt mir den Weg.
„Welchen Rat wozu?“
„Das geht dich nichts an.“
„Wenn es um mich ging, geht es mich doch was an.“
„Miloš: Es geht dich nichts an“, wiederhole ich. „Lass mich endlich rein.“
Immerhin das gelingt jetzt. Drinnen frage ich sanft: „Was ist los mit dir und Helena? Möchtest du mir vielleicht auch noch was erzählen?“
Er hasst es, wenn ich diesen Tonfall drauf habe. Entsprechend aggressiv kommt seine Gegenfrage: „Möchtest du mir auch noch einen Rat geben?“
Aber da müssen wir jetzt durch, die Gelegenheit ist gut – es ist die erste seit Wochen. „Ja, das würde ich sehr gerne tun. Die Frage ist nur, ob du den Rat annimmst. Wenn du ihn nicht annehmen willst, wäre es verschwendete Luft, dir was zu sagen.“
„Willst du mir sagen, dass es ein Fehler war, mit ihr Schluss zu machen, und dass sie wegen mir ein gebrochenes Herz hat?“
„Glaubst du, dass ich dir so was sagen will?“
Er schnauft aus. „Nein. Entschuldige. Sag mir deinen Rat.“
„Wenn du willst, dass Gott mit dem Jahr, das du als Single verbringst, was sinnvolles anstellen kann, musst du sie loslassen. Ich weiß, dass du sie immer noch liebst. Und ich weiß, dass du dir selber sehr weh getan hast, als du mit ihr Schluss gemacht hast. Solange du das aber nicht loslässt, kann Gott das nicht heil machen.“
„Und wie soll das gehen? Ich habe schon ganz oft gesagt, dass ich sie nicht mehr lieben will. Aber es klappt nicht. Ich muss sie nur sehen … oder riechen … oder eine Person treffen, die das selbe Parfüm benutzt, die sich auch so wie sie durch die Haare streicht, oder nur eine, die so die Nase rümpft wie sie, und alles ist wieder da.“
„Und warum sagst du die ganze Zeit nichts dazu? Du hast dir doch im Coec auch Hilfe gesucht, als du dich am liebsten besoffen hättest! Warum suchst du dir hierbei keinen, der für dich betet? Glaubst du, du musst alles alleine schaffen?“(190)

369

„An dem Wochenende, das er bei mir verbringen wollte, da sind wir erst tanzen gewesen und es war alles gut, dann haben wir morgens beim Frühstücken irgendwie die Kurve nicht gekriegt, haben uns schlimm in die Haare gekriegt … mittendrin hab ich gedacht, was machst du, wenn ihm jetzt die Hand ausrutscht? Er ist so wahnsinnig schnell und stark … und er war furchtbar wütend. Dann haben wir uns versöhnt … im Bett … da dachte ich dann, wir sind wieder in der Spur, weil wir auch körperlich und vom Rhythmus her gut zusammen gepasst haben. Danach ging der Krach wieder los und dann hat er seine Sachen gepackt und ist gegangen. Einfach so, mittendrin.“
„Wodurch ging der Krach wieder los?“
Sie stützt den Kopf auf. „Ich bin auf die großartige Idee gekommen, dass es helfen könnte, wenn ich ihn vor die Wahl stelle. Entweder er liebt mich, dann darf ich auch mal einen Gedanken gegen dich äußern, oder eben nicht. Mir war nicht klar, dass es ihm so ernst ist mit dir. Das wusstest du aber, oder?“
„Ich habe mir schon so was gedacht. Der Gedanke, der mir eben gekommen ist, ist der, dass du in die falsche Richtung guckst. Du suchst die Gemeinsamkeiten beim Gegenüber. Zugleich weißt du auch, dass es da keine gibt. Trotzdem suchst du weiter. Aber es hat nichts mit Miloš und den Männern vor ihm zu tun. Du suchst an der falschen Stelle.“
„Was meinst du damit?“
Weil ich nicht antworte, denkt sie ein paar Minuten nach. „Wenn also eine Beziehung immer aus zwei Seiten besteht und es nichts mit dem Gegenüber zu tun hat, dann wird es wohl an mir liegen. Ist es das, was du sagen willst?“
„Zumindest solltest du es in Betracht ziehen.“
Hinterm Haus wird ein Fahrrad abgestellt, die Terrassentür geht auf und wieder zu und eine Sekunde später steht Miloš bei uns am Tisch. „Hoi“, macht er frostig, was nichts mit den Temperaturen des Dezemberabends zu tun hat.
Ich erwidere den Gruß und Helena entschlüpft ein dünnes „Hallo.“
„Was macht ihr hier?“
„Wonach sieht es aus?“, gebe ich die Frage zurück. Ich weiß nicht, wie viel vom Grund ihres Besuchs sie preisgeben will.
„Abendessen“, tippt er.
„Ja“, geht sie darauf ein, „ich war zufällig in der Stadt.“
„Zufällig.“
„Es gibt zwei Möglichkeiten“, versuche ich die schon jetzt vorhandene Spannung einzudämmen. Mit beiden in einem Haus wird es kein Gespräch geben, aber ich kann ihn ja kaum wegschicken. „Erstens, Helena und ich führen unser Gespräch woanders weiter, zweitens–“
„Erstens“, unterbricht er.
„Gut. Helena, nimm deine Sachen mit, wir werden nicht hierher zurückkehren.“

