17. Juni 2016

669

„Du wolltest still sein“, erinnert er.
„Sorry.“
„Die Frage ist nämlich nicht, was passiert, wenn du mit Nieke zusammen ziehen willst.“
Was ist die Frage denn sonst, will ich fragen, aber ich darf ja nichts sagen. Aber das muss ich auch nicht mehr. „Ihr werdet also zusammen ziehen.“
„Ja. Ich habe sie gefragt, sie wird mich heiraten. Einen Termin haben wir noch nicht.“
„Warum denn das nicht?“, lache ich, „Drei Wochen reichen doch, um einen Saal zu mieten und mit Toni alles Wesentliche abzusprechen? Und habt ihr auch schon über Kinder gesprochen? Wie viele werdet ihr kriegen? Und der erste Sohn, wie wird der heißen?“
„Jeremy, könntest du aufhören dich darüber zu belustigen, dass es mir angeblich nie schnell genug gehen kann?“
„Ich belustige mich nicht, und es ist auch nicht angeblich so. Aber ich höre auf zu lachen.“ Wenn noch mal einer behauptet, wir wären uns ähnlich, werde ich genau dieses Beispiel zur Untermauerung des Gegenteils bringen. Er ist fünf Wochen mit Merle zusammen und hat ihr einen Heiratsantrag gemacht! Fast will ich mich am Stuhl festhalten, weil ich das Gefühl hab, die Erde dreht sich auf einmal schneller als sonst.
„Als Midi mir gesagt hat, dass ich keine bessere finden werde, habe ich gedacht, sie kennt Merle gerade eine Woche lang, da sagt man so etwas vielleicht. Die beiden und Bogi haben sich gleich sehr gut verstanden. Aber mein Vater … er hat gesagt, sie ist richtig für mich. Ich habe ihn gefragt, wie er das beurteilen will, weil wir ja sehr unterschiedlich sind, also er und ich. Er sagt, dass das stimmt, aber dass ich trotzdem ein Kusturica bin, durch und durch. Und er sieht es immer mehr, je älter ich werde. Und deswegen sagt er, dass sie richtig ist für mich, weil sie sich behaupten kann gegen einen Kusturica. Meine Mutter kann es nicht, und du weißt, wie sie geworden ist.“
Das klingt ja danach, als hätten sie miteinander gesprochen! Das Ende der Kusturica-Eiszeit! Wenn die beiden über ihre Schatten springen, was ist dann noch möglich?
Vorerst muss ich aber wissen: „Warum konntest du noch keinen Termin machen?“
„Weil ich noch nicht mit dir gesprochen hatte. Wie geht das hier im Haus weiter, wenn du alleine wohnst? Das ist zu teuer für eine Person.“
„Wer sagt denn, dass du gehst und ich bleibe? Ich kann mir auch was anderes suchen und Merle zieht zu dir.“(392)
„Nein. Du hast hier alles renoviert und eingerichtet und die Möbel gebaut, es sind deine Sachen. Es ist dein Zuhause.“
„Deins auch!“
Er verdreht die Augen. „Verstehst du nicht, was ich sagen will? Und fang jetzt bitte nicht wieder an, mit meiner Sesshaftigkeit zu argumentieren.“
Hatte ich gar nicht vor … „Wir können ja in der VKR rumfragen. Was tust du, wenn sich jemand meldet, der vor September einziehen will?“ Damit muss ich rechnen, wenn Herr Überholspur-Miloš auf Nachmietersuche geht!
„Was hat das mit September zu tun?“
„Habt ihr euer Septemberversprechen gebrochen?“ Ich darf das nachfragen, auch wenn es mich eigentlich nichts angeht, denn ich habe die ausdrückliche Erlaubnis von beiden, sie zur Rechenschaft zu ziehen.
„Nein. Aber das eine hat nichts mit dem anderen zu tun. Ich kann sie heiraten, ohne sie vorher angefasst zu haben.“
Alter, das ist soo krass! So keusch sind nicht mal Königskinder im Mittelalter verheiratet worden. Gott soll euch doppelt und dreifach dafür segnen, dass euch das Versprechen so wichtig ist. „Willst du sie übrigens nur heiraten, weil deine Sippe es für richtig hält? Was macht ihr, wenn ihre Sippe dagegen ist?“
Er winkt ab, „Ihre Familie ist nicht dagegen. Frans hat mir neulich gesagt, dass es sehr gut war, dass sie alle mich kennen lernen konnten, als ich noch nur der Bassist war. Es haben nämlich auch andere schon festgestellt, dass ich Eric äußerlich ähnlich bin.“
„Der hat sich wohl benommen wie die letzte Sau“, unterbreche ich.
„Davon kannst du ausgehen. Wäre ich zuerst mehr als der Bassist gewesen, hätten sie Vorbehalte gehabt. Aber ich hätte sie sowieso irgendwann gefragt. Dass sie es unterstützen, hat mir einen Schubs gegeben. Vor allem das Gespräch mit meinem Vater. Weißt du, Jeremy … wir haben noch nie so ruhig miteinander gesprochen. Und er klang fast, als wäre er stolz auf mich. Ich weiß nicht, wie er sich auf einmal so verändern konnte.“
„Hat er ja auch nicht. Du hast dich verändert.“
„Ich?“
„Ja. Du arbeitest seit einem halben Jahr jeden Mittwoch zwei Stunden an deiner Beziehung zu deinem Vater. Glaub doch nicht, dass das keine Auswirkungen hat.“
„Aber deswegen ist er ja nicht stolz auf mich, er weiß doch gar nichts von der Seelsorge.“
„Aber er sieht die Ergebnisse. Immer warst du verschlossen und er wusste nicht, wie er an dich rankommen soll. Und dann wohnst du auch noch so weit weg, er sieht dich kaum. Und wenn du da bist, streitet ihr nur oder schweigt euch grimmig an. Ja, und dann, auf einmal nimmst du dir Zeit für ihn, hörst ihm zu – ich als Vater würd mich freuen über so einen Sohn. Noch dazu, wenn er meiner Sippe immer ähnlicher wird. Ist doch toll, sowas!“
Er mustert mich auf seine ganz besondere Miloš-Weise. Wahrscheinlich will er als nächstes wissen, woher ich das alles weiß, weil es genau so ist. Ich lehne mich mental zurück.
„Gut zusammen gefasst“, sagt er schließlich. „Du weißt jetzt also, wie es geht.“
„Ähm … wie was geht?“
„Wie du mit deinem Vater in Beziehung finden kannst. Herzlichen Glückwunsch.“
Das wollte ich nicht hören.





