21. Dezember 2015

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Am nächsten Morgen hat sich das Strahlen zu einem intensiven Glimmen abgeschwächt. Diese „Berührung“ scheint ungefähr die Wirkung eines Kometeneinschlags gehabt zu haben. Gut, dass gerade Wochenende ist; ich bin nicht sicher, ob er so zugedröhnt den Schulbus hätte fahren können, auch wenn ein Drogentest keine Ergebnisse gebracht hätte.
Nebenbei gesagt bin ich schwer beeindruckt. Ich wusste zwar, dass Gott zu jedem anders spricht, aber dass die Unterschiede derart immens sind! Jede göttliche Kommunikation ist individuell auf den Menschen abgestimmt. Jeder kriegt, was er braucht. Und Miloš brauchte offenbar einen Dreißig-Stunden-Vollrausch. Ist ja auch klar, er hat schon eine Menge an diversen Drogen und Alkohol ausprobiert; hätte der Heilige Geist ihn auf die gleiche sanfte Weise berührt, wie er es bei mir tut, hätte es längst nicht denselben Effekt gehabt.

„Jeremy“, sagt er auf der Heimfahrt vom Gottesdienst, „in der Bibel steht: Ich vermag alles durch den, der mich stark gemacht hat. Philipper 4 Vers 13. Stimmst du zu?“
„Auf jeden Fall.“
„Gut. Dann werde ich heute kochen.“
Ich verbeiße mir den Protest und lerne lieber mal was über meine Glaubenseinstellungen. Hätte er gesagt, er werde ab sofort nicht mehr fluchen, hätte ich ebenfalls Glauben gehabt. Hierbei jedoch überkommen mich Zweifel. Miloš selbst hat neulich festgestellt, Kochen sei mehr als irgendwelche Dinge in den Topf zu tun und dann hat man eine leckere Mahlzeit. Und jetzt will er mit der Kraft Gottes kochen?
Den heutigen Gottesdienst fand ich übrigens sehr seltsam. Also, es war alles wie immer – aber niemand hat Miloš auf die unübersehbare Veränderung angesprochen. Sehe das nur ich, weil ich weiß, was passiert ist? Oder sind die Leute blind für solche Veränderungen?
In den letzten anderthalb Jahren habe ich zunehmend darüber nachgedacht, mich Gläubigen anzuschließen, die Gott mehr als liebenden Vater verstehen und nicht nur als Schöpfer des Universums, der für Nichtgläubige und andere Sünder ewige Verdammnis bereit hält (kurz zusammen gefasst). Manche Dinge, die meine Kirchgeschwister glauben, treiben mir den Angstschweiß auf die Stirn. Früher gab es Abraham, Mose, David und einige andere Männer Gottes, aber seit wir Menschen seinen Sohn ans Kreuz geschlagen haben, ist er nicht mehr an einer persönlichen Beziehung interessiert. Wunder hat es zu Zeiten Jesu gegeben und noch etwa hundert Jahre danach, dann ist die Kraft versiegt.
Sie halten das für wahr, weil sie es nicht anders wissen! Aber Gott ist doch ganz anders! Früher wollte ich die Leute überzeugen, dass Gott es gut mit uns meint, aber irgendwann habe ich das aufgegeben. Es bringt nichts, außer dass ich Streit kriege. Aber es ist mir schlicht unmöglich, nicht an heutzutage stattfindende Wunder zu glauben! Schon mit Miloš habe ich so erstaunliche Dinge erlebt, dass es eine glatte Verleugnung des Evangeliums wäre, hier von Zufall zu reden.
Leider lähmt mich mal wieder meine mangelnde Entschlussfreude. Und was würde Mommi dazu sagen, wenn ich die Kirche verlasse?

Das Kraft-Gottes-Menü ist eine Art dicke Suppe oder dünner Eintopf, in dem zu ungefähr gleichen Teilen Erbsen und Möhren und zerstampfte Kartoffeln vorhanden sind, dazu Schnittlauchröllchen(191), diverse Kräuter aus der Acht-Kräuter-Tiefkühlmischung und gekochte Eierviertel. Der Geschmack ist nicht allzu definierbar. Weil er die Mühle mit Fleur de Sel auf den Tisch gebracht hat, helfe ich ein bisschen nach.
„Schmeckt es dir?“, fragt er ohne Begeisterung.
Ich versuche mich in Diplomatie: „Dafür, dass du Anfänger bist, ist es–“
„Mir schmeckt es nicht“, unterbricht er. „Soll ich Pizza bestellen?“
Das ist wie eine Erlösung. „Au ja. Pizza wäre toll.“
Miloš ist schon in der Küche und nimmt den Prospekt von der Magnetwand.

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