Vorm Haus klagt sie: „Es tut so weh, Jeremy. Ich liebe ihn immer noch und will ihn zurück haben, und er ist so kalt. Ich glaube, er hasst mich.“
Ich gehe nicht darauf ein, weil ich es besser weiß.
Wir setzen uns in die nächste Kneipe und bestellen Kaffee, damit keiner glaubt, wir suchten nur eine Wärmestube. Nach kurzer Zeit sind wir wieder bei unserem Gespräch.
„Du meinst also, die Gründe fürs Beziehungschaos liegen bei mir.“
„Generell will ich das nicht sagen, dafür haben wir in den letzten anderthalb Jahren zu wenig Zeit miteinander verbracht. Aber wenn du über die Beziehungen guckst und wissen willst, warum sie gescheitert sind, gehe ich davon aus, dass es nicht ausschließlich an den Männern gelegen haben kann, denn du sagst ja auch, dass sie sehr unterschiedlich sind.“
„Und was ist in mir, das die Beziehungen zum Scheitern bringt?“
Vielleicht deine Art, die Grenzen anderer Menschen zu missachten?, fällt mir ein. Aber das wäre meine Meinung, und die gehört hier nicht hin. „Wie soll ich das wissen, Helena? Du sagst, es betrifft den Zeitraum nach uns. Da war ich nicht dabei.“