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668

Das bringt mich aus der Fassung. Was hab ich ihr da gerade unterstellt?! Ich hocke mich neben ihren Stuhl. „Nieke, es tut mir leid, ich wollte dich nicht mit Sloba vergleichen.“
„Ich weiß“, sagt sie und lächelt wieder und streichelt mir über den Kopf.
Sie mag auch nicht lange böse sein und es ist leicht, sich mit ihr zu versöhnen. Sie ist so wunderbar. „Was wolltest du eben sagen?“
„Lass sie ausreden“, kriegen wir Senf geliefert, ohne welchen bestellt zu haben.
„Du wolltest duschen gehen“, erklärt sie ihm die aktuelle Grenzlage, und als er sich verdünnisiert, sagt sie zu mir: „Henry hat mir Unterlagen von einem wirklich guten Seminar gegen Flugangst gegeben. Ich hätte gerne, wenn du da hingehst.“
„Warum ist das so wichtig für dich?“
„Ein Kind Gottes braucht sich vor nichts zu fürchten.“
Sofort bin ich wieder auf Abstand. „Hat der Miloš dir das gesagt?“
„Warum hast du nur solches Misstrauen gegenüber deinem besten Freund? Aber ich verstehe dich. Die Flugangst ist ein sehr schwieriges Thema für dich. Und jetzt fühlst du dich in die Ecke gedrängt. Das wollte ich nicht. Ich möchte nur, dass du mal gründlich über das Seminar nachdenkst. Tust du mir den Gefallen?“
„Also … ist der Gefallen, hinzugehen oder drüber nachzudenken?“
Sie lächelt.
Der Schmetterling in meiner Brust flattert wie wild.
„Drüber nachdenken.“
Es ist nicht ein Schmetterling, es ist ein ganzer Schwarm. „Tu ich.“ Ich halte ihr meinen bockigen Schädel hin und sie krault tatsächlich weiter.

Die beiden Damen sind erst spät in der Nacht heimgefahren, genauer gesagt ist nur Nieke gefahren und Merle hat ihr Auto an der Hecke stehen gelassen.
Heute ist Samstag und alles ist wie immer. Er war zum Sport draußen, hat dann Frühstück gemacht und mich (ganz vorsichtig) aus dem Bett geworfen. Jetzt strahlt er mich an, als ich endlich am Tisch Platz nehme, „Guten Morgen!“
„Dir auch“, grinse ich. „Du bist richtig braun geworden im sonnigen Süden!“
„Oh, findest du?“, gibt er geschmeichelt zurück. „Wir waren auf der Heimfahrt zwei Tage an der Adria.“
„Zufälligerweise in Rijeka?“
„Wo wir zufälligerweise Zoran und Lisanne getroffen haben? Nein, wir hatten uns nicht verabredet. Es war übrigens toll an den Grenzen. Als Niederländer hat man beim Reisen nur Vorteile, selbst wenn man ein bosnisches Auto fährt.“
„Und wo an der Adria wart ihr?“
„In Poreč, das ist in Slowenien.“
„Da, wo du als Kind auch in Urlaub warst?“
„Genau. Ich wollte wissen, ob ich die Plätze von früher wieder finde. Aber ich habe mich an fast nichts erinnert.“
„Ist so viel neu gebaut worden?“
„Auch. Aber es ist vor allem sehr lange her, dass ich zuletzt da war.“
Wir essen eine Weile schweigend, dann fängt er zögernd an: „Es hat mich sehr … geärgert, dass du unsere Urlaubspläne von Merle erfahren musstest.“
„Wieso geärgert? Außerdem ist das doch längst vom Tisch.“
„Das stimmt, aber es tut mir leid, dass ich mich davor gedrückt habe, mit dir zu reden, weil ich nicht wusste, wie du reagieren würdest. Und weil ich davon ausgegangen bin, dass du nicht begeistert sein würdest. Und dass Merle dann glaubte, du wüsstest es schon.“
„Na ja, aber es ist ja vorbei“, versuche ich abzulenken.
„Nein, so etwas ist nie vorbei. Ich habe mir vorgenommen, die Dinge nicht mehr aufzuschieben.“
„Aha. Und was hast du mir demnach jetzt zu sagen?“
Ziemlich deutlich sucht er nach den richtigen Worten. Ich warte ab, da ich ja keinen Schimmer habe, wohin sich das Gespräch entwickeln wird.
„Wir wohnen hier sehr gut zusammen. Jeder hat seine Aufgaben und füllt sie auch gut aus … und … wie soll ich es sagen?“
„Willst du andere Aufgaben? Du, das ist überhaupt kein Problem. Was willst du ändern?“
„Nichts.“
„Aber warum machst du dann so ein Fass auf?“
„Weil du mich nicht ausreden lässt. Das wollte ich nicht sagen, sondern etwas anderes.“
„Aha, und was?“
„Jeremy, sei so gut, lass mich ausreden. Lass mich nachdenken. Halt einfach mal eine Weile den Mund, ja?“
Huch. Das klingt ernst.
„Ich habe mich gefragt, was mit dem einen von uns passiert, wenn der andere eines Tages nicht mehr hier wohnt. Muss der, der übrig bleibt, dann auch ausziehen, weil das Haus für einen alleine zu teuer ist?“
„Ich bin doch gerade erst zehn Tage mit Nieke zusammen, da ist ja vom–“

