17. Juli 2015

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Im Lehrerzimmer ist es wie üblich recht ruhig, manche Kollegen sitzen da und essen, andere haben irgendwelchen Schreibkram zu tun oder unterhalten sich.
„Hallöchen“, grüße ich munter und werfe einen Blick durch den Raum. „Wo ist Djamila?“
„Nebenan“, gibt jemand Auskunft, ohne von der Lektüre aufzusehen.
Im Nachbarzimmer herrscht meist absolute Ruhe, hier kann man zum Beispiel Tests korrigieren. Das Zimmer ist dafür gut geeignet, denn es hat nur die Tür zum Lehrerzimmer, niemand geht einfach so hindurch.
Djamila sitzt am Computer und surft im Internet. Sie ist klein und zierlich, sodass sie manchmal für eine Schülerin gehalten wird, wenn jemand nicht genau hinschaut. Unter anderem bietet sie die Selbstverteidigungskurse für Mädchen an, daher sollte man sich nie von ihrer zarten Statur verleiten lassen und die süße Südfranzösin für wehrlos halten. Allerdings muss ich sagen, dass sie sehr viel Humor hat und die Gefahr nicht gegeben ist, dass sie einen Kerl direkt auf den Boden wirft.
Sie hat gehört, wie ich nach ihr gefragt habe, dreht ihren Stuhl zum Tisch um und bietet mir einen Stuhl neben ihrem an. Niemand sonst ist im Raum, daher können wir hier reden.
Kaum dass ich sitze, falle ich mit der Tür ins Haus: „Suchst du immer noch nach einem Übersetzer für deine russischen Mädchen?“
Verwundert fragt sie: „Woher weißt du das denn? Du hast doch gar nicht mit den großen Kindern zu tun?“ Sie dreht sich wieder zum Computer um, klickt das Internet aus und wendet sich zurück zum Tisch.
„Stimmt, aber Grietje hat es gehört und mir erzählt, weil ihr eingefallen ist, dass der Bassist meiner Band auch aus Osteuropa kommt.“
„Aha. Woher kommt er genau?“
„Aus Bosnien.“
„Was soll ich mit einem Bosnier? Die Mädchen kommen aus Georgien!“
„Und Miloš kann russisch.“
„Hat er es nur irgendwann mal in der Schule gelernt oder auch im Alltag genutzt?“
„Soweit ich weiß, hat er ein paar Jahre lang geschäftlich mit Russen zu tun gehabt, und wenn man sich die osteuropäische Geschichte der letzten fünfzig Jahre anguckt, ist ein russisch sprechender Bosnier wahrscheinlicher als bosnisch sprechende Russen.“ Ich wechsle die Tak­tik, um schneller zum Erfolg zu kommen. Der Ehrgeiz hat mich gepackt. Ich will, dass Miloš diesen Job kriegt! „Kann er vielleicht mal vorbei kommen?“ Je eher er sie selbst überzeugen kann, desto besser.
„Hm“, macht sie. „Spricht er denn gut niederländisch?“
„Er kennt nicht alle Wörter, aber man kann sich schon gut mit ihm unterhalten. Für den Anfang wäre er bestimmt eine Hilfe für euch.“
„Ich müsste mal mit der Schulleitung reden, was sie noch in ihrem Etat haben. Was sagt denn dein Freund dazu? Und hat er soviel Zeit?“
„Na ja, er sagt noch gar nichts dazu, weil ich es eben erst erfahren habe. Theoretisch müsste er aber genug Zeit haben; er ist im Moment arbeitslos.“
Noch einmal macht sie „Hm“, dann greift sie in die Tasche neben ihrem Stuhl und holt ihren Terminplaner heraus. Blätternd murmelt sie: „Morgen ist schlecht, übermorgen … Freitag geht auch nicht … Ach, sag ihm, er kann morgen oder übermorgen zwischen vierzehn und sechzehn Uhr vorbei kommen. Ich habe Schulaufgabenaufsicht, da kann ich die Kinder mal eine Weile alleine lassen.“
„Klar, mach ich“, verspreche ich.

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„Also, ich hab es aus Mommis Fotosammlung und was glaubst du, warum da drei gleiche Fotos drin sind? Das zweite ist für dich, das dritte für Douglas. Wenn ich dir ein unkopierbares Foto zeigen würde – das wäre doch gemein.“
„Stimmt“, sagt Cokko, „und da du nicht gemein bist, tust du so was nicht.“
„Eben.“ Einen Moment lang betrachte ich die Ringe unter seinen Augen und die ansonsten eher bleiche Gesichtsfarbe. Dann will ich von ihm wissen: „Hast du Hunger?“
„Ach, nicht besonders. Aber fang mal an, irgendwas zu kochen, dann kommt der Hunger schon, wie ich deine Kochkünste kenne. Oder hast du was anderes vor?“
„Wenn ich dich fragen würde, ob du was essen willst, und dann nichts kochen wollen würde, das wäre doch gemein“, fange ich grinsend eine dieser lustigen Endlosschleifen an.
Wie in dieser Dauergeschichte: Es war einmal ein Mann, der hatte sieben Söhne. Da sprachen die sieben Söhne zu ihm: Vater, erzähl uns eine Geschichte! Da fing der Vater an: Es war einmal ein Mann, der hatte sieben Söhne … und so weiter, da kann man dann stundenlang erzählen, gerade so, wie die eigene Ausdauer anhält – oder die der Zuhörer.
Cokko grinst jetzt auch. „Und da du nicht gemein bist, tust du so was nicht.“


sechsundfünfzigstes Kapitel

Als wir am Vormittag eine ruhige Minute haben, erzählt Grietje mir, was es Neues aus dem Kollegium gibt.
„Djamila hat zwei Schülerinnen aus einem dieser Ex-Sowjetstaaten bekommen. Es sind Schwestern, zwei Jahre auseinander, aber man hat sie vorerst mal beide in die sechste Gruppe gesteckt. Sie sprechen nur russisch und niemand kennt einen, der ihnen übersetzen kann. Als ich das gehört habe, ist mir eingefallen, dass du mal von deinem Bassist erzählt hast, dass der auch aus der Ecke kommt. Meinst du, der könnte für ein paar Monate helfen?“
Sie wartet keine Antwort ab (mir fällt sowieso nichts ein (76)) und redet gleich weiter: „Das geht natürlich nur, wenn er unsere Sprache einigermaßen fehlerfrei spricht, wir wollen ja nicht, dass es mehr Missverständnisse gibt als unbedingt nötig.“
Ich wackele mit den Schultern. „Ist sie heute hier?“, frage ich.
„Heute früh hab ich sie gesehen. Geh doch in der Pause mal zu ihr rauf“, schlägt sie vor.
Ich habe keine Ahnung, was Miloš zu diesem Job sagen wird, aber immerhin ist es eine Möglichkeit, an neue Kontakte zu kommen und außerdem kann er bestimmt ein paar Euro mehr gut gebrauchen – falls die Schule ein paar für ihn übrig hat.

Das Lehrerzimmer ist im hinteren der drei Schulgebäude und mein überwiegender Arbeits­platz befindet sich im vordersten. Ich könnte nun durch das Mittelhaus gehen, beim Bau sind alle Gebäude miteinander verbunden worden, damit Schüler und Lehrer beim Wechsel der Unterrichtsräume nicht nass werden oder durch die Kälte laufen müssen. Das habe ich heute nicht zu befürchten, denn der Mai zeigt sich von seiner schönsten Seite. Ich gehe über den Schulhof der Großen.
Wir haben nämlich zwei Schulhöfe; einer ist eingerahmt von den hufeisenförmig angeordneten Gebäuden und der andere versteckt sich zwischen Vorderhaus und einem seitlich angrenzendem Waldstückchen. Auf dem kleinen sind ein paar Spielgeräte und eine große Sandkiste, eigentlich sieht es aus wie auf einem normalen Spielplatz. Das ist der Schulhof für Kinder der ersten beiden Gruppen. Die älteren haben hier keinen Zutritt. Wagemutige Kinder der unteren Gruppen dürfen jedoch auf den Schulhof der Großen gehen, wenn sie möchten.
Auf der Treppe in den zweiten Stock begegnet mir Marijke Diekmans, eine Kollegin, mit der ich ein paar Worte wechsele. Sie bittet mich, im Laufe der Woche in ihren Bereich zu kommen, weil sie ein paar Laubsägearbeiten für den Bastelunterricht vorbereitet haben möchte.

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hier tut sich eine Lücke von etwa einer Woche Dauer auf.
Montag
Dienstag
Mittwoch
Donnerstag
Freitag
Samstag
(Ich hatte bisher keine Lust, darüber zu schreiben.)


fünfundfünfzigstes Kapitel

Viel zu schnell für meinen Geschmack ist die Woche schon wieder um und wir müssen nach Schiphol, um Douglas zu seinem Flugzeug zu bringen. Dieses Mal begleitet uns Simone, die netterweise auch den Fahrservice übernimmt.
Am liebsten hätte ich während der letzten Woche auch Urlaub gehabt, um mehr Zeit mit Douglas verbringen zu können, aber das ging nun mal nicht.
Leider ist auch die Vergrößerung des Fotos von Lucy mit 20 noch nicht fertig, ich hätte ihm gerne einen Abzug davon gegeben.
Als wir wieder in Zuyderkerk sind, schicke ich die beiden weg, damit sie gemeinsam den Rest des Tages verbringen, sonst fällt mein Bruder gleich in ein tiefes schwarzes Einsamkeitsloch. Douglas und ich haben so viel über Lucy gesprochen, die er immer noch vermisst, und jetzt ist sein Pa auch noch fort. Kanada ist gerade ziemlich weit weg. Vielleicht fühlt er sich zum ersten Mal in seinem Leben so richtig verlassen. Das soll er nicht ohne weiblichen Trost durchstehen müssen.

Im Wohnungsflur kündige ich mich mit einem melodiösen „Halli-Hallo“ an, das aber ohne Reaktion verhallt. Ob mein Bruder das Haus schon verlassen hat? Wo wird er denn wohl hin wollen?, überlege ich, während ich mir die Schuhe ausziehe.
Auf dem Weg in die Küche begegne ich ihm; er kommt gerade aus dem Werkstatt-Wohnzimmer. Er hat den aufrechten Gang bereits wiedererlernt, nutzt ihn aber nicht besonders begeistert. Stattdessen schleicht er vor mir her in die Küche und lässt sich am Tisch nieder, um sich an einer Teetasse festzuhalten.
Oh je, denke ich, wenn er Tee trinkt, geht es ihm wirklich nicht gut!
„Na“, macht er zur Begrüßung.
Ich räume meine Brotdose aus der Tasche und spüle meine Saftflasche mit heißem Leitungswasser aus, dann setze ich mich zu ihm.
„Danke, dass du im Laden angerufen hast“, sagt er und schiebt den Zettel mit entsprechend lautender Information hin und her. „Bin erst um zwölf aufgewacht, das wäre ein bisschen spät gewesen.“
Ist er wohl emotional ausreichend gefestigt, dass ich ihm das Foto von Lucy zeigen kann, das ich eben abgeholt habe? Oder soll ich die Fototasche einfach unauffällig auf dem Schreibtisch liegen lassen, damit er sie irgendwann findet? Ach nein, ich werde es darauf ankommen lassen. Cokko ist alt genug, um mit Kummer umgehen zu können. Das glaube ich zumindest.
„Schau mal, was ich aus dem Fotogeschäft mitgebracht habe“, mache ich ihn neugierig und gebe ihm die bunt bedruckte Papiertüte.
Cokko macht sie auf und dann macht er gar nichts mehr. Wenn ich die Stille und seinen verblüfften Gesichtsausdruck richtig interpretiere, hat es ihm die Sprache verschlagen. Ich genieße den Augenblick, denn dieses Kunststück gelingt mir nicht allzu häufig.
Endlich räuspert er sich. „Das ist toll, woher hast du es? Kann ich einen Abzug davon haben? Ich muss es Pa schicken, der wird sich wundern!“

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Ich lege mich wieder zurecht und schließe die Augen. „Eine Woche, wieso fragst du?“
„Ich will ihn auch sehen, schließlich hat Cokko die letzten Wochen von fast nichts sonst geredet, wenn er mal was gesagt hat.“
So muss es sich für Pieter angehört haben, als mein Bruder Ende letzten Jahres hierher kam. Dieses verzückte Sehnen ist für einen selbst sehr schön, erfordert jedoch irgendwann eine Menge Geduld von den Mitmenschen. In Prinzip ist es wie das Stammeln der Verliebten. Aber na ja, es geht ja vorbei.
„Und warum kommst du hier so ganz zufällig entlang?“, erkundige ich mich. „Das liegt doch gar nicht auf deiner Route?“
„Ich kann meine Route ändern“, grinst er. „Ach, ich war laufen und da dachte ich, bei so schönes Wetter bist du bestimmt am Schiff.“
Jaja, Miloš und sein Sport. Ich finde das ganze Sportmachen ziemlich langweilig. Ich habe mal versucht, ihn zu begleiten, damit er nicht so alleine unterwegs sein muss, aber das war keine gute Idee. Ständig war er schneller als ich und musste auf mich warten und ist aus dem Laufrhythmus gekommen. Und nach ungefähr drei Kilometern mussten wir schon umkehren, weil ich total tot gewesen bin. Danach bin ich nicht wieder mitgekommen, wenn er zu seinem täglichen Viertelmarathon aufbricht.
Nebenbei überlege ich, wo Cokko und Douglas nur so lange bleiben, als sie ihre Fahrräder schiebend die Straße entlang kommen. Klar – Douglas ist nicht so geübt im Radfahren, deswegen schiebt er lieber.
Als die beiden an der Kaap Hoorn angelangt sind, wartet Miloš nicht ab, bis ich ihn vorgestellt habe und erledigt das selbst, um sich gleich darauf zu verabschieden.