16. Dezember 2015

368

„Stimmt“, gibt sie zu. „Ich hab ein paar ziemlich schwierige Fragen … die mein Leben so bewegen … und du bist der einzige, vor dem ich das alles ausbreiten kann. Und du hörst dir die Probleme nicht bloß an und sagst deine Meinung, sondern … es ist mehr. Und du behältst die Sachen anschließend für dich. Das ist sehr … wertvoll.“
„Danke“, sage ich. „Eins muss ich aber vorher wissen. Willst du Rat fürs Leben oder willst du mich überreden, es noch einmal gemeinsam zu versuchen?“
Sie schaut mich nachdenklich an und sagt schließlich: „Jeremy, lass dir was sagen von einer alten Freundin. Die Frau, die dich mal kriegt, kann sich glücklich schätzen. Du bist in den letzten anderthalb Jahren erwachsen geworden, aber nicht auf die langweilige Art, wie das bei vielen interessanten Jungs irgendwann passiert, sondern unfassbar gut. Ich weiß, dass unsere Zeit vorbei ist, um deine Frage zu beantworten, und es ist jammerschade drum.“
„Nochmals danke. Wie kann ich dir helfen?“
Sie holt tief Luft. „Es hat mit unserem Gespräch auf Dersummeroog zu tun. Du hast mich da gesegnet und von einem Fluch freigesprochen, von dem ich dachte, dass ich ihn hätte. Hinterher ist mir klar geworden, dass das wirklich nicht deine Art gewesen wäre, und dass du deswegen wahrscheinlich so erstaunt darüber gewesen bist, dass ich davon geredet habe. Nach der Strandfete habe ich gedacht, jetzt wird mein Leben wieder geradeaus laufen. Aber es funktioniert nicht. Ich habe keine Ahnung, woran das liegt. Im Job ist zwar alles okay, aber im Privaten geht gar nichts – also mit Männern. Ich hatte geglaubt, nach dem Gespräch auf der Insel könnte ich wieder eine normale Beziehung haben. Gerne auch langfristig. Mit Miloš ist so ziemlich alles schief gelaufen, was schief laufen kann. Hat er dir was davon erzählt?“
„Kein Wort.“
Kein Wort?!“, wiederholt sie fassungslos. „Er hat gesagt, dass er mit dir über alles redet!“
Fast bin ich es, der fassungslos „über alles?“ wiederholt, aber im letzten Moment halte ich das zurück.
„Ich wollte nicht, dass ihn das so tief … ich glaub, er ist total sauer auf mich. Das tut mir leid, ich hab ihn immer noch lieb. Weißt du, nachdem du den Fluch weggenommen hast, war ich sicher, dass meine nächste Beziehung wieder klappen würde. Aber das Gegenteil ist der Fall gewesen. Hast du eine Ahnung, woran das liegen könnte?“
„Ist das okay, wenn ich erst bete? Ich möchte dir keinen Rat geben, der nur aus mir kommt. Meine Weisheit reicht nur so weit wie mein Gehirn funktioniert. Gott kennt dich viel besser.“
„Mach nur“, lädt sie ein.
Ich stelle das Gespräch unter Gottes Segen und Führung und bitte ihn, uns beiden das nötige Verständnis für seine Worte zu geben. Außerdem bitte ich ihn darum, dass er seine Meinung sagt, damit ich nicht meine weitergebe.
Nach einem kurzen Schweigen sagt sie: „Es geht natürlich nicht nur um die Beziehung mit Miloš und was dabei falsch gelaufen ist. Da ich ja begriffen habe, dass es keinen Fluch gab, muss es mit den anderen Männern nach dir und vor ihm eine Gemeinsamkeit gegeben haben. Ich habe schon eine Weile darüber nachgedacht, aber mir fällt partout nichts ein, was das sein könnte. Die sind ja alle unterschiedlich, und die Umstände, wie ich sie treffe, sind es auch … und überhaupt. Ich verstehe das nicht.“
„Diese Gemeinsamkeit, die du da ansprichst – wo suchst du die?“, frage ich, was mir in den Sinn kommt.
Helena denkt kurz nach. „Na ja … sie sind alle unterschiedlich. Ich bin ja nicht so drauf, dass meine Kerle immer gleich aussehen müssten, alle blond oder so.“
„Wenns dir nichts ausmacht, zähl mal auf, was in den einzelnen Beziehungen seit uns schief gelaufen ist.“
Sie winkt ab. „Alles mögliche. Entweder wir hatten grundsätzlich verschiedene Ansichten zu den wichtigen Dingen im Leben oder wir haben keine gemeinsamen Hobbys oder nur total verschiedenen Humor oder … Mit Miloš hab ich dauernd über dich gestritten. Es hing mir irgendwann furchtbar zum Hals raus, dass er dich immer verteidigt hat. Egal worum es ging, niemand durfte was gegen dich sagen. Wir haben eigentlich die ganze Zeit gestritten. Es tut weh, wenn man sich liebt und doch keinen Frieden finden kann.“
Genau so dürfte das bei ihm aussehen, denke ich.(189)