667

„Dann ist ja gut. Ihr mögt euch also alle.“
Ihr Redefluss klingt, als wäre es auf den letzten paarhundert Kilometern sehr schweigsam zugegangen im Auto. „Nieke, du musst sie unbedingt kennen lernen. Sie sind großartig, alle miteinander. Ganz anders als Sloba, auch wenn er nichts davon hören will. Und die meisten Kusinen sprechen gutes Englisch. Ist dir übrigens aufgefallen, dass wir jetzt beide junge Männer haben?“
„Junge Männer, das klingt, als wärt ihr schon um die siebzig“, bemängelt der ältere von uns zwei Jünglingen. „Dijana hat mich gefragt, ob du Ende zwanzig wärst.“
„Echt?“, kichert sie. „Das ist ja süß. Nieke, versuch mal, die zweite Herbstferienwoche frei zu kriegen. Dann wollen wir wieder hin.“
Jetzt habe ich was zu bemängeln. „Aber nicht in dieser Keksdose. Da passen doch auch wieder nur Kurzbeinige rein.“
Sie wechselt einen Blick mit Miloš. Als ich fragen will, warum sie das tun, sehe ich, dass Nieke in den Blickwechsel einbezogen ist.
Merle lässt mich nicht zu Wort kommen. „Nein, es ist größer als meine alte Kiste. Komm, du kannst probesitzen“, schlägt sie vor.
„Später“, bremst Miloš sie. „Erst räumen wir das Auto leer. Die Kühlakkus sind bestimmt durch. Und dann brauche ich etwas zu essen.“ Mich fragt er: „Sind noch Steaks da?“
„Ist denn heute Fleischgemüsetag?“ Ich beschließe, ihn später nach der Bedeutung des Blickes zu fragen.
„Nach der Fahrt, ja. Es war irrsinnig viel los auf den Straßen. Ich muss duschen, bevor ich mich bei euch niederlasse.“
„Mach das. Ich geh mal einen Grill ausleihen.“ Ich will schon über den Zaun steigen, als Nieke meinen Arm berührt. „Du kannst es auch auf diesen Grill legen.“
„Fleisch? Neben das Gemüse?“
„Du musst es ja nicht aufeinander legen.“
„Ist das wirklich okay für dich?“
„Ich kann das trennen. Im Kopf. Es ist kein Gift, es ist seine Mahlzeit.“
„Gut“, erwidere ich erstaunt. Die für Überzeugungsvegetarier ungewöhnliche Erkenntnis muss damit zusammenhängen, dass sie Freundschaft geschlossen hat mit Miloš.(391)
Ich versammle unsere Spezialitäten auf zwei Dritteln des Rosts. Derweil hat sie eine Tüte mit Grillfleisch in Senfmarinade aus dem Eisschrank geholt.
„Warum habt ihr euch eben alle so angeguckt?“, frage ich und lege zwei Steaks auf.
„Was meinst du?“
„Als ich gesagt hab, dass Merles neues Auto auch eine Keksdose ist, habt ihr euch alle angeguckt. Worum ging es da?“
„Lass uns doch erst beim Ausräumen helfen.“ Sie will zum Auto, aber ich halte ihre Hand fest. „Aua!“, beschwert sie sich und ich lasse los.
„Komm, hilf mit, das Fleisch verbrennt nicht so schnell.“
„Nein, ich will das jetzt wissen. Warum habt ihr euch so angeguckt? Und warum willst du jetzt nichts dazu sagen?“
„Jeremy“, sagt sie. Es ist der Tonfall, in dem sie mich höflich darauf hinweist, dass ich als nächstes eine ihrer Grenzen übertrete.
„Ihr guckt euch alle an und es geht um mich und ich weiß nicht, worum es geht!“
„Jeremy“, sagt sie erneut, diesmal mit mehr Nachdruck. Aber immer noch leise.
„Sag es ihm“, mischt Miloš sich ein, der die ganze Zeit mit Sachen zwischen dem Auto und dem Haus hin und her gegangen ist, also nicht mitbekommen haben kann, worüber wir reden und anscheinend doch genau im Bilde ist.
Das ärgert mich noch mehr. „Ich find das scheiße, wenn ihr Geheimnisse vor mir habt!“
„Er hat recht“, sagt er und schaut sie auffordernd an. Nieke seufzt. „Reg dich bitte ab. Und versprich mir, dass du dich dann nicht noch mehr aufregst.“
„Na toll“, grummele ich. „Rück raus.“
„Wir wollen fliegen.“
„Warum wollt ihr unbedingt in den Schulferien nach Peckovar, wenn ich gar nicht mitkommen kann?“
„Hör mir doch bitte bis zum Ende zu“, bettelt sie.
„Ich höre.“
Sie fasst meine Hand, aber ich mache mich los.
„Jeremy“, mahnt Miloš.
„Halt dich raus“, schnaube ich ihn an. „Vor wie vielen Sekunden habt ihr das eigentlich verabredet?! Oder redet ihr schon viel länger drüber? Ihr kommt nach Hause und ich denk, alles ist normal und dann stelle ich fest, dass ihr mir die ganze Zeit was vorspielt!“
„Jeremy!“, fleht sie wieder, jetzt mit nassen Augen.
„Und du hör auf zu heulen! Ich hasse diese Tränen-Manipulier-Scheiße!“
„Entschuldige bitte.“ Sie holt ein Taschentuch raus und trocknet sich das Gesicht. Dann setzt sie sich an den Tisch.