Douglas' Innenleben hält trotz der vorsorglich eingenommenen Tablette nichts vom instabilen Aufenthaltsort, scheint so, dass das erblich ist. Deswegen belasse ich es bei einem kleinen Törn und erteile den beiden die Aufgabe, sich auszudenken, was wir stattdessen unternehmen könnten. Douglas wünscht sich, nach Wiederankunft bald nach Hause zu fahren, erstens hat er Hunger und zweitens möchte er gerne mal die Füße hochlegen, schließlich ist er der älteste von uns.
Zudem bereitet sich die Sonne ebenfalls darauf vor, nach Hause zu gehen (75) und was kann es Schöneres geben, als mitten in einen Sonnenuntergang hineinzusegeln?
Ich gebe der Bitte umgehend statt und bringe die Kaap Hoorn auf heimatlichen Kurs, während Douglas das Geschehen begeistert auf seiner Digitalkamera festhält.
Ich kann die Leute schon verstehen, die jeden Sonnenuntergang knipsen, den sie vor die Linse bekommen, ganz egal, wie viele tausend Fotos sie schon davon gemacht haben. Wenn ich eine Kamera hätte, würde ich auch sämtliche Sonnenuntergänge auf Dersummeroog knipsen und in den Kanälen und auf dem IJsselmeer und wo auch immer ich einen sehe.
Sonnenuntergangsfotos sehen immer ziemlich kitschig aus, weil es die Farbkombinationen in der Natur eigentlich gar nicht gibt. Wo hat man schon mal diese Mischung aus rot und gelb und all den anderen Farbtönen dazwischen gesehen, die Übergänge von blau, lila, pink und orange, und noch dazu in allen Schattierungen zwischen pastellfarben und knallbunt?
Aber man will den Augenblick festhalten, den Moment und seine Stimmung. Es ist fast, als wollte man den Tag am letzten Zipfel festhalten. Vermutlich will man, dass es nie Nacht wird und danach ein neuer Arbeitstag mit neuen Pflichten kommt.

Das Wochenende war toll. Wir haben es von früh (nicht das, was ein Frühaufsteher als „früh“ bezeichnen würde) bis spät mit einander und wechselnden Gästen verbracht und ich habe viel mit Douglas geredet. Dabei ging es zum Beispiel um Lucy und wie sie so gewesen ist, denn mittlerweile möchte ich sie besser kennen lernen. Weil mir dieser Gedanke reichlich spät kommt, muss ich mich an die Leute halten, die sie gut gekannt haben.
Natürlich könnte ich auch Cokko fragen, aber der hat sie ja vor allem als Mutter erlebt, und das hilft mir nicht so richtig weiter. Vom Biologischen her ist sie natürlich auch meine Mutter gewesen, aber ich werde sie nie als meine Mutter sehen können – das war einfach Mommi für mich. Jetzt möchte ich den Mensch Lucy McLachlan kennen lernen.

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Ich winke ab. „Einen Liegeplatz im Hafen kann ich mir nicht leisten.“
„Lass uns bitte hinfahren, ich will es sehen.“
„Warum ist es dir so wichtig?“, wundert Cokko sich.
„Deine Mutter hat davon erzählt. Sie hatte ein Foto, aber das ist verloren gegangen.“
„War sie denn auch an Bord?“
„Gerrit wollte es mit ihr betreten, aber aus Respekt Willem gegenüber ist sie auf dem Steg geblieben. Ihm wäre es vielleicht nicht recht gewesen.“
Meine Meinung von Lucy ist ja viel besser geworden, aber das ist das erste Mal, dass ich so etwas über sie höre. Aus Respekt! Plötzlich kommt mir ein Gedanke. Was, wenn Gerrit sie benutzt hat gegen seine Eltern? War sie gar nicht so ein Revoluzzer wie er? Hätte sie sich gern gut mit Mommi und Popp verstanden?

„Dein Boot ist ja genau wie das Ausflugsschiff, nur etwas kleiner. Du solltest auch solche Touren machen“, findet Douglas, als wir am Anleger angelangt sind.
„Etwas kleiner, das könnte man so sagen. Die „Zwarte Ruiter“ ist gut doppelt so lang wie die „Kaap Hoorn“. Ich könnte allenfalls fünf bis acht Leute mitnehmen – nur mit Sitzplätzen, und bei so einer großen Tjalk kriegst du zwanzig oder noch mehr untergebracht, die auch übernachten können.“
„Wenn du auch eine Tour mitmachen möchtest, besorge ich mir Pillen gegen die Seekrankheit“, verspricht Cokko und überrascht mich damit ziemlich. Scheinbar hab ich mir mal wieder über die verkehrten Dinge Gedanken gemacht, als ich annahm, dass er keine Rundfahrt miterleben wollen würde.
„Seekrankheit?“, fragt sein Pa verwundert nach, „Hier? Ich dachte, das gäbe es nur auf dem Atlantik, wo die Wellen größer sind. Wie wirkt sich die Seekrankheit denn bei dir aus?“
„Wenn du dazu noch Jetlag hast, ist es zum Kotzen“, sagt Cokko und fängt an zu lachen.
Ich lache mit. „Allerdings hast du es danach nicht noch einmal versucht. Vielleicht wirst du ja auch nur seekrank, wenn du Jetlag hast und sonst hast du keine Beschwerden?“
„Na ja, dann probieren wir es eben aus. Heute oder morgen?“, fragt er seinen Pa.
Douglas zuckt mit den Schultern. „Mir ist es gleich, sofern ich auch ein paar von den Pillen bekommen kann.“
„Kein Problem“, sagt Cokko. „Komm mit in die Apotheke. Derweil kann Jeremy die Kaap Hoorn schon mal fahrbereit machen oder was da so zu tun ist.“
Gar nichts ist zu tun, um ein Schiffchen wie die Kaap Hoorn fahrbereit zu machen, denn ich steche ja alle paar Tage in See. Aber ich lasse ihm die Zeit, mit seinem Pa in die nächste Drogerie zu ziehen und halte mein Gesicht in die warmen Sonnenstrahlen.

Unerwartet und viel zu früh für Cokko und Douglas werde ich schon wieder beschattet. Ich öffne die Augen und schirme sie mit der Hand gegen die Helligkeit ab.
Dank Miloš’ freundlicher Mithilfe erlebe ich meine erste private Sonnenfinsternis. Die Strahlen umgeben seinen Kopf wie einen Heiligenschein, das steht ihm wirklich gut.
„Warum sitzt du auf Kaap Hoorn und fährst nicht los?“, will er wissen.
„Weil ich noch auf Cokko und seinen Pa warte. Die brauchen Pillen gegen die Schaukelei.“
„Cokko Papa ist zu Besuch?“, horcht er nach, „Cokko hat davon erzählt, aber er hat nicht gesagt, wann. Wie lange wird er bleiben?“ Nun geht er aus der Sonne und lässt sich an meiner Seite nieder.

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vierundfünfzigstes Kapitel

Zuyderkerk kann eine völlig normale Kleinstadt sein, wie es eine ganze Menge Städtchen rund ums IJsselmeer gibt. Dann ist es da nett und geht beschaulich zu, man kann zum Beispiel mitten auf einer Straße stehen und ein Schwätzchen mit Bekannten halten, ohne dass sich ein Autofahrer daran stören würde – weil nämlich keiner vorbei kommt.
Heute ist es nicht nett und beschaulich in meiner Heimatstadt. Anscheinend haben sich alle Autobesitzer verabredet, genau am heutigen Freitag die engen und holprigen Straßen zur fußgängerfreien Zone zu machen. Es ist ein irrer Stress und Douglas hat nicht viel vom versprochenen Sightseeing, weil man sich kaum in Ruhe unterhalten kann, und eigentlich ist es unverantwortlich, einen Radfahr-Unerfahrenen durch so ein Gewühl zu scheuchen.
Irgendwann beugen Cokko und ich uns der höheren Gewalt und fahren zum Hafen. Dort wird es etwas ruhiger sein; Autos müssen nämlich drumherum fahren. Wir werden ja vermutlich an Land bleiben, denn ich denke nicht, dass Douglas was ohne Cokko unternehmen will, aber der Hafen gehört zum touristischen Pflichtprogramm.
Etwas ruhiger ist eine zutreffende Bezeichnung, denn ein großes Plattbodenschiff hat vor kurzer Zeit am Steg A festgemacht und seine Passagiere strömen in die Gassen der Altstadt.
„De Zwarte Ruiter“, liest Douglas die Aufschrift auf dem braunen Segel und geht zwei mit Kapitänsmützen ausgestatteten Touristen aus dem Weg, die das Schiff gerade verlassen.
Die Tjalk ist ein imposanter Anblick. Es gibt unter den alten Binnenseglern Tjalken, die nur funktional hergerichtet sind und nicht unbedingt authentisch. Doch den Besitzern dieses Schiffes ist die Schönheit des Originalzustandes offenbar sehr wichtig gewesen.
Nun kommt ein langbeiniger grau-schwarz-gefleckter Hund von Deck geschlendert und schnüffelt überall auf dem Steg herum. Weil die Passagiere schon lange weg sind, muss er zur Besatzung gehören. Dafür spricht auch die Gelassenheit, mit der er seine Entdeckungen tätigt. Es hat den Anschein, als sei dies der ungefähr hunderttausendste Steg, den er unter seine vier Pfoten nimmt, und er tut es mit einer Art königlicher Souveränität. Eigentlich gehört ihm nämlich der ganze Hafen.
Schließlich pinkelt er an einen Poller.
„Ist das eine Art Linienbus, nur auf dem Wasser?“, erkundigt er sich bei seinem Sohn.
Cokko hat noch nie was von schwimmenden Linienbussen gehört und gibt die Frage an mich weiter.
„Ich kenne nur einen schwimmenden Bus, und das war Kolumbus“, kalauere ich und antworte dann: „Es gibt natürlich Linienverkehr auf dem Wasser, aber dazu werden Motorschiffe verwendet, die sind schneller. Solche alten Segelschiffe nimmt man für Ausfahrten, entweder Tagestouren oder auch mit Übernachtungen. Cokko kann dir sicher hundert und eine Information dazu im Internet raussuchen.“
„Aha“, macht der, „Und wie find ich die Adresse? Wenn ich Segelschiff eingebe, werde ich bestimmt zugeschüttet mit hundert und einer Info, die ich gar nicht haben will.“
„Dann sei eben ein bisschen fantasievoller“, gebe ich zurück. „Wieso muss ausgerechnet ich dir sagen, wie du im Internet etwas herausfinden kannst? Du bist doch hier der große Experte. Zum Beispiel könntest du den Namen des Schiffes und seinen Schiffstyp eingeben.“
„Und woher weiß ich, um welchen Schiffstyp es sich handelt? Das steht ja nicht vorne am Kühlergrill dran.“
„Du könntest deinen schlauen Bruder fragen, der weiß es bestimmt“, regt Douglas an.
„Dann könnte er sich auch gleich um die ganze Recherche kümmern“, wählt Cokko den bequemen Weg.
Douglas lacht darüber und wendet sich an mich: „Wo ist denn dein Schiff?“

160

Ich hoffe, dass ich, wenn schon ohne Großformat, wenigstens mein Original heil wiederbekomme. So stoffelig, wie die beiden Pappenheinis sich angestellt haben, bleibt mir wirklich nur die Hoffnung.
Bald nach Ende der Pause ist mein Feierabend erreicht, der Freitags besser Feiermittag heißen würde. Auf dem Heimweg tätige ich noch ein paar kleine Einkäufe, damit ich Cokko und Douglas den Rest des Tages ungeteilt zur Verfügung stehen kann.
Als ich in die Wohnung komme, stelle ich fest, dass sie gerade mal mit dem Frühstück anfangen wollen. Ach ja, erinnere ich mich, das liegt wohl am Jetlag. Douglas wird die Stunden, die wir Europäer der kanadischen Zeit voraus sind, nicht aufholen wollen, dafür ist sein Urlaub zu kurz. Also wird er sich mit der Zeitverschiebung arrangieren, so gut es geht.

„Kommt Simone heute auch?“, erkundige ich mich.
„Nein, ich hab sie für morgen eingeladen. Ich dachte, heute machen wir mal einen Männertag“, gibt mein Bruder Auskunft, „Sie kommt nachmittags und bringt Kuchen mit, du musst dich jetzt also nicht in der Küche verbarrikadieren, um ein Fünf-Gänge-Menü zu zaubern.“
„Das hatte ich auch gar nicht vor. Jetzt ist ja schon Mittag, da werde ich nichts besonderes machen und morgen wird es wohl genauso aussehen. Also muss ich nicht mehr vorbereiten als ich es sowieso tue.“
„Pa sagt übrigens, dass die Pfannkuchen so lecker waren. Wenn Pieter nicht alle mitgenommen hätte, hätte er um Mitternacht gerne ein paar davon gegessen“, erzählt Cokko und kassiert dafür einen freundschaftlichen Stoß.
„Du sollst doch nicht alles verraten!“, schimpft Douglas spaßeshalber.
„Soll ich welche backen?“, fällt mir ein, aber ich warte nicht auf eine Antwort. Wenn er keine Pfannkuchen will, esse ich sie eben alle alleine oder rufe Pieter an, dass es hier etwas abzuholen gibt. Oder Miloš. Der hat noch nie abgelehnt, wenn ich ihm ein Erzeugnis meiner Küche angeboten habe.
So weit kommt es heute jedoch nicht, denn Cokko schließt sich begeistert an. „Die kann man nämlich mit allem essen. Voraussetzung dafür ist natürlich, dass du keinen Zucker in den Teig tust.“
Douglas lacht. „Warum kennst du dich auf einmal mit solchen Feinheiten aus? Soll das etwa heißen, dass du unter die Köche gegangen bist?“
„Jeremy kocht ständig irgendwelche Sachen. Du müsstest das mal sehen. Mitten in der Nacht kriegt er Hunger auf Bratkartoffeln mit Rührei. Und statt bis zum Morgen zu warten, steht er einfach auf und macht sich welche. Und weil er im Winter nichts kochen konnte, musste ich das ja übernehmen. Irgendwann ist dann was hängen geblieben“, gibt er zu.
Ich habe mich gerade an den Herd verfügt und will meine Rechtfertigung nicht durch die halbe Wohnung brüllen. Mein Brüderchen übertreibt! Von wem er das wohl abgeguckt hat?
In Rekordgeschwindigkeit befördere ich fünf Pfannkuchen auf die leeren Teller, die mir in die Küche gebracht werden, dann gönne ich mir den letzten selbst.
„Ausgesprochen köstlich!“, sagt Douglas mit Betonung auf jeder vorhandenen Silbe. „Allerdings bin ich jetzt so satt, dass ich mich eigentlich schon wieder schlafen legen könnte.“
„Daraus wird nichts“, stellt sein Sohn ihn vor vollendete Tatsachen. „wir gehen nämlich jetzt zu Pieter, leihen ein Fahrrad aus und dann zeigen wir dir die Stadt.“

159

Weil die Werkstatt mit Tisch und Laubsäge und einem dritten Bett egal welcher Form wirklich nicht mehr begehbar gewesen wäre, habe ich mich für die Zeit, die Douglas bei uns ist, bei Mommi einquartiert. Cokko hat das zwar übertrieben gefunden und gesagt, dass sein Pa nicht einverstanden sein werde, aber ich habe mich nicht überreden lassen. Ich habe angedeutet, dass er und sein Pa sicher ein paar Stunden ohne mich zurecht kommen werden, vielleicht hätten sie sich ja ein oder zwei Dinge zu erzählen, die mich nichts angehen.