367

„Zwei Meter hoch und anderthalb Meter breit? Wofür brauchst du denn so ein großes Bücherregal? Etwa für die Kochbücher? Ist das nicht ein bisschen überdimensioniert?“
„Da sollen ja nicht nur meine Kochbücher rein, sondern auch Miloš’ Bücher. Noch sind es nicht viele, aber mir schwant, dass es sehr bald mehr werden.“
„Er liest?“
„Leidenschaftlich. Wieso weißt du das nicht, ihr wart zusammen!“
Sie rechtfertigt sich sofort. „Wir waren acht Tage zusammen und in der Zeit ging es nicht um Bücher.“
Au weia. Wenn sie jetzt, fast vier Monate nach der Beziehung, noch so empfindlich auf eine flapsige Bemerkung reagiert – wie mag es bei meinem mittlerweile leicht beziehungsgeschädigten Freund aussehen?
„Der Tresen soll hier stehen“, befasse ich mich weiter mit der Besichtigung, „auf die Innenseite kommen Fächer fürs Besteck und Gläser und was man so hat, vielleicht stellen wir auch Getränke hinein.“
„Bau das Teil groß genug, dass du einen Kühlschrank rein kriegst für deine obligatorischen Bierflaschen“, rät sie. „Bier und Tresen, das gehört doch zusammen.“
Sag ich’s ihr? Ach nein, heute nicht. „Und der Tisch schließt sich dann hier an. So ungefähr soll er mal aussehen.“ Ich habe wieder eine Skizze zur Hand.
„Oh, der wird toll. Dann kannst du endlich viele Leute zum Essen einladen und musst nicht immer erst einen Tisch ausleihen.“
„Richtig. Wenn wir eine Einweihungsparty machen, bist du herzlich eingeladen.“
„Lieb von dir, aber dein Mitbewohner schmeißt mich raus, wenn ich aufkreuze.“
„Warum, wenn ich fragen darf?“
„Auch das ist eine sehr lange Geschichte, die ich dir an einem anderen Tag erzählen kann“, kontert sie grinsend. „Zeig mir den Rest vom Haus.“
„Okay.“ Ich lasse sie voraus in den Flur und bis ins Bad gehen, dann steigen wir treppauf. Die rechte Tür mache ich auf und knipse Licht an. „Mein Zimmer“, präsentiere ich.
„Wie immer etwas unordentlich, aber so bin ich es von dir gewöhnt.“ Helena geht zum Fenster und schaut heraus. „Kannst du von hier aus die Kaap Hoorn sehen?“
„Nein, da ist der Knick in der Gracht. Aber wir haben noch nie so nah nebeneinander gewohnt, die Kaap Hoorn und ich.“
„Willst du hier oben auch noch was bauen?“
„Nein. Die Fächer sind von mir, das reicht“, zur Demonstration öffne ich eins.
„Du hast die gebaut? Sogar tief genug für eine Kleiderstange! Jeremy, du bist ein Genie!“
„Danke.“
„Was war denn da vorher?“
„Nichts. Die Vormieter haben dort zwar Sachen gelagert, aber das war alles offen. Als ich das erste Mal hier oben stand, als die Zimmer leer waren, ist mir die Idee gekommen.“
„Ja, es wäre sonst ziemlich viel nicht nutzbare Fläche gewesen und für richtige Schränke ist ja kein Platz außer als Raumteiler mittendrin.“
An solchen übereinstimmenden Kleinigkeiten kann man ahnen, warum wir sechs Jahre lang ein gutes Team waren! Zurück auf dem Treppenabsatz will sie auch in das andere Zimmer schauen. „Finger weg“, sage ich. „Da wohnt der Miloš, deswegen bleibt die Tür zu!“
„Ist er eigentlich auch so unordentlich wie du?“
„Im Gegenteil. Äußerst akkurat. Der Kerl ist ein Uhrwerk.“
„Krass, dass ihr so unterschiedlich seid. Ich dachte, ihr wärt euch ähnlich.“
„Sind wir auch. Aber nur zur Hälfte. Der Rest sind Unterschiede.“
Als wir wieder unten angekommen sind, sind die Nudeln heiß und wir lassen uns zum Essen nieder. Das wird jetzt aber auch wirklich Zeit, denn es ist schon – huch, zehn Uhr! Heute wird nichts mehr gebaut.
„Warum schmeißt Miloš dich raus, wenn du zur Einweihungsparty kommst? Und in dem Zusammenhang fällt mir ein: Wenn du davon ausgehst, dass er dich rausschmeißt, warum bist du dann heute hierher gekommen?“
„Falls du dich erinnerst, habe ich mich beim Telefonieren erkundigt, ob er zuhause ist.“
„Dunkel, aber ich erinnere mich. Und noch eine Frage: weshalb bist du hier? Es ging ja nicht drum, mit mir Nudeln zu essen oder das Haus anzugucken, vor allem, da du gar nicht wusstest, dass wir umgezogen sind.“

366

Ich habe mich gerade so richtig vertieft, als das Telefon klingelt.
Bin ich eigentlich zuhause? Muss ich dran gehen? Aber vielleicht ist es Mommi.
„Ja?“, sage ich ins Telefon hinein und werde mit „Hoi Jeremy“ begrüßt.
Die Stimme erkenne ich direkt: „Helena!“
„Ich wollte mal fragen … ist Miloš zuhause?“
„Nein, warum?“
„Kann ich vorbeikommen?“
„Wo bist du denn?“
„In Zuyderkerk.“
„Was machst du am Freitagabend in Zuyderkerk?“
„Frag mich doch alle diese Fragen, wenn ich bei dir in der Küche sitze“, seufzt sie, aber ich höre, dass sie schmunzelt. „Kann ich also vorbeikommen?“
„Ja, komm her. Willst du vielleicht etwas zu Essen mitbringen?“, nutze ich die Gelegenheit, denn ich habe Hunger. Mittags habe ich zuletzt ein paar Butterbrote gehabt.
„Ich könnte bei deinem liebsten Oostindia-Restaurant vorbei fahren und Gebratene Nudeln und so Zeug holen.“
„Das Restaurant hat zugemacht“, klage ich theatralisch, „ein paar Wochen nachdem wir nicht mehr zusammen waren. Ich fürchte, wir waren die einzigen Kunden und danach ist da alles den Bach runter gegangen.“
„Das ist ja eine todtraurige Geschichte“, kichert sie. „Hast du einen anderen Wunsch?“
„Die Geschichte ist noch viel todtrauriger. Ich habe noch kein neues Lieblingsrestaurant gefunden.“
„Ich bewundere dich so, dass du dieses schreckliche Schicksal mit Contenance trägst. Ich schau mal, was ich für uns finde. Bis gleich.“