666

An einem kleinen Reihenhaus halte ich an, wir steigen ab und ich lehne das Fahrrad ans Zäunchen. Ich klopfe und Mommi macht uns auf.
„Das ist sie. Die Nieke“, sage ich.
„Ich weiß. Der Miloš hat sie mal mitgebracht. Aber ihr beide seid jetzt endlich mehr als Bandmitglieder, ja?“
Ich nicke und Nieke strahlt.
„Seit wann habt ihr euch denn?“
„Seit vier Stunden“, sagt sie, ohne auf die Uhr gucken zu müssen.
Sie lacht. „Und dann kommt ihr direkt zu mir? Junge, du bist ja verrückt. Hat dich etwa der Miloš angesteckt, bei dem immer alles sofort passieren muss?“
„Ich wollte nur, dass du es weißt. Aber jetzt gehen wir und lassen uns Zeit.“
„Macht das.“


letztes Kapitel

Ich habe keine Ahnung, womit wir die Tage zubringen. Es hat viel mit Händchenhalten und glücklichen Blicken zu tun, mit Reden und Schweigen, mit Lächeln und gelegentlichen Seufzern und natürlich ganz viel mit Zweisamkeit. Und dem Sehnen bis zum Wiedersehen, was meist am nächsten Tag stattfindet.
Wir treffen uns bei ihr oder bei mir oder ganz woanders, gehen spazieren, fahren Rad, segeln – aber man könnte uns auch in einem finsteren Kellerloch einsperren. Es wäre ganz egal. Na ja, fast egal. Ich bräuchte natürlich eine Küche in dem Loch. Ich kann auf einmal zu jeder Tages- und Nachtzeit essen. Sie dagegen lebt von Luft und Liebe.

Das Verliebtsein ist so wunderbar.
Vor allem kann ich es dieses Mal richtig ausführlich genießen, es gibt keine handgreiflichen Überfälle, keine zweideutigen Bemerkungen. Ich muss mir niemanden vom Leib halten, muss nicht flüchten, werde nicht manipuliert. Dass keine Spannung zwischen uns ist, möchte ich nicht sagen; natürlich prickelt es. Aber ich habe feste Prinzipien – und sie ist nicht der Typ für den ersten Schritt. Das hat sie, solange wir uns kennen, nie getan. Sie wird nicht auf einmal damit anfangen, nur weil wir in einer festen Beziehung sind.

Der Feierabend vom letzten Schultag vor den Sommerferien ist uns eine Feier wert. Wir sitzen gemeinsam auf der Terrasse und grillen vegetarische Köstlichkeiten, als ein Auto über den schmalen Pfad zwischen den Gärten und den Weiden gerumpelt kommt.
„Darf man da entlang fahren?“, wundert Nieke sich.
„Nö. Aber die Frau, der die Ponys gehören … nee, warte mal, die hat ein ganz anderes Auto. Was machen die denn da?“, frage ich eher mich selber, als das Fahrzeug an unserer Heckenpforte zum Stehen kommt.
„Das sind Merloš!“, hat Nieke sie schneller erkannt.
Stimmt, die hatten sich angekündigt; allerdings für den frühen Nachmittag. Ähäm! Ich hab sie gar nicht vermisst. Die beiden steigen aus und wir begrüßen uns.
„Ihr habt euch versöhnt, wie schön“, stellt Merle fest und strahlt.
Miloš guckt prüfend zwischen uns hin und her.
Als Antwort fasse ich Niekes Hand. Sie flicht ihre Finger in meine.
„Noch schöner“, sagt er leise. „Sehr gut, Bruder.“
Merle bleibt der Mund offen stehen. Aber nicht lange. „Ihr seid – echt? Endlich!“ Sie umarmt Nieke und knutscht mich rechts und links. „Seit wann? Ich freu mich so für euch!“
„Dem ersten“, schiebt Nieke in den Wortschwall ein.
„Elf Tage!“, quiekt Merle. „Geil! Wir waren elf Tage weg!“ Sie klopft Miloš auf den Arm, „Wir hätten eher abhauen sollen! Und Jeremy, wir haben das halbe Auto voller Sachen für dich! Dijana hätte uns fast ihre ganze Küche mitgegeben. Und er musste Rezepte für dich aufschreiben, und stell dir vor, dauernd hat er nachgefragt und sie musste erklären.“
„Ich verstehe nun mal nichts von den ganzen Küchensachen.“
„Andere Dinge kannst du dafür viel besser. Zum Beispiel Autofahren“, sagt sie und tut an ihm, was sie eben an mir getan hat. „Jeremy, auf kurzen Strecken fährt er entspannend, bei den langen Strecken wäre ich am liebsten gar nicht aus dem Auto gestiegen!“
„Ich kenn das, Merleschatz. Ist er denn die ganze Strecke alleine gefahren?“
„Ja. Er meinte, das würde gegen das Artenschutzabkommen verstoßen, wenn ich fahre.“
„Das Artenschutzabkommen?“
„Ich hab in Peckovar fast eine Katze überfahren“, gibt sie verlegen zu.
„Ts, ts, ts“, mache ich und rede von anderen Dingen: „Hast du übrigens einen Spitznamen bekommen?“
Sie lacht. „Einen? Merlinka, Merlanka, Merlutka, Merlička und so weiter. Aber wir waren ja erst einmal da, es kann noch viel passieren.“