Morgen habe ich noch einmal Arbeiten vor mir, bevor auch für mich das Wochenende beginnt, aber ich denke, dass trotzdem noch ein bisschen Gelegenheit ist, um mit Mommi zu quatschen, sofern sie noch nicht ins Bett gehen will.
Sie denkt offenbar gar nicht daran. „Und, wie ist er?“, empfängt sie mich schon an der Tür.
„Wunderbar“, sage ich und betrete die Wohnung. In der Küche mache ich mir einen verdauungsanregenden Tee, weil mir die Pfannkuchen wie Steine im Magen liegen. Hoffentlich haben Pieter und Becks mehr Spaß daran.
Dann erst setze ich mich zu Mommi ins Wohnzimmer und lasse mich ein bisschen genauer zu meiner ersten Begegnung mit Douglas aus. „Und er sagt, dass ich aussehe wie Lucy. Stimmt das eigentlich? Ich kann mir das gar nicht vorstellen, ich bin ja keine Frau.“
Mommi hebt die Schultern. „Schon möglich, dass ihr euch ähnelt, ich kann das nicht gut sagen. Ich habe sie sehr lange nicht gesehen. Douglas hat sie geliebt und sie ist erst vor relativ kurzer Zeit von ihm gegangen, da schaut man auf andere Dinge.“ Sie holt ein paar Fotoalben aus dem Regal im Schlafzimmer. „Komm, wir gucken mal nach.“
Wir wollen ja eigentlich nur ein paar alte Aufnahmen von Lucy angucken, aber wie es so geht, kommen wir ins Erzählen und Zuhören und von einem Thema zum nächsten. Daher ist es schließlich ziemlich spät, als mir erstmals meine werdenden Eltern in die Finger geraten. (74)
Gerrit ist ungefähr 17 und macht Faxen. Frühreif hin oder her, er hat früher auf allen Fotos Grimassen gemacht, außer, man hat ihn in einem unerwarteten Moment geknipst.
Lucy ist demnach ungefähr 20 und mir entfährt ein verblüfftes „Oh.“ Würde diese junge Frau auf dem Foto heute 20 sein, könnte man sie für meine Schwester halten! Ihr Gesicht ist genau wie meins hager und gebräunt und mittendrin sitzt eine gerade Nase. Ihre Haare sind lang (gold-dunkel-honig-blond, fällt mir dazu nur ein) und wehen ihr mit der leichten Naturwelle um den Kopf und die schmalen Schultern. Es ist mein Gesicht in weiblich, alles ist ein bisschen kleiner und weicher und nicht so eckig wie bei mir.
Das Buntfoto ist an einer Wasserfläche aufgenommen worden. Lucy blinzelt gegen das spiegelnde Licht. Ich hole aus der Enkelgalerie von Mommis Nachttisch das Foto von mir. Es ist vom vergangenen Sommer, ich habe noch lange Haare. Ich halte sogar den Kopf so schief wie sie.
„Donnerwetter“, sagt Mommi und erinnert sich genau, „Das war ein halbes Jahr vor deiner Geburt. Ich erinnere mich dunkel, damals war unsere Welt noch in Ordnung. Unmittelbar danach hat Gerrit uns darüber aufgeklärt, dass wir Großeltern werden. Da war aber was los.“
„Kann ich das Foto haben?“, frage ich.
„Sicher, mein Junge.“ Sie streichelt mir über die Wange. „Und jetzt ist es bestimmt besser, wenn du schlafen gehst. Morgen musst du früh raus und guck, wie spät es schon ist.“

In der Mittagspause gehe ich mit dem Bild zum nächstbesten Fotogeschäft. Lang und breit und ebenso geduldig erkläre ich den beiden jungen Typen, dass ich das Bild vergrößert haben möchte, aber nur die eine Hälfte, nämlich die mit der Frau. Sie erklären mir im Gegenzug, dass es günstiger für mich wäre, wenn ich das Negativ auftreiben könnte. Ich versichere ihnen, dass ich das Negativ ganz bestimmt nicht mehr auftreiben kann. Sie informieren, dass das Aufnahmeverfahren „Foto vom Foto“ zu Lasten der Bildqualität gehen wird. Schließlich schaffen wir es aber, uns auf das Bildformat zu einigen und ich erfahre, dass sie mich anrufen werden, wenn das Foto fertig ist, denn sie wissen nicht, wie lange das Ganze dauern wird.

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Allerdings habe ich keine Zeit, über solche Dinge nachzudenken, denn wenn ich nicht gerade umarmt werde oder selber umarme, erzählt Douglas von der Reise oder Cokko und ich fragen ihn dazu aus. Da das meiste davon zugleich geschieht, versteht eigentlich keiner was.
Weil ich irgendwann andeute, wir könnten gemütlicher zuhause durcheinander reden, nehmen beide McLachlans jeder ein Gepäckstück, sodass für mich nichts mehr übrig bleibt und wir streben das Parkhaus an.
Während der Heimfahrt reden wir nicht viel und erst recht nicht zugleich. Ich bin ganz gut mit Autofahren beschäftigt, sodass ich nichts zu einer Unterhaltung beitragen könnte, würde mir etwas einfallen. Douglas sitzt hinten neben Cokko und guckt oft aus dem Fenster. Manchmal sagt er „Wie hübsch“ oder „Davon hat sie auch erzählt“.

Stühle waren in unserem Haushalt in ausreichender Anzahl vorhanden, aber wir haben einen Tisch besorgt, an dem wir alle sitzen können, ohne uns ständig mit den Ellbogen oder sonstigen Körperteilen in die Quere zu kommen. Der steht in der Werkstatt, die nun eher eine Wohnstatt ist, denn zum Arbeiten ist kein Platz mehr. Cokko verteilt Teller, Bestecke und Gläser, während ich Salat mache und der vorgegarte Auflauf wieder erhitzt wird. Dafür habe ich mich richtig ins Zeug gelegt.
Ich habe Stunden in der Küche verbracht und erst einen Stapel Pfannkuchen gebacken, jeden einzeln mit einer dünnen Schicht Blattspinat versehen und aufgerollt und in eine große Glasform gelegt. Über das Kunstwerk habe ich eine (meine beste) Rahmsoße mit Muskat und vielen anderen guten Zutaten gegeben. Das Härteste beim ganzen Kochen und Vorbereiten war, dass ich mich ständig furchtbar am Riemen reißen musste, um nicht schon vorher alles aufzuessen.
Pro Person habe ich vier Pfannkuchen berechnet, aber ich fürchte, dass ich mich gründlich vertan habe. Es sieht verschwindend wenig aus, als ich die Auflaufform endlich aus dem Ofen hole.
Einhellig beschließen wir am Tisch, dass der Auflauf noch viel zu heiß ist und wir erst den Salat essen sollten, um uns nicht die Münder zu verbrennen. Überhaupt ist das viel gesünder, aber dazu sage ich besser nichts, ich will ja nicht gleich als Gesundheitsapostel dastehen.
Dann begeben wir uns daran, den Spinatpfannkuchenberg zu beseitigen und es stellt sich heraus, dass ich mich tatsächlich verrechnet habe. Cokko verspeist zweieinhalb Rollen, Douglas ist schon nach zweien gut bedient und isst nur den halben auf, weil es ihm so schmeckt, und ich bekomme nach der ganzen Aufregung auch nur zwei herunter.
Wer soll den Rest essen?
Doch kaum habe ich den Gedanken zu Ende gedacht, klingelt es an der Tür und Pieter steht im Hausflur! Der bislang treueste Verehrer meiner Kochkünste! Er gesteht mir, dass er weiß, dass wir heute Besuch haben und auch gar nicht reinkommen will, um uns nicht zu stören, aber dass er überhaupt nichts mehr im Kühlschrank hat, und jetzt ist Becks gekommen, ob ich vielleicht…?
Scheinbar bringt ihn diese Frau ziemlich durcheinander. Es ist schön, dass Pieter endlich noch einmal so hormonverwirrt in der Gegend herumläuft. Ich gönne ihm das von Herzen.
Mit den Frauen vor Becks hat er viel Pech gehabt. Denen ging es nur um seine Muskeln und sein fesches Aussehen. Ich habe nicht viel Ahnung von Frauen, aber offenbar gehen viele davon aus, dass so gutaussehende Kerle nur kurze Romanzen suchen.
Ich vermache ihm den Rest Auflauf und geleite ihn unter seinen Preisungen meiner Großzügigkeit das Treppenhaus hinab zur Haustür. Ich schärfe ihm ein, mir die Form unbeschädigt zurück zu geben (eigentlich verleihe ich nie Kücheninventar, ich hänge ziemlich an dem Kram) und verabschiede ihn dann.
Als ich zurück in der Wohnung bin, sind Vater und Sohn in eine Unterhaltung über ein mir unbekanntes Thema vertieft. Wie immer beim kanadischen Englisch verstehe ich fast gar nichts. Sie wechseln zwar sofort die Sprache, aber ich glaube, ich sollte jetzt gehen.

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Im Moment arbeitet sie als Fassadenkletterin für eine Reinigungsfirma, die sich auf große Bürogebäude spezialisiert hat. Dieser Job bringt es mit sich, dass sie oft eine halbe Woche irgendwo unterwegs ist. Davor ist sie bei einem Werbeunternehmen beschäftigt gewesen und hat riesige Plakate oder Weihnachtsschmuck an Hochhäusern befestigt.
Später einmal, wenn sie genug Geld beisammen hat, will sie sich als Freeclimbing-Lehrerin selbstständig machen, doch wird das aller Voraussicht nach nicht im Inland geschehen. Hier gibt es einfach zu wenig Berge. Sie schwärmt von den französischen Pyrenäen, dort hat sie in den letzten paar Sommern während der Ferien in einer Kletterschule gearbeitet.
Das ist es vielleicht nicht, was Pieter sich für seine Traumfrau vorgestellt hatte, aber man kann im Leben nicht alles haben. Mit Becks hat er meines Erachtens schon eine ganze Menge auf einmal bekommen.
Man könnte sich über mein Urteil aufregen und einwenden, was ich damit zu tun habe, welche Frau Pieter in sein Herz schließt, aber der Besuch hatte keinen anderen Zweck. Pieter wollte sie Cokko und mir (vor allem aber mir) vorstellen und wir sollten uns in aller Ausführlichkeit beschnuppern. Bei Pieter und mir haben solche Schnuppereinheiten eine langjährige Tradition. Es vereinfacht vieles, wenn die Liebste den besten Freund mag.
Außerdem sagt Pieter zur Junggesellentour nach Dersummeroog zu. Becks scheint wirklich eine nette Frau zu sein, denn sie mault überhaupt nicht herum, warum sie nicht mitkommen darf und so weiter. Sie sagt bloß, dass sie sich dann an diesem Wochenende eine lustige Zeit mit ihren Freundinnen machen wird und damit ist das Thema gegessen.

Und dann, anderthalb Wochen vor Ostern!
Seit Februar versuchen wir schon Douglas’ Besuch bestmöglich zu planen. Man glaubt nicht, wie viele Einzelheiten dabei zu bedenken sind. Und was so alles schief gehen kann! Erst musste er seinen Urlaub verschieben, weil eine Kollegin in seiner Abteilung krank wurde und er sie vertritt, dann war das Sonderangebot der Fluggesellschaft vergriffen und so weiter. Aber jetzt hat es zum Glück endlich geklappt.
Cokko wird umso einsilbiger, je näher der Termin rückt. Es würde mir ebenso ergehen, wenn ich Mommi so lange nicht gesehen hätte. Vermutlich würde ich allerdings alle Leute zuquatschen, bis sie nicht nur Knöpfe an der Backe haben, sondern auch Klaviere, um sie an die Knöpfe zu hängen – anstatt mich in Schweigen zu hüllen, so wie mein Bruder es tut. Aber an irgendeiner Stelle müssen die Unterschiede zwischen uns ja liegen.

Man kann zwar auf komfortable Weise mit der Bahn nach Schiphol fahren, aber weil Douglas nach der Reise über den halben amerikanischen Kontinent sowie den ganzen Atlantik sicher nicht mehr nach viel Umsteigen zumute ist, habe ich von einer Kollegin in der Schule ein Auto ausgeliehen und Cokko die Hinfahrt aufs Auge gedrückt.
Zurück will ich gerne fahren, und den Weg in die heimische Garage findet das Auto bestimmt fast von alleine. Hingegen muss man sich bei der Anfahrt eines fremden Zieles ziemlich konzentrieren, da ist es besser, wenn man sozusagen automatisch Autofahren kann.

Auch wenn das typische Flughafenwetter (Regen wie aus Kübeln und Sturm) heute ausbleibt, verhält sich zumindest mein Körper so, wie er es am Flughafen immer tut: Ich bin furchtbar aufgeregt und muss ständig aufs Klo. Ich habe wirklich keine Ahnung, woran das liegt. Gibt es Flughafenangst? Wenn nein, sollte man in meinem Fall mal überlegen, das Krankheitsbild einzuführen. (73)
Und es ist genau wie zu Jahresende, als ich mit Pieter zusammen Cokko abgeholt habe. Ich komme vom Pinkeln zurück und Douglas ist schon da. Für die Zukunft muss ich mir merken, dass es sinnlos ist, wenn ich jemanden alleine vom Flughafen abholen soll. Zum entscheidenden Augenblick bin ich mit hoher Wahrscheinlichkeit woanders.
Douglas sieht noch besser als auf den Fotos aus, die er mir ja schon in rauen Mengen als Mailanhang oder „anfassbare“ Post zugeschickt hat. Wenn ich eine Frau wäre, würde ich mich auf der Stelle in ihn verknallen.