Nach etwa einer halben Stunde klingelt wieder das Telefon. „Ja?“, sage ich hinein.
„Ich stehe hier unten und schelle mir fast den Finger kaputt, wieso machst du nicht auf?“
„Ähm“, fällt mir auf, „du weißt nicht, dass wir vor zwei Wochen umgezogen sind!“
„Das hättest du mir sagen können, bevor ich bei wildfremden Leuten Sturm klingele! Ein Glück, dass sie heute nicht zuhause sind!“
„Sorry. Die neue Adresse ist Visserdijk 24.“
„Visserdijk? Da ist doch auch die Kaap Hoorn!“
„Stimmt genau. Den Weg kennst du noch, oder?“
„Ganz sicher.“

Es dauert eine weitere Viertelstunde, bis sie verfroren im Hausflur angekommen ist.
„Ein Häuschen nur für euch alleine?“, lästert sie vor jeglicher Begrüßung, „Also, wenn ich nicht wüsste, dass ihr beide hetero bis in die Knochen seid, würde ich denken, dass sich hier zwei schwule Jungs ein Nest bauen. Was sagen denn die Nachbarn dazu?“
„Wenn ich die Nachbarn treffe, reden wir nicht über meine sexuellen Vorlieben, sondern sagen uns artig Guten Tag. Wie gesagt wohnen wir erst zwei Wochen hier, da war noch keine Zeit für offizielle Antrittsbesuche. Willst du erst essen oder erst alles sehen?“, lenke ich ab.
„Vermutlich ist es inzwischen kalt geworden. Wärm es auf, derweil zeigst du mir alles und dann essen wir.“
Ich halte mich fast genau an ihren Plan, denn zuerst hänge ich ihre Jacke auf.
In der Küche fülle ich die zwei Portionen Spaghetti (eine kleine mit Bolognesesoße, eine große con pesto rosso) in Schüsseln und stelle sie zum Erhitzen in den Ofen.
„Ja, also, die Küche“, beginne ich meine Führung vor Ort. „Dieses Haus hat wunderbare Dinge erlebt, denn bis vor einem Monat war hier noch eine Vorratskammer, die Platz geraubt hat und in der Wand war eine Durchreiche. Miloš hat den Vermieter glücklicherweise überzeugen können, dass eine Durchreiche nicht hilft, wenn man eine große Küche haben will. Allerdings wollte er uns auch als Mieter haben, deswegen ist er auf uns zugekommen.“
„Hattet ihr ein Inserat geschaltet?“
„Nein, das ist eine sehr lange Geschichte, die ich dir an einem anderen Tag erzählen kann. So. Hier geht es weiter ins Wohn- und Esszimmer.“
„Da braucht man viel Fantasie. Im Moment sieht es eher aus wie eine Schreinerwerkstatt.“
„Das liegt daran, dass ich rechtzeitig vor den Weihnachtsferien das Holz fürs Bücherregal und den Tisch und den Tresen bekommen habe und mittendrin im Regalbauen kam eine alte Freundin zu Besuch und hielt mich vom Weiterbauen ab. Wenn es fertig ist, wird es so aussehen.“ Ich zeige ihr die Konstruktionszeichnung.