665

In dem Moment betritt ein Mann das Büro und hat schon seinen Satz mit „Nieke, könntest du“ angefangen, aber er beendet ihn mit: „Was ist denn hier los?“
Niemand arbeitet mehr. Die drei Frauen gucken uns zu und tuscheln, ich halte Nieke fest, sie sich schluchzend an mich klammert. Jetzt kommen auch noch zwei Leute aus dem Flur herein. Drei. Fünf.
„Was ist mit ihr passiert?“, will er erneut wissen.
„Ich glaub, sie hat einen Heiratsantrag bekommen“, sagt eine Kollegin.
„Langsam, eins nach dem anderen“, bitte ich.
„Wer sind Sie denn?“, fragt er.
„Jeremy Willem van Hoorn. Seit ungefähr einer halben Minute in glücklicher Beziehung mit Ihrer Kollegin.“
„Nieke macht keinen besonders glücklichen Eindruck. Sie weint“, informiert er, als sei das meine Schuld! Das heißt – wahrscheinlich ist es so. Aber sie wird mir verzeihen, ich weiß es.
„Gefühle lassen sich manchmal nicht so klar definieren. Immerhin hält sie sich an mir fest.“ Behutsam streichle ich ihren Rücken.
„Ich hab Sie doch auch schon mal gesehen, oder?“
„Ich wüsste nicht, wo“, behauptet mein Namensgedächtnis mit aller Überzeugung. Ich habe ja weder mit Blumen noch mit Export zu tun.
„Doch, am Freitag in Zuyderkerk. Da haben Sie in Niekes Band mitgemacht.“
„Ach so.“ Was heißt eigentlich, ich hätte in ihrer Band mitgemacht?
„Ich bin übrigens Leo Bloemberg.”
Ich habe ihn nie zuvor gesehen, aber ich weiß es sofort: „Der Junior!“
„So ist es.“
„Ich hatte Sie mir jünger vorgestellt“, rutscht es mir raus. Der Mann ist nämlich ungefähr so alt wie Gerrit. Da schmunzelt er. „Ich bin jünger als der Senior, das muss reichen. Übrigens fände ich es besser, wenn Sie das Gebäude verlassen, damit die anderen Leute“ hier schaut er in die Menge, die inzwischen das Bürozimmer bevölkert, „in Ruhe weiter arbeiten können. Richten Sie Nieke bitte aus, dass sie den Rest des Tages frei hat, denn konzentriert arbeiten wird sie ja vermutlich nicht mehr.“
„Das sag ich ihr. Dankeschön!“
„Bitte.“ Herr Bloemberg verlässt das Büro und mit ihm die meisten der Angestellten.
„Ich könnte dich schlagen“, murmelt sie und nimmt die Brille ab, um sie zu putzen. „Niemand nennt ihn Junior, wenn er dabei ist! Und überhaupt! Vor allen Leuten! Ich werde keine ruhige Minute mehr haben!“
Ich lache nur darüber. „Pack deinen Krempel und lass uns abhauen. Du hast frei.“
„Hättest du mich nicht nach Feierabend fragen können? Dann hätte ich auch ja gesagt.“
„Es war halt eilig.“ Ich will sie küssen, aber leider schiebt sie mich weg.
„Was machst du eigentlich um diese Uhrzeit hier? Hast du auch frei bekommen?“
„Nein, ich muss wieder zurück in die Schule. Grietje wartet da auf mich.“
Wir gehen aus dem Gebäude, in dem sich nur freundliche Menschen aufzuhalten scheinen, denn alle lächeln uns zu.
An der Bushaltestelle angekommen sagt sie: „Wir machen es so: Ich fahre nach Hause und bringe mein Gesicht in Ordnung und du beendest deinen Arbeitstag und dann treffen wir uns vor der Schule.“

Vielleicht hätte man auch mir den restlichen Arbeitstag frei geben sollen, denn besonders konzentriert bin ich nicht mehr gewesen. Aber schließlich ist es geschafft, der Feierabend ist erreicht(390) und ich darf das Schulgebäude verlassen. Nieke wartet schon.
„Hoi“, sagt sie und schaut mich an. Und lächelt. Und fasst meine Hand.
Ach – ist das schön. Ich küsse sie. Jetzt macht sie mit.
Irgendwann trennt sie uns aber. „Können wir bitte hier weg gehen?“, wispert sie.
„Warum?“
Sie nickt mit dem Kopf beiseite. Jetzt bemerke ich die Gruppe Teenager, die lachend und johlend mit ihren Fahrrädern Kreise um uns fahren.
„Wo kommen die denn auf einmal her?“
„Sie sind schon die ganze Zeit hier.“
Na klar, wir stehen mitten auf dem Schulhof! „Und das ist dir unangenehm.“
„Ja.“
„Wo steht denn dein Auto?“
„Bei dir vorm Haus. Ich bin hergelaufen. Ich hatte gedacht, es wäre nicht so weit.“
„Du kannst auf dem Gepäckträger sitzen, du musst bloß meine Tasche festhalten.“
Das tut sie, und vor allem hält sie sich an mir fest. Ich könnte bis Peckovar fahren, damit sie mich nicht so bald loslässt. Mit dem Fahrrad bis Peckovar dauert bestimmt eine Woche.
„Wo fährst du denn hin?“, fällt ihr auf, dass ich einen anderen Weg nehme.
„Das wirst du sehen!“ Nein, nicht nach Bosnien!
„Ist es eine Überraschung?“
„Das Leben ist voller Überraschungen!“
„Ich liebe dich!“
„Und ich liebe dich!“