156

Außerdem bin ich bisher davon ausgegangen, dass dieser bosnisch-serbische Wodkatrinker Eis nur in Würfelform in seinem Lebenswasser kennt. Dass er über so mädchenrosafarbenen Süßkram Bescheid weiß! Ich staune immer wieder.
„Backstubenbuben?“, lautet Simones Idee, und als das kollektive Geräusch der Ablehnung verklungen ist, präsentiert sie einen weiteren Namen: „Jeremy und die Musiker?“
Das kenne ich schon. Alle Leute, die zufälligerweise ein Saiten- oder Sonstwas-Instrument spielen, halten Schlagzeuger für unmusikalische Idioten, die nur stumpf ihre Trommeln bearbeiten. „Keine Diskriminierungen von Minderheiten“, bitte ich.
Simone hat schon wieder eine Idee. „Der Russe und die Tussen?“
Au weia. Das wird ja immer schlimmer.
Miloš bemängelt: „Ich bin kein Russe.“
„Wo kommst du denn her?“, erkundigt sie sich erstaunt. „Sorry, ich dachte nur, dass Miloš ein russischer Name ist.“
„Es ist kein russischer, sondern slawischer Name. Jeremy ist übrigens auch kein Engländer, obwohl „Jeremy“ englischer Name ist.“
„Aber russisch ist doch eine slawische Sprache?“, wundert sie sich und dann fällt ihr noch etwas ein: „Hat dein Name eine Bedeutung?“
Ich gehe dazwischen: „Haben wir uns getroffen, um über Namen zu reden oder um Musik zu machen?“
„Hast ja recht“, sagt sie und lässt endlich meinen Kumpel in Ruhe, der die Bedeutung seines Vornamens nicht mag, weil es immer Verniedlichungen und dumme Kommentare gibt. Miloš heißt nämlich „der Süße“ oder „der Liebliche“, hat er mir mal erzählt, als wir auch gerade bei dem Thema waren. Mein Name kommt vom hebräischen Jeremia und das heißt „den Gott erhöht“. Ich finde das toll.
„Jeder kann ja zuhause überlegen, was einem dazu einfällt. Hauptsache ist, wir machen gute Musik“, sagt Simone.
Dazu muss er noch ein bisschen Senf geben: „Oder wir machen schlechte Musik und haben Spaß dabei.“


dreiundfünfzigstes Kapitel

Manchmal kommt es einem so vor, als würde eine übergeordnete Instanz wie verrückt an den Tasten für Vorspulen und Pause spielen. Erst passiert alles auf einmal. Und dann wieder gar nichts.
Im letzten halben Jahr ist es ungefähr so gewesen.
Erst rauschte Cokko in mein Leben und zog hierher um. Zeitraffer. Dann der Ellbogenbruch. Pause. Dann wieder Zeitraffer: Schlagzeug, Proberaum, Bandgründung und so weiter.
Kann sich das Leben nicht auf eine Geschwindigkeit einigen?

Die Hektik geht nahtlos weiter.
Am Sonntag kehren Pieter und Becks bei uns ein. Ich habe ein großes Menü gekocht und erfreulicherweise ist Becks keine der Frauen, die ihr halbes Leben mit Diäten verbringt und die andere Hälfte damit, grundlos vor sich hin zu fasten. Auch sonst muss ich sagen, dass Pieter eine gute Wahl getroffen hat.
Ihr Name „Becks“ hat übrigens weder mit deutschem Bier noch mit englischen Fußballern zu tun, erklärt sie mir. Es ist die wohl kürzeste Kurzform von Rebekka, denn „Becki“ hat sie als Kind immer geheißen, sagt sie, und mit dem Erwachsenwerden sei einfach ein anderer Name dran gewesen. Sie ist fast so groß wie Pieter und sehr hübsch. Sie hat hellblondes Haar und blaue Sternchenaugen, ist braungebrannt und macht einen zupackenden Eindruck. Ebenso wie er treibt sie gerne Sport.

155

Das klingt nach Zickenalarm. Hoffentlich kriegen die beiden sich wieder ein, wenn sie sich vielleicht ein bisschen kennen gelernt haben. (72) Sonst wird das nichts in dieser Besetzung. Ich gehe lieber mal dazwischen. „Bevor ihr euch die Köpfe heiß redet, lasst uns doch einfach ausprobieren, ob es klappt. Wie wär’s, wenn wir anfangen?“
In meiner Eigenschaft als Bandgründer scheine ich eine gewisse Autorität zu innezuhaben, denn die beiden geben ihr Wortgefecht auf und nehmen die Instrumente zur Hand.
Ich lasse mich auf dem rosafarbenen Höckerchen nieder und zähle vor.
„Moment, Moment“, unterbricht Lisanne mich. „Was willst du denn spielen?“
Miloš gibt die Frage zurück: „Hast du Groove?“
Sie lacht. „Na klar hab ich Groove, jede Menge sogar.“
„Wenn du richtigen Groove hast, ist es gut, wenn du Pop spielst, fliegst du raus.“
„Ich steh auf Kerle mit klaren Ansagen“, witzelt sie, „So kann ein Mädchen nicht viel falsch machen. Zumindest gibt es dann keine dummen Überraschungen.“
Ich fange wieder mit dem Takt an und Simone steigt mit einer melodischen Akkordfolge ein. Miloš schließt sich mit seinen üblichen, leicht treibenden Bassläufen an und Lisanne muss sich nur noch die richtige Tonhöhe aussuchen. Ich weiß nicht, wie viel der Bandgründer in stilistischen Fragen zu sagen hat (es sollte immerhin eine Mehrheitsentscheidung sein), aber ich finde, dass unsere Musik ziemlich gut klingt.
Als die Improvisation mit ein paar letzten Seufzern des Akkordeons endet, grinst Miloš sie an und sagt: „Es ist ein bisschen langsam, aber von mir aus, wir spielen zusammen.“
„Na, da hab ich ja Glück“, frotzelt Lisanne.
Es ist eine Freude zu sehen, wie die beiden sich mögen. Wird da vielleicht eines Tages mehr draus? Ich beschließe die Augen offen zu halten. „Simone?“, erkundige ich mich.
Sie zuckt mit den Schultern. „Schlecht war es nicht, aber ich hatte mir das eigentlich anders vorgestellt. Noch ‘ne Gitarre oder so.“
„Aber wir haben nun mal nicht noch ‘ne Gitarre oder so. Kann sein, dass wir noch eine finden, aber im Moment musst du ohne klar kommen“, erkläre ich, während ihre 33,3% unaufhaltsam zu 25% schrumpfen. „Und du, Lisanne? Meinst du, du hältst es mit uns aus?“
Sie nickt. „Bestimmt. Nur hast du jetzt immer noch keinen Sänger. Ich gehe ja mal davon aus, dass du keine Instrumentalband aufmachen wolltest.“
„Simone, wie wärs mit Singen?“
„Auf keinen Fall! Ich kann nicht singen. Das will keiner hören, wenn ich singe!“
„Miloš?“
„Wir haben eine klare Abmachung.“
„Welche denn?“, will Simone gleich wissen.
Bevor ich Lisanne fragen kann, sagt sie schon: „Ich hab sehr lange nicht Akkordeon gespielt, zum Stehen ist es noch viel zu anstrengend. Ich muss im Sitzen spielen. Aber dann kann ich logischerweise nicht singen.“
Schicksalsergeben brumme ich: „Na ja, wenn’s sein muss“, und auf einmal sind wieder mengenweise freundliche Blicke auf mich gerichtet. „Aber“, stelle ich Bedingungen, „Wenn ich einen Sänger finde, nehme ich ihn sofort in die Band auf, ohne euch vorher zu fragen und im Refrain machen alle mit, klar?“
„Na logo“, sagt Simone. „Welche Abmachung habt ihr?“
Manchmal geht sie mir echt auf den Keks mit ihrer ständigen Nachfragerei. Das weiß ich schon jetzt, obwohl wir uns kaum kennen.
Sie stößt die Luft aus. „Wenn das so ein Geheimnis zwischen euch ist, sagt es halt nicht!“
Lisanne redet von etwas anderem: „Hast du dir schon was überlegt, wie du die Band nennen willst?“
Ich sage „Nö“, und gleichzeitig empfiehlt Miloš: „Himbeereis! Immer wenn ich Schlagzeug angucke, habe ich Hunger auf Eis.“
„Ach, das ist doch Blödsinn“, findet Lisanne. „Himbeereis, das klingt ein bisschen zu sehr nach einer Pop-Band. Ich dachte, das Thema hätten wir hinter uns.“

154

Das am zweiten Aprildienstag stattfindende Treffen oberhalb Stevens Backstube wird in den großen Werken über die niederländische Musikgeschichte vermutlich keine Erwähnung finden, aber für mich ist es eine wichtige Sache: Zum ersten Mal treffen Simone und Miloš aufeinander. Wir haben uns in den vergangenen drei Wochen zwar öfters gesehen, aber dann ging es nie um Musik, sondern um meinen Bruder. Gnädig wie ich bin, habe ich abgewartet, bis die Hormone wieder in erträglichen Bahnen fließen, bevor ich andere Dinge von Simone fordere.
Als ich die beiden gerade bekannt gemacht habe, geht die Tür auf und Lisanne steht mit einem unhandlichen schwarzen Koffer im Raum. Sie ist außer Atem und schnauft: „Hallo zusammen! Hoffentlich bin ich nicht zu spät?“
Verdattert frage ich: „Was machst du denn hier?“
„Deine Band probt, ich will mitmachen – was ist daran so erstaunlich?“
„Aber woher weißt du denn, dass wir uns hier treffen und heute und überhaupt?“
Sie beginnt herzhaft zu lachen. „Manchmal begegnet man in der Stadt netten Leuten, die einem solche Sachen mitteilen.“
„Und wer, zum Beispiel, hat dir solche Sachen mitgeteilt?“
„Dein Bassist, zum Beispiel“, grinst sie.
Der Bassist grinst ebenfalls.
„Äh, ja“, mache ich überrumpelt, sammele mich und stelle weiter vor: „Das ist Lisanne und das ist Simone. Simone kommt aus Hoorn und Lisanne kennen wir aus der Jesus-Pop-Band.“ Dann will ich wissen: „Was hast du da mitgebracht?“
Lisanne öffnet die Kiste und heraus kommt ein Akkordeon. Sie holt sich einen der Stühle heran und nimmt mit dem Instrument auf dem Schoß Platz, dann schaut sie sich um und fragt: „Kann es losgehen?“
Miloš’ Augen haben einen feuchten Glanz bekommen. Na klar, denke ich, die Hälfte des jugoslawischen Liedguts benötigt ein Akkordeon!
Die Gitarristin beobachtet das skeptisch. „Was willst du mit der Quetschkommode?“, fragt sie mit deutlich genervtem Unterton. Ich werde ihr das mit ihren 33,3% Stimmanteil noch mal vorrechnen müssen.
„Vielleicht Akkordeon spielen? Oder glaubst du, ich wollte damit Kaffee kochen?“, erwidert Lisanne schnippisch.
„Ich wusste gar nicht, dass du außer Klavier auch noch andere Instrumente spielen kannst“, sage ich. Vom Klavier zum Keyboard ist es kein weiter Weg. Ich denke mal, wenn man so gut Klavierspielen kann wie Lisanne, ist Keyboarden ein Klacks. Andersrum dürfte es nicht so einfach sein.
„Ich kann auch Triangel und Maultrommel spielen, auf dem Kamm blasen und viele heimische Vogelarten nachmachen. Eelco meinte, in der Jesus-Pop-Band wäre kein Platz dafür, deswegen komm ich mit meinen ganzen exotischen Musikvorstellungen zu dir“, lacht sie.
„Exotische Musikvorstellungen, soso“, mache ich, „da bin ich ja mal gespannt.“
Simone ist davon nicht besonders angetan. „Wir wollen aber Rockmusik machen, ich glaube nicht, dass wir–“
Lisanne unterbricht sie: „Hör dir das doch erst mal an! Ich habe nicht gesagt, dass ich meine Triangel auch auspacken will! Außerdem sollte das ein Witz sein, denkst du echt, ich will hier rumklingeln?“

153

Es ist kein gutes Segelwetter, weil der Wind in unregelmäßigen Böen der (geschätzten) Stärke drei bis vier aus allen Richtungen zwischen Nord und West daher gepfiffen kommt, aber das ist genau richtig für mich. Allein auf der weiten See kreuze ich hin und her und lasse die Kaap Hoorn vom Wind treiben und fahre Schlangenlinien, ganz egal, Hauptsache, der Wind pustet mich kräftig durch. Es ist großartig!
Ich könnte schreien!
Nein, ich könnte nicht nur. Wenn ich nicht will, dass mir als nächstes die Lungen zerplatzen, muss ich es tun. Ich nehme die Kaap Hoorn aus dem Wind, damit sie nicht kentert und warne Miloš mit einem restlichen Zipfel Selbstkontrolle vor, dass ich mich mal kurz ausklinken muss.
Ich springe auf dem Deck umher und schreie meinen Frühlingsschrei, genau wie Ronja Räubertorte und Birk Borkasohn es getan haben, als der lange Winter auf der Matthisburg vorbei war und sie wieder in der Bärenhöhle eingezogen waren. Ich schreie und schreie und kann nicht genug Luft holen, um sie sofort wieder hinaus zu lassen.
Frühling, ich hab dich so vermisst! Du fühlst dich wunderbar an! Ich liebe dich!!

Irgendwann habe ich mich aber tatsächlich genug gefreut (vorerst) und setze mich ziemlich atemlos zu Miloš.
Er schaut mich an und grinst übers ganze Gesicht. Allerdings er sieht nicht aus, als würde er mich auslachen. Trotzdem frage ich ihn, warum er so guckt.
„Ich habe gelernt“, ist alles, was ich aus ihm herauskriegen kann.
„Worüber hast du was gelernt?“, will ich wissen, aber er sagt nichts weiter. Schließlich, als mein Nachfragen gar nicht nachlässt, bequemt er sich zu einer ausweichenden Antwort: „Wenn ich niederländische Worte hätte, ich würde dir nicht sagen.“
Das ist gemein.
Aber es kann mir nicht die Laune versauen! Hurra, der Frühling ist da!!

Wir kommen erst zurück, als es schon zu dunkeln beginnt. Miloš sagt, dass er Hunger hat und schleppt mich in eine Kneipe in der Altstadt, wo er mir Fritten und vegetarische Frikandel und Backfisch und noch mehr Fritten ausgibt, bis ich fast platze.
Als ich wieder an normale und nicht-essbare Dinge denken kann, fällt mir auf, dass es reichlich ungewöhnlich ist, dass Miloš einfach so Geld für Essen ausgibt, denn vom Geld hat er meist nur sehr wenig und das Essen könnte er zuhause oder bei uns günstiger bekommen. Ich lade ihn im Gegenzug ein, mit zu mir nach Hause zu kommen, aber er lehnt ab. Mit der Begründung, er habe noch zu tun, verabschiedet er sich und trabt fort. Das ist noch viel ungewöhnlicher, denke ich. Normalerweise lässt er sich nicht zweimal bitten, wenn Cokko oder ich ihn zu uns bitten.
Aus dem soll mal einer schlau werden. Ich weiß nicht einmal, ob er demnächst wieder mitkommen oder lieber an Land bleiben will – auch wenn er nicht seekrank geworden ist.