365

hundertdreizehntes Kapitel

Mein Plan für das restliche Jahr sieht so aus: Ich will unseren Tisch, den Tresen und das Bücherregal bauen. Wenn das nächste Mal viel Geld da ist, können wir uns Stühle kaufen, bis dahin muss es mit den beiden Klappstühlen sowie Mommis Gartenmöbeln gehen.
Heute ist das Holz angekommen, das ich über den Lieferanten der Schule bestellt habe. Nach meinem frühen Freitags-Feierabend verziehe ich mich in den Werkraum und erledige alle Zuschnitte und sonstigen Arbeiten, die ich zuhause nicht tun kann. Weil Miloš in der Mittagspause nicht da war und ich ihn auch auf dem Schulgelände nicht gesehen habe, rufe ich spätnachmittags bei uns an. Er muss mir helfen, die Bretter nach Hause zu transportieren. Ich habe zwar eine kleine Karre, aber auch damit geht es zu zweit besser.
Niemand hebt ab. Ich wähle die Handynummer, die ich praktischerweise auswendig gelernt habe und irgendwann erhört er tatsächlich mein Bimmeln.
Bevor ich auch nur eine Silbe sagen kann, informiert er: „Ich rufe gleich zurück“ und hat schon wieder aufgelegt.
Ähm!
Es dauert fünf Minuten, dann klingelt das Telefon hier im Werkraum. „Entschuldige, dass ich dich so abgewürgt habe“, bittet mein stets höflicher Mitbewohner. „Es war nur gerade sehr ungünstig. Weshalb rufst du an?“
„Du müsstest mal in die Schule kommen und mir beim Schleppen helfen.“
„Ich bin nicht in Zuyderkerk, das hatte ich dir doch geschrieben?“
„Aha. Ich war noch nicht zuhause. Unser Möbelholz ist heute angekommen.“
„Mist. Also, ich bin nicht in der Stadt. Entweder du wartest bis morgen Mittag oder du musst jemand anderes fragen.“
„Wo bist du denn? Und was tust du da?“
„Merle hat heute Vormittag angerufen, dass ein Catering ansteht und Herr Blaakmans kurzfristig noch einen Kellner sucht, weil jemand krank geworden ist.“
„Wer ist denn Herr Blaakmans?“
„Toni. Ich kann ihn aber nicht, wenn ich frei habe, Toni nennen und bei der Arbeit Herr Blaakmans, deswegen sage ich nur noch Herr Blaakmans, wenn ich von ihm rede. So verspreche ich mich nicht eines Tages auf unangemessene Weise. Jedenfalls bin ich nach dem Telefonat nach Hause gedüst, habe mich umgezogen, bin nach Alkmaar gefahren, habe mich gegen drei andere durchgesetzt … Kleider machen eben doch Leute, sogar hier in den Niederlanden … bin zurück nach Zuyderkerk gefahren, habe die Kinder nach Hause gebracht und bin danach wieder zu der Firma gefahren, weil noch Einzelheiten zu klären waren.“
„Ganz schön viel Hin und Her für einen Tag!“
„Ach, es ging. Merle hat zwischendurch etwas zu Essen für mich organisiert. Sehr lecker. Vielleicht fragst du sie mal, wie es hieß? Dann könntest du es nachkochen.“
„Frag sie bitte selbst, wie das hieß, was du gegessen hast. Im Zweifelsfall lass sie es aufschreiben. Was denkst du, wie lange wird das heute bei dir dauern?“
„Keine Ahnung. Vielleicht könntest du morgen früh nicht unter meinem Bett singen? Ich kann dir ja einen Zettel hinlegen, wann ich heimgekommen bin.“(188)
„Wann geht es denn los mit dem Catering?“
„Um acht. Eine Vernissage hier in der Stadt.“
„Hoffentlich macht der Künstler moderne Kunst, dann kannst du mitreden!“, blödele ich.
„Ich bin aber nicht zum Mitreden gebucht, sondern zum Getränke reichen und das Büffet in Ordnung halten. Und bis das losgeht, mache ich mich in Merles Firma nützlich.“
„Kann nie schaden, wenn man in guter Erinnerung bleibt.“
„Siehst du, das habe ich mir auch gesagt.“

Weil ich niemanden erreiche, der mir helfen könnte, spanne ich mich schließlich allein vor den Karren und transportiere die Bretter in mehreren Etappen durch die Stadt; jetzt ist es trocken und ich weiß nicht, was das morgige Wetter bringt. Der Vorteil daran, wenn ich die Sachen schon jetzt zuhause habe, ist der, dass ich gleich auch mit der Montage anfangen kann. Das benötigte Befestigungsmaterial habe ich bereits da und ein paar ergänzende Werkzeuge und Kleinmaschinen lade ich bei der letzten Tour auf den Karren.
Und niemand ist im Haus, der sich über den Lärm zu später Stunde beschweren könnte! Ich habe in der alten Wohnung gerne mit meinen Nachbarn unter einem Dach gelebt, aber das hier ist eine ganz neue Wohnqualität.
Ich räume den Tisch und die vorhandenen Möbel beiseite und fange mit dem Bücherregal an. Bisher hat es nur zwei Meter in der Höhe und anderthalb in der Breite. Wenn Miloš eines Tages mehr Bücher anschleppt, werde ich ihm mehr Regal bauen, denn es ist beliebig erweiterbar. Da es an der schilfgrünen Wand steht, kann es nach links oder rechts wachsen und wird nicht mit irgendwelchen Tapetenstreifen kollidieren. Die Konstruktion stammt von mir.
Es hat wenig künstlerischen Anspruch, da es ohne Zierleisten und anderen Schnickschnack auskommt, weder Türen noch Schubladen hat, aber bei manchen Möbelstücken geht es nun mal nicht um Schönheit, sondern darum, dass sie ihren Zweck erfüllen. Vermutlich werden ja ohnehin die Bücher die Hauptperson sein, warum sollte ich dem Regal also zum Beispiel eine Rückwand verpassen?