664

Mir fällt noch was ein. „Also ich mein jetzt nicht ihre Gründe, die weiß sie ja nur alleine, aber erklär mir doch bitte die Frau an sich.“ Bekanntermaßen kriegt man auf ungenaue Fragen keine genauen Antworten.
Nachdem eine Menge Sekunden verstrichen sind, ohne dass sie angefangen hätte mit ihrer Erklärung, erkundige ich mich: „Warum guckst du mich so an?“
„Ich wundere mich. Du hast mal erzählt, dass eine aus der Band dich einen Frauentyp genannt hat, aber gerade bist du durch und durch Mann, völlig ohne Einfühlungsvermögen.“
„Wieso ohne Einfühlungsvermögen?“, rege ich mich gleich auf und weiß gar nicht, warum eigentlich. „Ich hab sie doch die ganze Zeit gefragt, was los ist?!“
„Eben. Und sie hat es dir die ganze Zeit gesagt. Aber du hast nicht zugehört.“
„Hä? Überhaupt nichts hat sie gesagt! Außer, dass sie keine Zeit hat, aber sie hatte nichts sonst zu tun, und dass ihr nicht gut ist, aber krank war sie auch nicht. Hat sie vielleicht in der Zwischenzeit einen tollen Kerl kennen gelernt und mir nichts davon gesagt?“
Sie schüttelt mehrfach mit dem Kopf. „Jeremy. Du stehst davor und siehst es nicht.“
„Wovor? Was seh ich nicht?“
Meine Kollegin und Frauenerklärerin holt tief Luft und sagt: „Natürlich hat sie einen tollen Kerl kennen gelernt. Sie hat das nicht an die große Glocke gehängt, sie ist ja ein stiller Typ. Aber der Kerl hat wochenlang nicht auf ihre leisen Signale reagiert, als sie gemeinsam essen gegangen sind und im Kino waren und nachts die Sterne betrachtet haben und was weiß ich, was sie noch getan haben. Irgendwann hat sie die Hoffnung aufgegeben, weil er ihre Liebe nicht erwidert. Deswegen ist sie ihm aus dem Weg gegangen. Jetzt hofft sie, dass es ihr bald besser geht, ihre Wege haben sich nämlich getrennt.“
„Versteh ich nicht. Wieso kann sie mir das nicht einfach sagen?“
„Jeremy!“, schreit sie mich an und schlägt mit der flachen Hand auf die Tischplatte, dass ich vor Schreck zusammenzucke. „Du bist es! In dich ist sie verknallt!“
„Oh“, mache ich erstaunt. Auf einmal verstehe ich alles!(389) „Kann ich … ähm, ich muss mal weg. Also, dringend. Kann ich die Mittagspause überziehen? Ich übernehm dann für dich den langen Freitag.“
Sie winkt ab. „Ich freu mich immer, wenn ich dir helfen kann.“

Ich radele eilig heim. In meinem Kopf ist nicht viel los, aber das kreist herum wie der Hula-Hoop-Reifen um Merle, wenn sie mal wieder abnehmen will. Nieke! ist! verknallt! in! mich! Ich ziehe mich um, wähle die grüne Krawatte (darin ist immer noch der Knoten, den sie mir geschlungen hat) und fahre zum Bahnhof.
Dieses Mal nehme ich das Fahrrad mit in die Bahn. Ich kann es kaum erwarten, bis sie endlich losfährt. Und dann kann ich es kaum erwarten, bis sie in Hoorn ankommt.
In der Stadt will ich ihr einen großen Blumenstrauß kaufen, aber ich stelle fest, dass mein Geld nur für ein paar Blümchen reicht. Das sieht nach nichts aus. Nein, ich nehme eine rote Rose! Manchmal ist weniger mehr.
Ich fahre zu ihrer Arbeitsstelle. Auf dem Besucherparkplatz vorm Haus stehen zwei Autos mit deutschem Kennzeichen; ich fahre ums Gebäude herum, damit ich dem dienstlichen Besuch nicht in die Quere komme und mich womöglich erklären muss. Im Hof stehen wie immer ein paar LKW herum, die be- oder entladen werden. Ich schlängele mich an ihnen vorbei, stelle mein Fahrrad in den Ständer am Haus und betrete es durch den Hintereingang.
Den ersten Menschen, den ich treffe, frage ich: „Wo finde ich denn Nieke van den Bos?“
„Die müsste oben im Export sein. Treppe rauf und dann links.“
„Dankeschön!“ Ich nehme immer zwei Stufen auf einmal, halte mich oben angekommen links und stehe vor einer Glastür. Dahinter ein Büro mit vier Schreibtischen. Alle sind besetzt, zwei Frauen sind mit dem Computer zugange, zwei telefonieren. Nieke auch. Will ich so viel Publikum? Vielleicht will sie jetzt nicht mehr? Blödsinn. Außerdem ist es jetzt zu spät für solche Bedenken: die andere von den beiden Telefonfrauen hat mich bemerkt. Entschlossen betrete ich den Raum, gehe zu Niekes Schreibtisch, wo sie gerade den Hörer auflegt. Ich knie neben dem Tisch nieder und halte ihr die Rose hin.
Weil sie nichts sagt, frage ich: „Willst du mich noch?“
Sie kriegt sofort nasse Augen.
„Verzeihst du mir, dass ich so lange gebraucht hab, um das zu kapieren?“
Sie nickt.
„Willst du mich noch?“, wiederhole ich.
„Ja, ich will dich noch. Oh, Jeremy“, schluchzend fällt sie mir in die Arme. Zum Glück bin ich rechtzeitig aufgestanden, sodass wir nicht über den Fußboden kullern.