Ich fahre nach Hause, wo Cokko mich erleichtert begrüßt. „Ich hatte mir ein bisschen Sorgen gemacht, weil es so lange dauerte. War es schön?“, fragt er und unterbricht mich, bevor ich mich dazu äußern kann: „Lass nur, sogar ein Blinder mit Krückstock merkt, dass es dir gefallen hat.“
Mein Bruder kennt komische Vergleiche! Warum muss der arme Blinde auch noch einen Krückstock haben, hat er nicht schon genug damit zu tun, dass er blind ist? Aber ich halte mich nicht länger damit auf. „Du hast wirklich was verpasst. Es war irre!“, mache ich ihm eine lange Nase. „Miloš war übrigens auch mit. Aber er musste nach Hause, sonst hätte ich ihn mitgebracht.“
Dabei fällt mir ein, dass es ja schon fast acht Uhr abends ist, weswegen er nach Hause gelaufen sein wird. Wie konnte mir das entgehen? Vielleicht hat er durch meine Trödelei einen Termin verpasst? Es war schließlich vorher nicht abzusehen, wie lange wir unterwegs sein würden.
Aber das hätte er mir immerhin sagen können, denke ich. Ach, egal, tue ich die Gedanken dann ab. Er wollte nicht drüber reden, also werde ich es durch meine chaotischen und verstürmten Überlegungen auch nicht herausbekommen.
Den Rest des Abends verbringe ich damit, Cokko mit unsinnigen Sätzen die Ohren voll zu quatschen, aber er erträgt es mit bewundernswerter Geduld. Er sagt, dass er froh ist, dass ich immerhin wieder stillsitzen kann.
Am Freitag werde ich erneut lossegeln und außerdem eine Menge zu essen mitnehmen und mich das ganze Wochenende auf dem IJsselmeer herumtreiben. Das wird toll.

152

Wäre ich böse – was würde das bringen? Ich winke ab. Wo die Liebe hinfällt, da wächst kein Gras mehr. Für Cokko freue ich mich, ich hatte mir den Abend nur ein bisschen anders vorgestellt. Aber nun ja! Da kann man nichts machen.
Ich gehe zum Telefon und wähle Miloš’ Nummer. Dort ist nach wie vor keiner zuhause.
Also rufe ich Pieter an. Er geht dran, aber nur, um mir mitzuteilen, dass es gerade echt schlecht ist. Aus dem Hintergrund ruft mir Becks einen „Schönen Gruß!“ zu.
Hat Lisanne Lust, ihren Abend mit mir zu verbringen? Ich erfahre von ihrem Anrufbeantworter, dass sie nicht da ist, aber möchte ich vielleicht eine Nachricht hinterlassen?
Nein, möchte ich nicht. Ich ziehe Jacke und Schuhe an und gehe aus der Wohnung.

Kreuz und quer fahre ich durch die Stadt, stelle fest, dass Mommi natürlich nicht zuhause ist, und frage mich allmählich, ob ich irgendwas verpasst habe. Miloš kriegt eine allerletzte Chance und nutzt sie nicht. Scheint so, dass er wirklich nach Alkmaar gefahren ist. Also kehre ich in meiner Lieblingskneipe ein, trinke ein Bier und noch eins, bis ich mich ausreichend bettschwer fühle und begebe mich dann genau da hin.
Dieser Tag soll ohne mich zusehen, wie er zu Ende kommt.


zweiundfünfzigstes Kapitel

Mittlerweile ist der Frühling sichtbar über Stadt und Land herein gebrochen.
Die steigenden Temperaturen und die länger werdenden Tage machen mich außerordentlich unruhig. Wie ein Zugvogel bin ich kaum noch auf einem Fleck festzuhalten. In jeder freien Minute bin ich draußen unterwegs, wobei ich mehr als einmal bis auf die Haut nass werde – trotz Regenkleidung. Das ist jedoch alles nur die Vorbereitung, denn Frühling heißt: Ich kann wieder in See stechen!
Meine Unruhe wird so schlimm, dass Cokko (71) mich eines Tages aus der Wohnung wirft. Wenn Segeln das einzige sei, das mich glücklich machen kann, dann soll ich das tun, sagt er, und schiebt mich ins Treppenhaus ab. Er gibt mir zwar alle Sachen, die ich haben möchte, aber er lässt mich nicht wieder in die Wohnung kommen. Das werde ich mit ihm demnächst auch so machen, wenn er mir auf den Geist geht.
Glücklicherweise habe ich die Kaap Hoorn schon neulich aus ihrer Winterruhe geweckt. Dafür wäre jetzt keine Zeit – wer weiß schon, wie stark der Frühlingsbeginn dieses Jahr ist! Jederzeit könnte es der Winter auf eine Kraftprobe ankommen lassen wollen.
Auf dem Weg zum Anleger begegnet mir Miloš, der aussieht, als wolle er gerade los joggen. Der Sport zusammen mit Cokko reicht ihm nicht, außerdem hat er ja viel mehr Zeit als der. Also läuft er am Tag so um die zehn Kilometer und bei Schönwetter geht er auch schwimmen. Schönwetter ist fast immer.
Er will wissen, wohin ich so eilig unterwegs bin. Als er es weiß, will er unbedingt mitkommen. Ich habe ihm schon viel von der Kaap Hoorn erzählt und er hat sie auch ein paar Mal betreten, doch mitgefahren ist er noch nie.
„Wirst du seekrank?“, frage ich ihn am Visserdijk.
Miloš ist neben meinem Fahrrad hergelaufen und ein bisschen aus der Puste. „Wie soll ich das wissen?“
Stimmt. Jemand, der noch nie auf See war, weiß nicht, ob er seekrank wird. Wir werden es ausprobieren. Wenn er anfängt, grün zu werden, kehren wir eben um.

Das IJsselmeer ist eine kabbelige Fläche voller kleiner übermütiger Wellen; oben drüber liegt eine graublaue Zeltplane voller Wolken, die alle schnell irgendwo hinwollen.

151

„Weil es hier ziemlich ungemütlich ist. Für längere Aufenthalte bist du jedenfalls nicht besonders gut eingerichtet. Zumindest ein paar Stühle wären nicht schlecht.“
„Wir können ja zu mir fahren, wenn du noch ein bisschen quatschen willst“, biete ich an.
Natürlich hat sie Recht, was die Ausstattung des Raumes betrifft. Aber Miloš und ich hatten bisher anderes zu tun, als darauf zu achten. Das einzige, was wir nach den Instrumenten noch hergeschafft haben, ist ein ganzer Turm von Mineralwasserkästen, den wir jetzt Flasche für Flasche leersaufen werden. Das kann nicht lange dauern, denn hier ist es ja immer schön warm. Ich werde demnächst mal in der schuleigenen Rumpelkammer nach ein paar Stühlen und anderem Inventar suchen, das keiner mehr haben möchte. Das Schlagzeug zum Beispiel steht besser, wenn es auf einem Teppich oder einer anderen rutschsicheren Unterlage aufgebaut ist. Derzeit steht es auf dem hellgrauen Fußbodenlack, mit dem die ganze Etage gestrichen wurde.

Cokko sitzt gerade am Computer und chattet mit seinem Pa. Damit wir nicht stören, lassen wir uns in der Küche nieder. Da ist es jedenfalls gemütlicher als im Proberaum. Mein Kühlschrank enthält noch ein paar leckere Sachen und es gibt auch mehr als Wasser zu trinken.
Bald weiß ich, dass sie mit einer Freundin zusammen in Hoorn wohnt und beide in einem Reisebüro arbeiten; dort haben sie sich kennen gelernt. Die Freundin ist glücklich mit dem Job, sie hingegen wird im Sommer ein Studium der Tiermedizin beginnen. Sie ist 22 Jahre alt (mit meiner Schätzung lag ich überraschend nah dran) und ihre Oma, die eine Zuydersche ist, hat sie schon einmal an eine Band vermittelt. „Das war diese Kirchenband, ich hab aber vergessen, mit wem ich da zu tun hatte.“
„Wahrscheinlich mit Eelco.“
„Ach ja, genau. Der wollte mich nicht, er meinte, er hätte schon einen Gitarristen. Ich hab ihm trotzdem ein Demo gegeben, weil es ja auch Bands mit zwei Gitarren gibt, aber er hat gesagt, es wäre nicht nötig, dass ich zu einer Probe komme.“
Typisch Eelco. Er kann es nicht ausstehen, wenn ihm einer reinredet. Wenn nun so eine hergelaufene Gitarristin kommt und behauptet, ein guter Musiker zu sein, ist er aus Prinzip erst mal dagegen.
„Woher kennst du diesen Eelco?“, unterbricht Simone meine Gedanken.
„Ich war auch in der Jesus-Pop-Band, aber ich bin rausgeflogen, weil ich für Eelcos Empfinden zu selten zu den Proben gekommen bin. Vielleicht solltest du es da jetzt noch mal versuchen, Eelco ist nämlich seit meinem Abgang auch seinen Bassisten quitt und die Neuen haben’s wohl musikalisch nicht so drauf.“
„Ach, und dieser Bassist ist dein Kumpel?“
„Richtig.“
Das mit der einvernehmlichen Bandgründung könnte ein bisschen schwierig werden, denn Simone macht melodischen Soft-Rock und Miloš und ich haben es gern ein bisschen härter und zügiger, aber wer sich den Aufgaben des Lebens nicht stellt, wächst nicht an ihnen. Wie ich Miloš kenne, macht er auch mittelharten Rock’n’Roll, wenn er das Ganze mit mir in einer Band tun kann. Und außerdem baue ich mir lieber jetzt eine Band auf, die mit der Zeit noch ein paar Personalwechsel erlebt oder erleidet, als dass ich warte, bis alle perfekt zueinander passen. Dann werde ich warten müssen, bis ich in den Himmel komme. Und ob dort alle nach meiner Pfeife tanzen wollen, ist ja auch noch fraglich.

Jetzt gesellt sich Cokko zu uns in die Küche. Nach dem Chatten ist er oft ziemlich still und so auch heute, aber ich finde es nett, dass er trotzdem zu uns kommt. Er quetscht sich mit dem Klappstuhl zwischen mich und die Wand, sagt seinen Namen und erfährt den unseres Gastes. Sie lächeln sich an und dann ereignet sich eine Naturgewalt: Auf einmal fangen die beiden wie die Weltmeister an zu flirten. Hat man so was schon mal erlebt!
Simone lächelt Cokko an und Cokko lächelt Simone an, dabei reden sie Zeug, das immer unsinniger wird. Längst scheinen sie vergessen zu haben, dass ich mit im Raum sitze. Als ich aufstehe, um die Küche zu verlassen, erwachen sie aus ihrer „Trance“ und Simone sagt zerknirscht: „Tschuldigung, Jeremy, eigentlich war ich ja wegen dir gekommen … sei bitte nicht böse, ja?“

150

„Fang mal an zu spielen, was dir in den Kopf kommt“, weise ich sie an, um zu sehen, ob wir denselben Groove haben. Groove ist eine total wichtige Sache bei uns Musikanten. Wer keinen hat, ist schlecht dran. Groove ist fast wichtiger als ein Instrument.
Nach ein paar Takten steige ich vorsichtig in ihre Improvisation ein und richte mich dabei ganz nach ihr. Das klappt ganz gut.
Dann übernehme ich den Rhythmus, um zu sehen, ob sie sich auch auf mich einstellen kann: darum geht es hier. Erst klingt es fürchterlich, weil wir eben nicht zusammen spielen, aber dann kriegt sie die Kurve und macht mit. Irgendwann wird es ihr aber zu hektisch.
„Puh“, macht sie, als ich aufgehört habe zu trommeln, „was soll das sein, was du da häm­merst? Eine Nähmaschine bei maximaler Geschwindigkeit?!“
„Mit Nähmaschinen kenne ich mich nicht aus“, sage ich.
„Spielst du immer so schnell?“
„Nein, natürlich nicht. Aber ich wollte wissen, wie schnell du spielst.“
„Aha“, macht sie, „und wie gefällt es dir?“
„Du hast erst die Hälfte vom Test hinter dir“, weiche ich aus. Wenn Miloš hier wäre, wäre sie jedenfalls durchgefallen. Was uns beide betrifft, ist sie zu früh ausgestiegen aus dem Tempotest. Aber vielleicht hat sie andere Qualitäten, mit denen sie uns überzeugen kann.
Ich habe ein Heft, in dem viele Anbetungslieder stehen und das habe ich in ungefähr drei Stunden am Kopierer der Schule vervielfältigt. In meinem wie üblich fast grenzenlosen Optimismus habe ich neulich fünf Exemplare hergestellt. Eine liebenswürdige Unterrichtshelferin, deren Job eigentlich andere Dinge sind, hat mir die Blätter zusammen gebunden und in feste Plastikhüllen gesteckt, und jetzt hat die werdende Band eine Leihbibliothek von fünf schönen Liederheften und einem völlig zerfledderten Exemplar (das ist meins).
Ich gebe ihr eins der Hefte, „Guck mal nach, was du kennst“, und sie blättert es auf. Gleich das zweite, „You are welcome“, das wir auf der Melodie eines Klassikers der Guns’n’Roses spielen, ist ihr geläufig. Ich zähle an und dann rocken wir durch das Lied. Das funktioniert schon viel besser als die Improvisation.
Deswegen eröffne ich ihr danach: „Also, wenn es nach mir geht, gehörst du zur Band.“
Das freut sie sichtlich. „Wie weit geht es denn nach dir? Wie viel hat dein Kumpel zu sagen?“, möchte sie wissen.
„Solange eine Demokratie aus zwei Leuten besteht, hat jeder die Hälfte zu sagen“, rechne ich ihr meinen Stimmanteil vor. Das ist mir fast das wichtigste beim Projekt Bandgründung. Eelco hat vieles im Alleingang entschieden und dann die Band vor vollendete Tatsachen gestellt. Das stinkt mir, und Miloš wird das auch nicht mehr mit sich machen lassen. (70) „Damit sind wir aber noch nicht komplett. Ziemlich sicher ist, dass Lisanne, eine Freundin von uns, noch zur Band dazu kommt, und wenn du einen kennst, der vielleicht zu uns passen könnte, spricht nichts dagegen, dass du den oder die mal mitbringst“, lade ich ein. „Die Musikrichtung ist uns zwar ziemlich wichtig, aber dass wir persönlich miteinander klar kommen, ist noch ein bisschen wichtiger.“
„Okay, dann guck ich mich mal um“, verspricht sie.
„Da fällt mir ein: Schlagzeuger und Bassisten brauchen wir natürlich nicht mehr, egal wie gut sie zu uns passen. Die haben Pech.“
Sie lacht, „Das dachte ich mir. Weißt du vielleicht schon ungefähr, wann ihr … ähm, wir Probe haben?“
„Nein. Miloš und ich–“
Wie heißt dein Kumpel?“, unterbricht sie.
„Miloš“, wiederhole ich und bringe meinen Satz zu Ende: „Wir treffen uns sowieso ziemlich oft, und wann Lisanne kann, weiß ich nicht. Da müssen wir dann mal beratschlagen. Hast du vielleicht noch irgendwelche Fragen zur Band oder so?“
„Im Moment nicht“, sagt sie, „Mal was anderes: Hast du den Proberaum schon lange?“
„Nein, wie kommst du drauf?“

149

einundfünfzigstes Kapitel

Montagabends ruft eine Simone bei uns an. Nach kurzer Begrüßung erklärt sie: „Meine Oma hat irgendwann neulich von deiner Oma gehört, dass du für deine Band eine Gitarristin suchst. Da wollte ich mal fragen, ob das noch aktuell ist.“
„Oh ja, das ist noch aktuell. Wenn du hier in der Nähe wohnst, komm doch einfach mal vorbei, was hältst du davon?“, biete ich spontan an.
„Heute ist es mir ein bisschen zu spät. Kannst du morgen Abend um acht?“
„Hm“, mache ich und gehe eilig durch, was ich von Miloš’ Wochenplanungen weiß. Mir fällt nicht ein, was er üblicherweise Dienstagabends tut. „Ich weiß nicht genau, weil mein Kumpel dann ja auch können sollte … also, der spielt Bass“, lasse ich zu ihrer Information einfließen, „Aber komm doch einfach, und wenn er nicht kann, können wir zwei ja schon mal gucken, ob das klappt mit der Musik.“
„Gut, und wo treffen wir uns?“, will sie nun wissen.
„Oh, das ist ganz einfach. Bist du schon mal in Zuyderkerk gewesen? Wenn du in die Stadt rein kommst“, lege ich los und werde unterbrochen: „Es reicht, wenn du mir die Adresse sagst, ich hab ein Navi im Auto.“
Also gebe ich nur Straße und Hausnummer weiter und wir verabschieden uns.