364

Erst sehr spät sind wir wieder auf dem Heimweg; Marjorie fährt uns. Mommi wollte nicht früh fahren und so haben wir immer noch eine halbe Stunde dran gehängt und bei den anderen gesessen und geredet und Karten gespielt, und irgendwann war es elf, und da hat Marjorie gesagt, dass sie uns nicht mehr mit dem Zug fahren lässt.
„Gemessen daran, dass du gar nicht wusstest, worüber du mit dem ABC reden solltest, hast du viel mit Ad gequatscht. Worum ging es?“, erkundige ich mich.
„Ach, allerhand. Er versteht zum Beispiel nicht, wie wir miteinander zurecht kommen. Er findet dich seltsam. Als du mit Helena zusammen warst, hat ihn das nicht sehr nachdenklich gemacht, sagt er, Frauen halten viel aus, wenn sie verliebt sind. Eine erstaunliche Lebensweis­heit für einen Siebzehnjährigen! Aber bei mir als Mann fragt er sich, wie das geht.“
„Und was hast du ihm gesagt?“ Vom Beifahrersitz erklingt leises Schnarchen.
„Jeremy, denk nach: Was habe ich ihm wohl gesagt?“
Ich seufze tief. „Meist freundlich, manchmal ziemlich laut?“ Weil er nickt, seufze ich gleich noch einmal, „Au weia. Das wird mich bis an mein Ende verfolgen. Könntest du dich bitte drum kümmern, dass es nicht auf meinem Grabstein steht?“
„Wieso, das ist doch ein cooler Spruch? Viel besser als „wir werden ihn vermissen“ oder diese Stereotypen. Jeder, der da vorbei geht, wird sich denken: Eine herausragende Persönlichkeit, die hier begraben liegt! Und was ist dir lieber, sollen alle heulen bei deiner Beerdigung oder sich freuen?“
„Sich freuen?! Weil ich endlich weg bin oder was? Na super.“
„Du redest Scheiße. Ich werde mich freuen, dass ich dich gekannt habe und dass du mein Freund warst. Wenn dann einer sagt, dass du meist freundlich und manchmal ziemlich laut gewesen bist, wird es mir zwar das Herz brechen, aber ich werde auch lachen können.“
„Ihr habt verrückte Gesprächsthemen“, bemerkt Marjorie von vorne.
„Man muss auch darüber mal gesprochen haben.“
„Siehste, deswegen passt du so gut zu Jeremy. Du verwendest die selben Phrasen wie er.“
„Irgendwo müssen die Ähnlichkeiten zwischen uns sein.“
„Schon wieder eine. Was soll übrigens auf deinem Grabstein stehen? Ich frage nur, damit wir auch dieses Thema erledigt haben.“
„Ich werde meinen letzten Willen schriftlich festhalten, versprochen.“
„Weißt du das etwa noch nicht? Wie kann es sein, dass Jeremy da schon so viel weiter ist? Perfektionisten darf man doch nicht überholen?“, stichelt sie.
„Liebste Marjorie“, fängt er an. „Es ist für mich keine Schande, wenn Jeremy mich überholt. Und über meinen Grabstein habe ich sehr lange nicht nachgedacht, was ich als ein gutes Zeichen werte. Außerdem ist Jeremy nicht weiter in der Frage, sondern er hat ja nur gesagt, was nicht auf seinem Stein stehen soll. Das ist ein wesentlicher Unterschied.“
Weil es wirklich ein verrücktes Thema ist, gehe ich mal lieber dazwischen. „Und ihr habt die ganze Zeit darüber geredet, dass ich seltsam bin?“
„Wir haben auch anderes gefunden, keine Sorge.“
„Und, was?“
Er grinst.
„Sag doch mal.“
„Nein.“
„Hast du Geheimnisse vor mir?“
„Ja.“ Nach kurzem Schweigen fügt er an: „Er hat mich gefragt, ob ich sein großer Bruder sein könnte, da ich ja irgendwie zur Familie gehöre. Aber ich habe ihm gesagt, dass daraus nichts wird. Ich bin in letzter Zeit genug großer Bruder gewesen. Mit fragwürdigem Erfolg.“