663

„Keine gute Idee!“, sagt er und schiebt mich aus der Küche, ehe ich ganz drin bin.
„Warum nicht?“
„Willst du meiner Freundin einen Schrecken einjagen?“
Ach so, die ist auch da. Na, war ja klar. „Wieso, weil ich nix anhab?“
„Weil du nichts anhast und dazu halbtot aussiehst.“
„Aber ich hab Durst.“
„Warte hier.“
Er kehrt mit einem Glas Wasser zurück, in dem sich sprudelnd eine Tablette auflöst. In der anderen Hand hat er eine Wasserflasche.
Ich trinke aus.
„Geh wieder ins Bett.“
„Nee. Wir sind doch heute beim Sender eingeladen. Wie viel Uhr ist es eigentlich?“
„Gleich elf. Das Interview war vor einer Stunde. Merle und ich waren da, wir haben dich anständig vertreten, denke ich. Wir haben auch bekannt gegeben, dass wir eine vakante Stelle haben. Vielleicht meldet sich ja jemand.“
„Vakant?“
„Frei. Unbesetzt.“
Ach so. Jetzt fällt mir alles wieder ein. Nieke hat uns verlassen.
In der Zwischenzeit hat er mir noch mehr Wasser eingeschüttet und ich trinke es wieder aus. Dann hilft er mir auf die wackeligen Beine und begleitet mich in mein Zimmer. Als ich im Bett liege, hockt er sich zu mir und fragt: „Was ist passiert zwischen dir und Nieke?“
Weil ich nichts sage (ich weiß es doch selber nicht), redet er weiter: „Merle und ich haben uns wirklich Hoffnungen gemacht, was euch betrifft. Ihr habt viel Zeit miteinander verbracht und es sah alles sehr gut aus. Und auf einmal ist sie wochenlang seltsam drauf und hat dir nicht gesagt, was los ist, sagst du. Aber kaum kündigt sie der Band, besäufst du dich dermaßen? Erklär es mir, Bruder.“
Ich wackele mit den Schultern.
Er streicht mir über den Kopf und wünscht: „Schlaf dich aus.“
„Mir ist kalt.“
„Ich bringe dir ein paar heiße Körnerkissen.“
„Geht ihr weg?“
„Ich bleibe hier.“
„Hast du mich aus der Kneipe abgeholt?“
„Ja.“
„Wie hast du mich denn gefunden?“
„Ein Kollege aus der Bäckerei war da. Er hat mich angerufen.“
„Du, Miloš … du bist mein allerbester Freund.“
„Und du bist immer noch besoffen.“ Er zieht das Rollo herab und geht aus dem Raum.

Es ist ausschließlich Doktor Miloš’ Fürsorge zu verdanken, dass ich heute wieder frisch in der Schule aufkreuzen konnte. Den ganzen Sonntag lang war mir so elend!
Wir haben uns schon gestern Abend voneinander verabschiedet, sie sind um vier nach Schiphol aufgebrochen; Polly hat sie abgeholt. Man fliegt zwei Stunden von Amsterdam nach Zagreb. Wenn die bosnischen Grenzer einen zügig durchlassen, kann man es in drei Stunden bis Peckovar schaffen. Macht mit dem Einchecken am Flughafen sechs Stunden. Und der Flug ist auch gar nicht so wahnsinnig teuer.(388) Wenn nur diese Flugangst nicht wäre!

„Grietje, hast du ein bisschen Zeit für mich?“, will ich zu Beginn der Mittagspause wissen, als wir gerade mal alleine im Raum sind.
„Solange du nicht wetten willst, freu ich mich immer, wenn ich dir helfen kann.“
„Also, das ist so.“ Wie fange ich am besten an? „Es geht um die Nieke. Die war in letzter Zeit total komisch. Früher haben wir ganz viel zusammen unternommen, waren essen und ins Kino und so weiter, und dann war sie ein paar Wochen lang ganz seltsam“, versuche ich es ausführlich zu machen, damit sie nicht hundertmal nachfragen muss. „Ich hab sie gefragt, was mit ihr los ist, warum sie keinen Bock mehr hat auf Kino und so. Ihr ist nicht gut, hat sie gesagt. Bist du krank?, hab ich sie gefragt. Einmal im Monat habt ihr Frauen das ja mal, aber ständig? Nein, hat sie gesagt, sie ist nicht krank. Ich hab sie gefragt, wann wir mal wieder was unternehmen. Sie hat sagt, dass sie keine Zeit hat. Ist Stress in der Firma, hab ich sie gefragt. Nein, hat sie gesagt, da läuft alles normal. Und so ging das nur. Manchmal ist sie mir richtig sichtbar aus dem Weg gegangen. Ich dachte, wir wären Freunde und könnten über alles reden. Ich wollte diese Woche mit ihr reden, der Miloš ist ja gerade nicht da, also gibt’s keine Ablenkung. Ja. Und dann hat sie drei Sekunden nach dem Auftritt vom Samstag Schluss gemacht. Also mit der Band. Gekündigt. Und keinem hat sie erklärt, warum. Kannst du mir das erklären?“
Grietje mustert mich.

662

„Aber warum hast du denn vorher nie … wir hätten bestimmt“, kann er es nicht fassen.
„Ich wollte es nicht eher sagen, weil man keinen guten Auftritt spielen kann, wenn man weiß, es ändert sich alles. Also, danke für die Zeit bei euch. Tschüss.“ Damit nimmt sie ihren Geigenkasten und geht eilig weg.
Wir drei gucken uns sprachlos an. Damit hat keiner gerechnet! Merle löst sich als erste aus der Starre und rennt hinter Nieke her.
„Weißt du, was bei ihr los ist?“, fragt Miloš. „Ihr hängt doch immer miteinander rum.“
„Von wegen. Seit Wochen nicht mehr.“
„Aber du bist doch ständig bei ihr eingepennt?“
„Vor Wochen zuletzt.“
„Ach, deswegen bist du so übermüdet!“
„Sehr witzig!“(387)