Der Arbeitstag vergeht ohne besondere Vorkommnisse und erfreulicherweise wie im Flug. Ich habe nicht viel außer der möglicherweise entstehenden Band im Kopf. Als ich wieder zuhause bin, rufe ich Miloš an, aber dort nimmt niemand ab. Eine halbe Stunde später versuche ich es wieder und erreiche genauso wenig Leute.
Vielleicht ist er mit seiner Mutter in eine Kneipe in Alkmaar gefahren, die von einem Yugo geführt wird. Miloš hat mir erzählt, dass sie gelegentlich da sind, um mit Landsleuten zu reden. Das dauert dann bis spät in die Nacht. Leider ist diese Kneipe ein schwieriges Thema, denn er würde gerne öfter dorthin fahren, kann es sich aber nicht leisten, und seiner Mutter bekommen die Aufenthalte nicht gut. Sie ist danach besonders traurig und sehnt sich nach der Heimat.

Also fahre ich um Viertel vor acht allein zur Bäckerei. Kurz darauf kommt ein Auto auf den Parkplatz gefahren, das ich nicht kenne. Ich begebe mich nach unten an den Eingang und sehe eine junge Frau aus dem Auto aussteigen. Ich schätze sie auf etwa 24 Jahre (wobei das nicht viel heißt, da ich ja im Schätzen eine Niete bin). Sie ist normalgroß, schlank und macht einen sportlichen Eindruck. Sie hat gebräunte Haut und blondes Haar. „Hoi“, begrüße ich sie, „Ich bin Jeremy. Wir haben gestern telefoniert.“
„Hallo“, macht sie und lacht: „Logischerweise bin ich dann die Simone.“
„Das trifft sich gut“, stimme ich ins Lachen ein und denke: Das ist doch schon mal ein guter Anfang. „Mein Kumpel kann übrigens nicht, du musst dich mit mir zufrieden geben.“
„Schade. Aber vielleicht kommen wir auch ohne ihn zu einem Ergebnis“, hofft sie und klappt den Kofferraumdeckel hoch. Ich nehme ihren Verstärker heraus, sie die Gitarre und wir gehen in den Proberaum.
Dort angekommen kriegt sie sich kaum wieder ein vor Begeisterungsbekundungen. Der Raum ist ihrer Ansicht groß genug, um ein Orchester unterzubringen und ausreichend Steckdosen gibt es auch. Außerdem ist das Gebäude relativ neu und es steht nicht zu befürchten, dass es allzu viele Kurzschlüsse wegen überlasteter Leitungen geben wird. Um auf so etwas zu achten, muss man wohl ein Instrument spielen, das auf Strom angewiesen ist.
Sie sucht sich einen schönen Platz aus und schließt ihr Instrument an. Dann schaut sie mich erwartungsvoll an: „Und was kommt jetzt? Wie willst du ohne restliche Band rauskriegen, ob wir musikalisch zueinander passen?“

148

Schon wieder geht er dazwischen: „Kann ich mitkommen? Ich war noch nie auf einer Insel, außer in Adria.“
Cokko und ich gucken uns fragend an, bis wir beide zugleich nicken. „Dann wird es aber nichts mit dem Einzelzimmer. Zu zweit geht es noch da drin, aber zu dritt ist es zu eng“, sagt er und grinst immer noch. Wir tun oft Sachen zur gleichen Zeit, als wären wir über Funk verbunden. Wir haben das schon bei vielen Gelegenheiten ausprobiert und es klappt fast immer.
„Wir sollten Pieter fragen, ob er auch mit will“, schlage ich vor.
„Au ja, wir machen eine Junggesellentour!“
„Was ist Junggesellentour?“, fragt Miloš.
„Das heißt, dass wir nur Kerle sind und keiner seine Freundin mitnimmt. Junggeselle ist ein altes Wort für Single“, erklärt Cokko.
„Gut“, sagt er ernst. „Darf ich nächstes halbes Jahr keine heiße Frau kennen lernen. Sonst nix Dersummeroog.“
Wir lachen alle drei.
Ich finde Miloš ziemlich cool, denn er hat einen trockenen Humor. Außerdem klingt sein Niederländisch sehr merkwürdig, weil er keine Umlaute machen kann. Wenn unsereiner „glücklich“ sagt, heißt das Wort bei ihm „glucklich“. Weil er aber so viel Zeit mit uns verbringt, ist sein Niederländisch schon viel besser geworden. Das sagt auch seine Mutter, wobei ich mich allerdings frage, wie sie das beurteilen will, denn sie versteht viel weniger als er. Das wiederum weiß ich, weil Miloš übersetzen muss, wenn seine Mutter mal etwas zu mir sagt. Und daran kann man erkennen, dass sie – woher auch immer sie das wissen will – Recht hat, denn mittlerweile klappt es ganz gut mit der Verständigung. Er grinst und schweigt zwar nach wie vor ziemlich viel, aber er kennt viel mehr Wörter als damals, als er in Eelcos Band kam.
Seitdem sind ihm einige der grammatikalischen Geheimnisse unserer Sprache klar geworden, zum Beispiel die Auswirkungen von Person und Zeit auf ein Verb. Letztes Jahr hat er damit noch große Schwierigkeiten gehabt. Was sicherlich seinen Teil dazu beigetragen hat, ist seine Freundschaft zu Cokko. Der korrigiert ihn oft, denn mein Bruder findet es offenbar wichtig, dass Miloš die Sprache richtig lernt. Zwar bin eigentlich ich der Sprachlehrer unter uns, aber weil Miloš mich nicht darum gebeten hat, lasse ich meinen Beruf Beruf sein, wenn ich Feierabend habe.
„Aber dann können wir das Einzelzimmer wirklich vergessen“, wendet Cokko ein.
„Das stimmt. Schreib Ieuwkje, dass wir ein Zelt mitbringen und im Garten pennen.“
„Hast du ein Zelt, in das vier Leute passen?“, fragt er zurück.
„Nein, aber ich werde eins finden. Ich frage in der Schule“, verbreite ich Optimismus, „das klappt schon alles.“
Mein Bruder gibt sich anscheinend mit meiner Aussage zufrieden und tippt rasend schnell auf seiner Tastatur herum. Kaum hat er die Mail fertig und den Laptop geschlossen, piepst sein Handy. Er nimmt es zur Hand, liest und sagt: „Pieter fragt, wer mitfährt ins Mijlenver.“
Miloš ist sofort dabei.
Das „Mijlenver“ ist eine ziemlich abgedrehte Disco in Alkmaar. Die Musik ist nicht mein Fall. Man kann ganz gut auf diese Musik tanzen, aber da ich nicht tanze, sehe ich keinen Sinn, mich dort blicken zu lassen. Außerdem gönne ich mir auch gerne mal einen ruhigen Abend.
„Warum frag’ ich eigentlich?“, murmelt Cokko, „Dass du keinen Bock hast, hätte ich mir doch denken können.“ Ebenso schnell wie beim Tippen im Laptop entsteht jetzt seine Antwort für Pieter: „Jeremy will nicht, Miloš will und ich bin noch nicht sicher, wem ich mich anschließe. Wann fährst du los?“

Die beiden bequatschen mich so lange, bis ich schließlich doch mitkomme.
Pieter hält eine Überraschung für uns bereit. Vor der Disco wartet eine junge Frau auf uns, die er mit den knappen Worten „das ist Becks“ vorstellt. Die Blicke, die sie einander zuwerfen, sind aber alles andere als knapp, sondern außerordentlich umfangreich und wir drei fühlen uns ein bisschen wie bestellt und nicht abgeholt.
Miloš und Cokko machen das Beste daraus und füllen mich mit Alkohol ab, bis ich meine langen Knochen zur Musik bewegen kann. Mit nüchternem Kopf weiß ich nämlich, dass ich nicht tanzen kann, deswegen erspare ich uns allen diese peinliche Vorstellung und stehe – solange ich Herr meiner Handlungen bin – lieber am Rand herum, wo es niemanden stört.
Davon abgesehen, dass ich am nächsten Tag einen Kater habe, ist es ein lustiger Abend gewesen, den wir gerne wiederholen können. Ich finde es allerdings lästig, dass ich nach solchen Vergnügungen immer mit Spätfolgen rechnen muss, denn ich vertrage kaum Alkohol.

147

Als es dunkel wird, sind wir längst aus dem Garten zurück, haben die Erdspuren von uns (und dem Flur) entfernt und ich habe heiß geduscht, damit mein Gebibber aufhört. Miloš ist natürlich nicht kalt gewesen. Manchmal frage ich mich, ob er eigentlich Temperaturempfinden hat. Ich glaube aber nicht.
Außerdem habe ich uns was Gutes gekocht; genug für drei, denn mein Bruder will ja auch essen, wenn er kommt.
Das passiert, als wir gerade mit dem Abwasch beschäftigt sind. „Tag zusammen“, grüßt er, „Heute nicht beim Krachmachen?“
Miloš grinst und sagt ihm ein paar Yugo-Wörter (69), worauf Cokko ebenfalls grinsend etwas erwidert und aus dem Raum geht.
„Was hast du ihm gesagt?“, möchte ich natürlich jetzt erfahren. Manchmal hätte ich auch gerne so eine Art Geheimsprache.
„Ich habe gesagt, du verstehst nicht meine Kunst. Das sagt der Sänger–“
Cokko ist wieder in der Küche angekommen und unterbricht ihn: „Troubadix sagt das: „Du Banause, du verstehst nichts von meiner Kunst“. Wir haben neulich festgestellt, dass wir beide die meisten Asterixhefte gelesen haben, er auf serbisch und ich bei meinen mazedonischen Kumpels in Kanada. Ich habe Miloš gesagt, dass Kunst bekanntlich Ansichtssache ist. Du solltest vielleicht serbisch oder mazedonisch oder bosnisch oder kroatisch lernen oder was es da sonst noch gibt, dann könntest du mitreden.“
Da bin ich anderer Meinung. „Ihr könntet auch einfach niederländisch reden, schließlich habt ihr euch vorher viel Mühe gegeben, die Sprache zu lernen.“
„Der Weg des geringsten Widerstandes“, murmelt mein Bruder und guckt in die Töpfe, „Ich esse nachher.“ Damit geht er ins Schlafzimmer und ich höre am Piepen, dass er den Laptop einschaltet.

„Ieuwkje hat wegen der Strandfete geschrieben!“, ruft er kurze Zeit später von unserem Schlafzimmer-Büro durch die Werkstatt mit Sofa sowie den Flur in die Küche. „Tante O würde gerne zwei Deutsche im Doppelzimmer einquartieren. Sie fragt, ob wir wieder das Einzelzimmer nehmen.“
Ich gehe zu ihm, damit er nicht so rumschreien muss und Miloš folgt mir. Bestimmt ist er überhaupt nicht neugierig und kommt nur mit, weil er nicht alleine dasitzen will.
„Welche Strandfete?“, möchte er auch prompt wissen.
„Auf Dersummeroog, das ist die Insel, zu der Jeremy ständig segelt, gibt es am ersten Augustwochenende eine große Party, die „Strandfete“ heißt. Weil er schon oft da war und ich noch nie, will er sie mir unbedingt zeigen“, gibt Cokko bereitwillig Auskunft und schließt spöttisch: „Als hätte ich noch nie eine Party gesehen.“
„So eine Party hast du tatsächlich noch nicht erlebt“, rechtfertige ich mich.
„Kostet es viel?“, geht Miloš dazwischen.
„Zur Party kann jeder kommen, der gerade Lust hat“, erkläre ich, „die ist öffentlich. Die Überfahrt mit der Fähre kostet ungefähr 50 Euro, ich bin da nicht genau informiert. Hin und zurück. Und die Unterbringung kostet pro Nacht ab 15 Euro aufwärts, je nach dem, wo du dich einquartierst. Wir haben einen kleinen Vorteil, denn Cokko und ich haben Freunde dort, die uns für kleines Geld in ihrem Haus schlafen lassen. So müssen wir uns nur noch darum kümmern, dass wir was zu essen kriegen.“
„Und Jeremy hat auch den Vorteil, dass er nicht mit der Fähre kommt, sondern selber segelt. Ich habe leider den Nachteil, dass ich seekrank werde, deswegen muss ich die Fährkosten auf mich nehmen.“
„Na ja, wenn du so rechnest, habe ich den Nachteil, dass ich Liegeplatzgebühren im Hafen zahlen muss.“
„Es ist aber ein kleinerer Nachteil als die Kosten für die Fähre.“
„Woher willst du das wissen? Kennst du die Preise auf der Insel?“

146

Mittendrin geht die Tür auf und mein Bruder betritt in Begleitung eines Mannes in mehlbestäubter Arbeitskleidung den Raum. Beide haben Finger in den Ohren und warten das Ende unserer serbisch-niederländischen Kooperation ab.
Dann sagt der Mann bewundernd: „Das ist wirklich laut. Der Chef hatte zwar gesagt, dass hier eine Band reinkommt, aber ich hätte nicht gedacht, dass man unten so viel davon hört.“
„Wie laut sind wir denn?“, erkundige ich mich und puhle ein Ohr frei.
„Laut genug, um den Lärm der Bäckerei zu übertönen.“
„Jetzt am Nachmittag ist nicht viel los“, schränkt der Mann ein, „morgens würdet ihr das nicht schaffen.“
„Und welche Art von Musik wird das sein, wenn ihr eine Band seid?“, will mein Bruder nun wissen.
„Es ist schon Musik“, korrigiere ich, „nur ist unser instrumentales Repertoire noch nicht ganz ausgeschöpft.“
„Aha“, macht er, „und was soll mir das sagen?“
„Im Klartext heißt das, dass ich dir noch nicht sagen kann, welche Musikrichtung wir machen, solange die Band nicht komplett ist. Aber so ungefähr wird es in die Richtung „Rock vom Feinsten“ mit allerhand anderen Einflüssen gehen.“ Dass wir auch beschleunigte Balkan-Folklore spielen, sage ich ihm jetzt noch nicht. Darüber kann er sich später mal lustig machen. „Aber warte mal ab, wenn wir vielleicht eine Gitarre dabei haben oder zwei, dann wird es dir besser gefallen.“
Cokko wirkt skeptisch, aber weil er nichts weiter dazu sagt, stopfe ich mein Ohr wieder zu und zähle vor. Zwischen Schlag drei und vier verschwinden die beiden durch die Stahltür.