363

Nach dem Essen rollen wir uns ins Wohnzimmer. Eine Materialschlacht setzt ein, denn jetzt gibt es Geschenke. Bald ist der Boden bedeckt mit Geschenkpapierfetzen.(187) Wir Älteren haben untereinander nichts zu schenken; nach dem ganzen Renovieren hätte ich auch gar kein Geld mehr gehabt, um noch etwas zu kaufen.
Nur Mommi hat für jeden von uns eine Kleinigkeit besorgt.
Ich bekomme ein großes Schneidebrett aus Olivenholz und das ist wunderbar, denn das letzte, das ich hatte, ist einfach so bei der Arbeit entzwei gebrochen. Olivenholz! Da denkt man doch, dass es hart genug ist, um ein paartausend Klingenkontakte auszuhalten.
Neugierig schaue ich mich nach Miloš um. Was hat er bekommen? Wo ist er überhaupt? Eben beim Essen war er noch da … als wir hier rüber gingen, auch. Alle anderen sind im Raum. Hm. Wo mag er sein? Ich warte ein paar Minuten, denn vielleicht ist er ja gerade mal für kleine Perfektionisten, aber nach ein paar weiteren Minuten schlängele ich mich aus dem familiären Wust und verlasse das Zimmer.
Von der Küche aus kommt man auf die Terrasse, womit die Gemeinsamkeiten zwischen der Haushälfte und unserem Häuschen abgehandelt sind. Die Tür steht offen, Kälte fließt in den Raum. Draußen finde ich meinen Freund. „Was machst du hier?“, will ich wissen.
„Luft holen.“
Eine typische Miloš-Auskunft. Ich versuche eine Deutung: „Willst du alleine sein?“
„Nein, bleib nur. Es ist bloß ein bisschen viel Familie auf einmal.“
„Den letzten großen Familienauflauf hattest du vermutlich bei Dragan und Dijana.“ Weil er nichts sagt, lege ich nach: „Was hat Mommi dir geschenkt?“
Er gibt mir einen gut bekannten Gegenstand. Es ist ein kleines Kreuz aus grünem Speckstein, das an einem schwarzen Lederband hängt. Es ist warm; er hat es in der Hand gehalten.
„Hat sie dir was dazu gesagt?“
„Nein. Gibt es etwas dazu zu sagen?“
„Kann gut sein, dass ich zugeguckt habe, als das Kreuz geschnitzt wurde. Popp hat solche Kreuze gemacht. Das hier ist das letzte, das Mommi noch hatte. Ich hab sie gefragt, ob ich es haben kann, aber sie hat gesagt, dass Popp es für einen Anderen geschnitzt hat.“
„Soll das heißen, er hat es für mich geschnitzt? Wie konnte er denn von mir wissen?“
Ich hebe die Schultern. „Was fragst du mich? Frag Mommi.“
„Geh schon vor, ich komme gleich.“
Rauswerfen kann er mich nicht, wir sind ja draußen, also ist das hier ein Reinwurf. Alles passiert irgendwann zum ersten Mal.

In der Küchentür stoße ich fast mit Ad zusammen, der zum Rauchen auf die Terrasse will. Seit ein paar Monaten ist er siebzehn und darf offiziell tun, was er zuvor schon zwei Jahre lang ohne elterliche Erlaubnis getan hat. Allerdings bestehen sie darauf, dass er nur draußen raucht und nicht in seinem Zimmer.
„Seit wann rauchst du denn?“, fragt er mich erstaunt.
„Gar nicht, wie kommst du drauf?“
„Ich dachte nur“, winkt er ab. „Das war so der Zeitraum für eine Kippe.“
„Wäre ich cooler für dich, wenn ich rauchen würde?“
„Du wirst nie cooler“, grunzt er und verschwindet nach draußen.
Ach, was soll’s. Ad und ich, das sind zwei Pole eines Magnets. Das wird nie zusammen funktionieren. Ich begebe mich zurück in den Kreis meiner übrigen Sippschaft.