Wir sind gestern noch eine Weile im Proberaum gewesen und haben ausgenutzt, dass es keine Anwohner gibt, die sich über den gehobenen Geräuschpegel beschweren könnten. Als mein Arm dann durch gar nichts mehr zu überreden war, sich ein letztes Mal egal wohin zu bewegen, haben wir zuhause ein Bierchen getrunken und weil heute Freitag ist, dauert es nicht lange, bis Miloš und ich wieder auf einem Fleck hocken. Jeden zweiten Freitag, so auch heute, habe ich nicht lange zu arbeiten, und er hat nach wie vor keinen Job.
Außerdem weiß ich zufällig, dass seine Mutter mal wieder nur ihr Vergangenheits-Video guckt, anstatt am Leben teilzunehmen. Wenn es zuhause so ungemütlich ist, hat er keine Lust, dort herum zu hängen. Also hängt er bei Cokko und mir herum.

Weil es nicht einzusehen ist, dass so ein starker Kerl nichts zu tun hat (vor allem, weil meine linksarmigen Kräfte zurzeit noch allzu schnell am Ende sind), engagiere ich ihn, mir in Mommis Garten zu helfen, da kann er sich mal ein bisschen verausgaben.
Der Garten hat es wirklich nötig. Der Frühling steht in den Startlöchern und überall liegt noch altes Laub herum und mittlerweile entnadelte Tannenzweige bedecken die Beete. Wie ich gestern bereits vorhergesehen habe, ist es nicht mehr mild, sondern windig und regnerisch. Aber die Arbeit muss getan werden und deswegen tue ich sie jetzt, weil ich heute nicht alleine in der Kälte herumhampeln muss.
Anfangs war Miloš meiner Mommi überhaupt nicht geheuer, weil er tätowiert ist und eine ziemlich unbewegte Miene aufsetzen kann, wenn er will oder an nichts denkt. Doch sie vertraut meiner Menschenkenntnis und hat ihn mittlerweile ins Herz geschlossen, weil er neben den bereits erwähnten Eigenschaften sehr hilfsbereit ist. Er bekommt ebenso wie ich Wolken­pudding und andere Zuwendungen, wenn er welche braucht.

145

Dreimal fahren wir auf zum Teil bedingt verkehrstaugliche Art mit den Fahrrädern voller Trommeln durch die Stadt und beim vierten Mal habe ich den Bass umhängen und Miloš balanciert vor sich einen Kasten Mineralwasserflaschen und darauf den Verstärker, dann ist der Proberaum fürs Erste fertig eingerichtet und wir fangen gleich volle Kanone an zu rocken.
Leider müssen wir nach ungefähr einer Viertelstunde schon wieder aufhören, denn mein Arm will nicht, wie ich will. Ich will schnell und laut trommeln und am liebsten eine ganze Stunde lang. Der Arm will seine Ruhe und sonst nichts. Na ja, ich habe ihn fast neun Wochen nicht bewegen können, da darf man sich über nichts wundern.
Miloš nutzt die Pause, um eine längliche schwarze Tasche hervor zu holen, die ich nicht beachtet habe, weil sie am Gitarrenkoffer festgeschnallt war. Er zieht einen Mikrofonständer heraus und baut ihn auf. Dann schließt er ein Mikro an seinen Verstärker an und vertraut mir verlegen grinsend an, dass er etwas ausprobieren möchte.
Er dreht einige Knöpfe am Verstärker, bis der Bass fast wie eine E-Gitarre klingt. Dann singt er mir ein Lied mit serbischem Text vor, das sich ziemlich gut anhört. Nach der ungefähr dritten Strophe lässt er jedoch die Finger von den Saiten und singt mit geschlossenen Augen weiter. Seine Stimme wird leiser und immer rauer. Ich glaube, er ist gerade ganz woanders.
Als er nach ziemlich vielen Strophen endet, spendiere ich ihm einen Trommelwirbel und frage begeistert: „Hast Du dir das ausgedacht? Worum geht’s da?“ Ausgerechnet Miloš, der sich sonst am liebsten schweigend mitteilt, präsentiert das erste richtige Lied unserer Band! (68)
Jetzt wird er richtig verlegen. „Ein Kerl ist verliebt, aber Mädchen will nichts wissen, weil er kein Geld hat, aber sie will nach Amerika. Aber er hat altes Fahrrad und sagt, nix Amerika, nur Adria. Mädchen geht mit … und heiraten … und auf Hochzeitsfeier es gibt viel Schnaps und alle Freunde tanzen. Ist sehr kurz gefasst.“
„Aha“, mache ich. „Hast du es dir ausgedacht oder ist es ein serbisches Lied?“
„Nein, es ist von früher. Es ist … ein Volkslied. Nicht serbisch, sondern jugoslawisch. Es ist sehr bekannt, aber eher mit Harmonika und Violina. Bei lustige Feste kannst du spielen, aber sie sollen besser vorher schon ein bisschen trinken. Dann können alle besser singen und dazu tanzen. Deswegen es ist so lang.“
Er stellt sich ans Mikro und spielt wieder die ersten Takte an. Jetzt singt er nicht mehr so melodisch, sondern eher laut und rotzig. Ich versuche mich am Rhythmus und was wir so zusammen bringen, klingt ziemlich gut, auch wenn Eigenlob angeblich stinkt. Wenn ich erst wieder richtig trommeln kann … und wir eine Gitarre dabei haben … und Lisanne sich vielleicht mit dem jugoslawischen Text anfreunden kann …
Warum sollte sie das tun?, fällt mir auf einmal auf, warum sollte Lisanne jugoslawisch lernen, wenn Miloš das doch viel besser kann?
Nach dem ersten Durchgang sage ich: „Wir müssen keinen Sänger mehr suchen. Du bist der Sänger dieser Band.“
Energisch schüttelt er den Kopf. „Das kann ich nicht.“
„Doch, kannst du. Es klingt super. Und dein Niederländisch ist viel besser geworden.“
„Nein. Ich tue es nicht.“
„Weigerst du dich?“, frage ich. Ich habe nicht die Absicht, die Band wie Eelco zu regieren, aber trotzdem muss ich wissen, wie weit meine Macht als Bandgründer reicht.
Miloš guckt mich an, als habe er genau denselben Gedanken. „Ja.“
Trotzdem gebe ich noch nicht auf. „Warum bringst du dann ein jugoslawisches Lied mit?“
Er atmet ein paar Mal tief ein und aus, dann ist er zu einem Kompromiss bereit. „Yugo-Lieder singe ich. Ja. Aber nicht niederländische. Das kannst du machen. Das klingt auch super.“
„Ich kann aber nicht zugleich gut trommeln und gut singen.“
Jetzt grinst er. „Doch, kannst du. Ich habe oft gehört, auch wenn ich keine Sprache verstanden habe.“
Na logo, das war ja auch die Sprache des heiligen Geistes, denke ich, die kannst du nicht verstehen – außer es gefällt dem heiligen Geist, entweder mir Wörter zu geben, die du verstehst oder dir einfach Verständnis für meine Wörter.
„Machen wir weiter?“, fragt er.
Ich zähle vor und wir fangen von vorne an.
Wir brauchen einen hauptamtlichen Sänger, vorher wird es nichts mit dem Erfolg, das weiß ich sicher.

144

„Wie alt ist der eigentlich?“, erkundigt sie sich interessiert.
Ich grinse mit ihr. „Zu jung für dich.“ Mein Bruder und die Frauen, das ist ein ganz besonderes Kapitel. Leider habe ich nichts davon, seine väterliche Linie hat es ihm vermacht. Doug­las ist nämlich genauso mit Charme und Liebreiz gesegnet.
„Sag es trotzdem.“
„Ganze sechseinhalb Jahre jünger als du. Kommst du übrigens zur ersten Probe? Natürlich nur zum Zuhören, weil wir ja alte Freunde sind.“
„Ausschließlich deswegen“, macht sie. „Du versuchst scheinbar mit allen Mitteln, mich zu ködern. Wenn Eelco das hört, kannst du dich auf was gefasst machen, das wird er sich nicht gefallen lassen.“
„Was habe ich mit Eelco zu tun? Und außerdem ist es deine freie Entscheidung, zur Jesus-Pop-Band zu gehen oder zu einer anderen Band. Schließlich ist doch am wichtigsten, dass man Spaß hat beim Musikmachen.“
„Spaß?! Beim Musikmachen?“ Entgeistert schaut sie mich an. „Musik ist ein ernstes Geschäft, dabei wird nicht gelacht!“
„So weit ist es schon gekommen? Du Ärmste.“
Sie schaut zur Uhr. „Sorry, ich muss nach Hause, ich krieg nachher noch Besuch.“
Ich verabschiede mich von ihr, schließlich habe ich heute auch noch dies und das zu tun. Cokko will mir helfen, das Schlagzeug zu Stevens Backstube zu transportieren. Weil Pieters Auto uns leider nicht zur Verfügung steht, können wir uns auf ein paar Runden Hin und Her einstellen.


fünfzigstes Kapitel

Als ich endlich wieder zuhause angekommen bin, treffe ich in der Wohnungstür Miloš, der wie bestellt und nicht abgeholt herumsteht.
„Was machst du denn hier?“, erkundige ich mich erstaunt. Er geht aus dem Türrahmen und lässt mich ein.
„Wollte Cokko besuchen, um Schlagzeug anzugucken, aber bin zu früh. Vielleicht hat er Bus verpasst. Haustür war offen und von Wohnung auch.“
Ich habe die Wohnungstür offen gelassen, als ich weggegangen bin? Oh je, manchmal bin ich ziemlich unkonzentriert … „Warum hast du dich denn nicht in die Küche gesetzt?“, will ich wissen, statt mir weiter Gedanken darüber zu machen.
„Habe gesessen, aber habe gehört du kommst. Wollte nicht, dass du erschreckst.“
Ich fange an, die Einkäufe wegzuräumen und Miloš schenkt mir Kaffee ein, den er in meiner Abwesenheit zubereitet hat. Die Kaffeemühle steht auch noch da. Wenn das so weitergeht, wird sich meine Küche zu einem prima Selbstbedienungsladen entwickeln. „Und, was sagst du zu den Trommeln?“, erkundige ich mich.
„Schöne Farbe“, lacht er und winkt ab, „Ich kenne Marke nicht, aber es hat Qualität.“
„Das hab ich mir auch gedacht.“
„Cokko sagt, du hast Proberaum?“
„Jep.“ Ich tauche aus meinem Vorratsschrank auf.
Er grinst. „Wann willst du Trommeln hinbringen?“
„Das hab ich für heute geplant, Cokko wollte mir helfen. Und wenn du auch mitmachst, sind wir schnell fertig. Pieter ist nämlich leider nicht da und sein Auto hat er mitgenommen, sonst wäre es eine leichte Sache.“
Jetzt legt er sein ganzes Gesicht in Spalten und Falten. „Willst du heute schon rocken?“
Ich grinse zurück, „Hast du Zeit?“
„Klar hab ich Zeit“, gibt er begeistert Auskunft. „Wir könnten ohne Cokko transportieren.“
„Sehr gute Idee.“
Er trinkt seinen Kaffee aus und geht nach nebenan in die Werkstatt. Ich höre ihn an den Trommeln hantieren, aber im Gegensatz zu Cokko kennt er sich mit solchen Instrumenten aus (er hat ja schon damals in Jugoslawien in einer Band gespielt und kann auch selber einigermaßen trommeln), deswegen macht mich das nicht besonders nervös.
Kurz darauf liegt das ganze Schlagzeug in handlichen Portionen im Flur. In der Zwischenzeit habe ich eine Wegbeschreibung für Cokko angefertigt, damit er uns findet. Wir werden nicht so bald wieder in die Wohnung kommen, wenn das Schlagzeug erst mal steht.

143

Lisanne schnaubt. „Wird immer peinlicher. Kim-Jana hat überhaupt kein Talent, aber weil sie inzwischen mit Eelco zusammen ist, darf sie weiter gegen den Takt spielen. Sogar Denise hat mehr drauf als sie, aber die ist leider furchtbar schüchtern und traut sich nie, was zu sagen, wenn ihr was nicht passt. Wenn du mir heute sagen würdest, dass du eine Band aufmachst, würde ich morgen bei dir auf der Matte stehen. Aber womit willst du eine Band aufmachen, du hast ja kein Schlagzeug und ich denke mal nicht, dass du Gitarre spielen willst.“
Meine musikalische Karriere begann im Alter von acht Jahren mit Gitarrenunterricht, aber seit ein paar Jahren trommele ich nur noch. Lisanne kennt mich lang genug um das zu wissen. Ich verkünde ihr meine persönliche frohe Botschaft: „Rat mal, was ich seit letzter Woche in der Wohnung stehen habe? Mein erstes eigenes Schlagzeug. Du solltest dir gut überlegen, was du zum Thema Bandgründung sagst, denn das kann nicht mehr lange dauern. Ich habe nämlich auch schon einen Proberaum gefunden.“
„Das klingt wirklich ziemlich konkret“, gibt sie zu. „Wenn es dich beruhigt, ich habe nicht vor, in deiner Band Keyboard zu spielen. Man will sich ja auch mal weiterentwickeln.“
„Das beruhigt mich in der Tat. Du könntest stattdessen singen. Irgendwer muss das ja machen, und ich finde, du hast eine schöne Stimme.“
Lisanne grinst geschmeichelt, fragt aber: „Was macht Miloš? Habt ihr noch Kontakt?“
„Wieder, würde ich sagen. Nach meinem Abgang aus der Jesus-Pop-Band hab ich ihn wochenlang nicht zu Gesicht gekriegt, keine Ahnung, was er getrieben hat. Zum Glück hat er neulich Cokko in der Stadt getroffen. Er dachte, wir könnten Brüder sein und hat ihn angequatscht. Heute oder morgen will ich ihn mit der Tatsache vertraut machen, dass er seinen dicken Hintern wieder zu hausgemachter Musik bewegen kann.“
„Miloš und dicker Hintern? Ts“, macht sie und mustert mich in meiner ganzen Pracht. (67) „Also, wenn er mitmacht, fehlt dir nur noch einer, der Gitarre spielt. Fertig ist die Band.“
„Ja, ich habe schon Zettel geschrieben, auf denen so was im Sinne von „Band sucht Gitarre“ steht. Die geb ich dem Steven von Stevens Broodjes, der will sie in allen seinen Läden aufhängen, dann weiß es bald die ganze Region.“
„Wieso willst du die Zettel in Brotläden aufhängen lassen? Und warum hängst du sie nicht selber auf? Meinst du nicht, dass dieser Steven besseres zu tun hat? Und überhaupt, wie kommst du eigentlich auf ihn?“, lässt sie Fragen am laufenden Band ab.
„Aha, das hab ich dir noch nicht erzählt. Mein Proberaum ist oberhalb seiner Backstube. Er ist ein netter Kerl, glaub ich. Aber was die Sache mit der Gitarre betrifft“, fällt mir ein, „könnte ich auch mal meinen Bruder fragen, der hat bestimmt irgendwo von irgendwem gehört, der eine Band sucht und zufällig ein Super-Gitarrist ist. Der Knilch hat ein phänomenales Namensgedächtnis.“

142

neunundvierzigstes Kapitel

Ich versuche gleich am nächsten Werktag, den Bäcker anzurufen, um eine Verabredung zu vereinbaren, erwische ihn jedoch erst am Wochenende persönlich.
Der Mann heißt Steven und ist ungefähr 40 oder 45 Jahre alt. Er zeigt mir die Backstube und erklärt mir dies und das zu den Arbeitsvorgängen. Dann möchte er wissen, welche Art Musik ich mache. Ich erkläre ihm, was Miloš und ich bevorzugen und in welche Richtung es vermutlich gehen wird. Steven lacht, dass er es dann sicher mitbekommen wird, wenn wir im Haus sind.
Der potenzielle Proberaum ist ein großes leeres Zimmer oberhalb der Backstube. Es gefällt mir gut und ich denke, es ist geeignet, um einer Band eine Heimat zu geben.
Ich frage Steven, was er sich denn so an Miete vorgestellt hat. Weil der Raum echt groß ist, rechne ich damit, dass ich mir das nicht leisten kann. Es war ein schöner Traum vom Proberaum. Aber er nennt mir seinen Preis und liefert eine Finanzierungsmöglichkeit gleich mit: „Du musst es nicht gleich als erstes bezahlen, ich strecke dir zwei Monatsmieten vor. Wenn du deine Band komplett hast, legst du die Miete auf alle um, das dürfte kein Problem sein.“ Nun guckt Steven zur Uhr und sagt: „Sorry, es ist schon furchtbar spät. Ich muss los. Hab noch Termine. Ich geb’ dir meine Bankverbindung später. Tschüss!“
Und weg ist er. Ich stehe noch eine Weile in meinem werdenden Proberaum herum und stelle mir vor, wo das Schlagzeug am praktischsten stehen könnte. Irgendwann mache ich ein Fenster auf, weil mir ziemlich warm ist. Als das Fenster auf ist, fällt mir auf, dass draußen gerade Winter ist. Ich scheine einen heißen Proberaum ergattert zu haben. Es wird eine schweißtreibende Angelegenheit werden, hier Musik zu machen. Na ja, denke ich dann, in der Scheune von Maartens Eltern ist es im Winter klirrend kalt gewesen. Jeder Übungsraum hat Vor- und Nachteile. Hier müssen wir jedenfalls nicht heizen. Schwitzen soll ja auch gesund sein.

Am Donnerstagnachmittag ist strahlend schönes Vorfrühlingswetter, das ich am liebsten auf der Kaap Hoorn und in den Grachten der Umgebung genießen würde. Diese milden Tage sind Mitte März eine Rarität; schon morgen kann es wieder grau und fies sein!
Aber erstens steckt die Kaap Hoorn noch zum Schutz vor dem Winter unter ihrer Persenning (also bis auf den Mast, der guckt raus) und zweitens hat mir der Arzt dringend geraten, mit dem Segeln noch eine kleine Weile zu warten.
Natürlich hat er Recht, denn auch bei milder Witterung kann es auf dem Wasser zu Situationen kommen, in denen ich den Arm mehr belasten muss, als ihm gut tut. Deswegen bin ich ein braver Patient und tue, was Onkel Doktor gesagt hat.
Und da ich mich nicht meinem wiedererwachenden Fernweh hingeben darf, lenke ich mich mit meinem wie üblich leicht verlotterten Haushalt ab. Nachdem ich die Küche aufgeräumt und die Schränke ausgewischt habe, genehmige ich mir ein bisschen Bewegung und gehe einkaufen.
Im großen Einkaufszentrum am Bahnhof sehe ich meine ehemalige Bandkollegin Lisanne, die völlig vertieft die Anwendungshinweise eines Fleckenentferners liest. Aus Spaß fahre ich sie mit meinem Wagen an.
Abgelenkt murmelt sie: „Entschuldigung“, schaut aber gar nicht von ihrer Lektüre auf. Daher sehe ich mich genötigt, sie noch einmal anzufahren. Sie entschuldigt sich wieder, guckt aber immer noch nicht hin, wer so unverschämt viel Platz braucht. Stattdessen weicht sie aus.
„Wieso entschuldigst du dich eigentlich für Dinge, für die du gar nichts kannst?“, frage ich.
„Hoi Jeremy“, sagt sie jetzt und stellt die Flasche zurück ins Regal. „Lange nicht gesehen, wie geht’s dir? Oh, du bist den Gips los!“
„Ja, seit zwei Wochen ist er ab. So langsam kommt wieder Leben in die Bude.“ Ich demonstriere ihr meine neue Beweglichkeit, die noch keine ist, eher eine Steifheit. Dabei erkundige ich mich: „Und, was macht die Jesus-Pop-Band?“

141

Cokko steht erst eine Weile sprachlos vor meinem neuen Schatz (ich weiß nicht, ob er nichts sagt, weil ihm vor Freude nichts einfällt, oder weil ihm schlicht die Schreckensausrufe im Halse stecken bleiben), dann erkundigt er sich: „Wo wirst du üben? Hier?“
„Nee, das würde zu viele Ohrenstöpsel kosten. Die ganze Nachbarschaft würde welche haben wollen. Mommi kennt einen Bäcker, der oberhalb seiner Backstube Platz für mich hat. Ich hab ihn aber noch nicht getroffen, ich weiß nicht, ob wir handelseinig werden“, erkläre ich. Dann fällt mir ein: „Warum fragst du?“
„Na ja, ich hatte mich schon mal mental darauf eingestellt, dass man mit Steinen oder anderen Gegenständen nach mir werfen wird. Einem Typ in meiner Schule ist es so gegangen. Seine Brüder haben Schlagzeug und Dudelsack gespielt.“
„Dann lag das bestimmt an dem Dudelsack.“
„Nee, das lag eher an den Brüdern. Echte Nervensägen. Als sie dann noch ihre Musik angefangen haben, haben sie den Bogen überspannt.“
„Na ja, dann kann es dir ja eh nicht so ergehen. Ich bin schließlich keine Nervensäge.“
Sachte wiegt er seinen Kopf hin und her, als sei er damit nicht ganz sicher.
Ich beende den Versuch, über etwas anderes als meinen neuen Schatz zu reden, lasse mich auf dem Höckerchen nieder und beweise mit einem fetzigen Trommelwirbel, dass ich noch ganz anders kann.
Sehr kurz darauf klingelt es an der Tür und mein Bruder geht hin, denn ich kann gerade nicht. Ich sitze verzückt inmitten meines rosafarbenen Schatzes und beglückwünsche mich dazu, zur richtigen Zeit im richtigen Laden gewesen zu sein.
An der Stimme höre ich, dass Betty aus der Etage drunter im Flur steht. Cokko bittet sie in die Werkstatt zu kommen. Sie jedoch möchte nicht herein kommen, sondern nur in aller Ruhe vor dem Fernseher sitzen und dabei auch noch hören können, was der Nachrichtensprecher sagt. Als Cokko ihr erklärt, dass ich das Schlagzeug heute neu bekommen habe, zeigt sie sich etwas versöhnt mit dem, was sie Krach nennt, bittet aber, demnächst zu trommeln, wenn keiner sonst im Haus ist.
„Du hättest das mit den Ohrenstöpseln vielleicht gleich nachmittags anfangen sollen“, überlegt er, als er wieder ins Zimmer kommt und mir Bettys Bitte mitgeteilt hat. „Darf ich vielleicht auch mal ein bisschen trommeln?“
„Nein. Erstens hat Betty sich gerade schon über mein Können beschwert, da wird sie dein Nicht-Können nicht toller finden und zweitens hätte ich gern, wenn du überhaupt die Finger davon lässt“, sage ich und liefere die Erklärung dafür gleich mit: „Es sieht vielleicht aus wie ein Haufen Trommeln, die jede auf ihrem eigenen Ständer steht, aber es ist mühsam, alles richtig einzurichten, wenn einer was verändert hat. Außerdem ist das nicht irgendein Anfängerschlagzeug, sondern eine Geldanlage. Ich möchte möglichst lang drauf spielen können.“
„Du tust, als würde ich alles nur kaputt machen“, bemerkt Cokko ärgerlich und klingt jetzt genau wie ein kleiner Bruder, dem gerade was verboten worden ist.
„Mit deinem Laptop ist es übrigens auch so gewesen“, erinnere ich. „Bevor du mir ein eigenes Benutzerkonto angelegt hattest, habe ich die Finger davon gelassen.“
Murrend wendet er sich ab, ich glaube, etwas wie „Mit dem Unterschied, dass der Laptop dich nicht die Bohne interessiert hat“ herauszuhören. Da hat er natürlich Recht. Demnächst, wenn das Schlagzeug im Proberaum steht, werd ich ihm ein paar Freistunden Trommelunterricht gewähren. Dann kann er alles ausprobieren, was er will.

140

„Alter, ich bin nicht schwerhörig!“, beschwert Pieter sich, „Zumindest noch nicht.“
„Was gibt’s denn?“, frage ich ungeduldig. Ruft er an, um nachzuprüfen, ob ich brav zuhause geblieben bin?
„Was würdest du davon halten, wenn ich dir ein Schlagzeug mitbringe, das jetzt ungefähr ein Viertel weniger kostet als das, was du haben willst, neu aber das doppelte wert war?“
„Oh“, mache ich. „Davon würde ich sehr viel halten. Ist ein Haken dran?“
„Na ja“, macht Pieter.
„Ist was kaputt? Sind Mäuseleichen drin? Muss ich den Vorbesitzer mitkaufen?“
„Nun ja, nicht ganz. Es ist pink und überall steht „Spice-Girls“ drauf. Das Teil hat angeblich mal einen tierischen Haufen Kohle gekostet, ich wette, die Tussi kann sich auch so einen guten Fitnesstrainer leisten wie mich. Voraussetzung ist natürlich, sie wird das Ding los.“
Etwas piepst in meinem Telefon. Ich überhöre das Geräusch. „Und warum hab ich das Teil nicht im Laden gesehen?“
Pieter stellt die einzig mögliche, sinnvolle Gegenfrage: „Würdest du dir ein Schlagzeug von den Spice-Girls in den Laden stellen?“
Ich lache. „Nee. Bestimmt nicht. Und der Händler sagt, dass es den Haufen Kohle wirklich wert ist? Ich will kein Kinderschlagzeug haben, das nur viel gekostet hat.“ Es piepst wieder. Scheinbar fliegt ein Satellit übers Haus und stört die Telefonverbindung.
„Natürlich sagt der Händler, dass es das wert ist, das täte ich aber auch, wenn ich Händler wäre. Der Mann hat mir vorgeschlagen, ich soll wie abgesprochen dein Geld hier lassen und die Trommeln mitnehmen. Wenn du es schließlich doch nicht haben willst, bringen wir es eben zurück. Solange will er das Schlagzeug für dich zurück halten, das du ausgesucht hattest. Was sagst du dazu?“
Was soll ich dazu sagen? Ich schicke ein „Ähm“ durch die Leitung, das passt immer.
„Denk ein bisschen schneller, mein Akku ist gleich leer“, drängt Pieter.
Ach so, deswegen piepst es, darauf hätte ich kommen können. Ich entschließe mich zu der Antwort, die vermutlich von mir erwartet wird: „Bring das Zeug mit. Es gibt sowieso ein paar Leute, die mich für etwas seltsam halten. Das wird die Gerüchteküche beleben.“

Eine Stunde später titsche ich wie ein aufgescheuchtes Huhn durch meine Werkstatt. Pieter hat mich längst verlassen, weil ich zu keiner artikulieren Äußerung mehr in der Lage bin.
Von den Schriftzügen der Lieblingsband der Vorbesitzerin abgesehen (und natürlich der Farbe) ist dieses Schlagzeug eine echte Wucht!!
Zuyderkerks Musikszene kann sagen was sie will, ich werde dieses Schlagzeug behalten. Eine großartige Zukunft steht mir bevor und meiner Karriere als international anerkanntem Schlagzeuger praktisch nichts mehr im Wege!
Es dauert noch ein paar Stunden, bis Cokko nach Hause kommt, aber ich kann es gar nicht abwarten, jemandem von meinem neuen Schätzchen zu erzählen. Ich mache mich auf den Weg zu Mommi.
Meine liebe Mommi freut sich mit mir. Sie hält ein Sahnestück für mich bereit (nein, es geht nicht um kalorienreichen Kuchen, aber den gibts natürlich auch), denn sie hat vielleicht einen Proberaum für mich.
Als ich neulich erzählt habe, dass ich mir ein neues Schlagzeug zulegen will, hat sie gleich ihre Bekannten zu Rate gezogen. Mommi ist eine Zuydersche, wie die Ureinwohner Zuyderkerks sich nennen. Die alten Zuyderschen helfen einander, sie halten zusammen und wenn es in Zuyderkerk etwas zu erfahren gibt, wissen sie es meist als Erste.
Und das habe ich davon: Ein guter Freund von ihr und Popp ist Bäcker und sein Sohn, der den Betrieb weiterführt, ist kürzlich mit seiner Backstube in ein Gebäude im Industriegebiet Voorland umgezogen. Darin sollen noch weitere Räume frei sein. Mommi gibt mir die Telefonnummer von dem Mann und sagt mir, dass ich ihren Namen nennen soll.
Beziehungen sind wirklich das A und O, wenn man etwas will oder braucht und nicht besonders viel Geld hat.