Der Tag ist bis zu unserem Abgang von der Bühne super gewesen, aber dass sie uns einfach so verlässt – das zieht mich ganz schön runter. Montag oder Dienstag wollte ich mir ihr reden, warum sie sich so komisch verhält, und jetzt?
Auf einmal stellt sich mir die Frage, wofür wir uns den Kram mit der Band überhaupt antun. Lisannes ehemaliger Platz ist schon wieder frei. Muss das vielleicht so sein, quasi als Bremsanker, damit wir die Bodenhaftung nicht verlieren? Weil wir sonst durch die Decke schießen würden, von immer mehr Bands als Vorband gebucht und schließlich den Job an den Nagel hängen und selbst als Hauptband auf Tour gehen könnten, CDs veröffentlichen und zu Tausenden verkaufen, Lieder einspielen mit Bono und Shakira (zusammen!), und reich und berühmt würden?
Oder habe ich etwas falsch gemacht? Ich als Bandchef, ich als Bandmitglied, ich als privater Jeremy? Warum hat sie nie mit uns über ihre Gründe gesprochen? Und seit wann hat sie schon vor, uns zu verlassen? Sie hat ja gesagt, dass sie sich frage, ob es der richtige Schritt oder der richtige Zeitpunkt sei.
Gibt es für so etwas überhaupt einen richtigen Zeitpunkt?
Ich glaube nicht.
Danke für die Zeit bei euch, tschüss. Das soll alles gewesen sein?
Ich tue etwas, das ich sehr lange nicht getan habe. Ich lasse mich in einer Kneipe nieder und trinke ein Bier und erkläre den Sitznachbarn meine Gründe, trinke noch ein Bier und einen Schnaps und so geht das eine Weile weiter.


vorletztes Kapitel

Auf dem Fußboden wache ich auf. Mir ist eiskalt, alles tut weh und ich kann mich kaum bewegen. Wie lange liege ich hier schon?
Mühsam krabbele ich zurück ins Bett und verkrieche mich zitternd unter die Decke. Leider wird’s nichts mit dem Einschlafen, denn ich muss zum Klo und habe zugleich einen wahnsinnigen Durst. Vorsichtig setze ich mich auf. Das Zimmer fängt sofort an sich zu drehen.
Ich weiß nicht, wie ich es nach unten schaffe; es dauert lange.
Das ganze Bad ist voll grellem Sonnenschein, ich versuche das Rollo herab zu ziehen. Es hakt mal wieder. Ich rucke fester an der Strippe, bis die ganze Konstruktion von der Wand kommt. Aber zum Fluchen fehlt mir die Energie.
Ich setze mich aufs Klo und sitze dann da mit geschlossenen Augen, um die Helligkeit aus meinem Kopf auszusperren.
Warum hab ich bloß so reichlich gesoffen? Wir sind doch gut gewesen auf der Bühne?
Au weia. Ich kann mich an überhaupt nichts erinnern.
Nebenan dudelt das Balkanradio. Das ist gut, denn mehr Gesellschaft als Miloš kann ich gerade nicht ertragen. Ich schlurfe rüber.

661

Merle schaut sich den Contest an, um unserer morgigen Vorband beim Gewinnen zuzusehen und Bands für andere Events kennen zu lernen, Nieke verschwindet wie immer schnell irgendwohin und Miloš hat schon wieder Kohldampf. Diesmal gehe ich mit zum Essen.
Am Pizzastand stöbert Grietje uns auf. Sie packt mein Hemd, versucht mich durchzuschütteln und pöbelt mich lachend an: „Womit hatte ich das verdient? Ihr hättet das Lied auch prima ohne mich singen können!“
Ich lache auch. „Du hast mit mir gewettet, ich hab verloren und sollte dir eine Überraschung machen.“
Sie schnaubt. „Ich wette nie wieder mit dir!“
Ich lache noch mehr. „Wetten nicht?“
„Ich lasse dich nie wieder verlieren!“
„Oh, tu das bitte nicht“, mischt Miloš sich ein. „Dann wird er größenwahnsinnig.“


zweihundertsechstes Kapitel

Zu dritt haben wir die halbe Nacht lang durch das Sommerfest gefeiert, einige Einladungen als Vorgruppe zu Konzerten anderer Bands erhalten und, was mich besonders freut, die Möglichkeit, bei „strand en muziek“ mitzuwirken.
Das ist eine Reihe von kleinen Open-Air-Konzerten, die in der Hauptsaison an der Küste zwischen Alkmaar und Den Helder stattfinden, alle zwei Samstage eins, immer an wechselnden Orten. In Egmond, Petten und Castricum war ich schon mehrfach dabei, aber natürlich immer als Zuschauer. Und das ist schon wunderschön, zwischen den Dünen als Kulisse, dem Meeresrauschen als Hintergrundmusik und dem Sonnenuntergang als Beleuchtung zu stehen und einer guten Band zu lauschen.(386)
Die beiden Veranstalter erklären, dass sie immer auf der Suche nach neuen frischen Bands sind, die für ein kleines Publikum alles geben und vor großen Mengen kein Muffensausen kriegen, dabei aber möglichst wenig kosten. Fahrtkosten und Unterbringung bzw. kleine Gagen sind drin, der Rest ist die Referenz der Band, Bühnenerfahrung, eine Liveaufnahme.
Finanziert wird der Spaß zur Hälfte durch die Eintrittsgelder, den Rest tragen Sponsoren und die Tourismusbüros der Ortschaften.

Als wir nach dem Auftritt die Bühne verlassen, sind wir wie üblich total aufgekratzt.
Leider haben wir nicht viel Gelegenheit, diesen Zustand zu genießen.
„Darf ich mal was sagen?“, fragt Nieke.
„Na klar“, wundert Merle sich über die förmliche Ankündigung.
Miloš stößt mich kichernd in den Rücken, „Hör gefälligst zu!“
Ich nehme ihn in den Schwitzkasten, „Hör selber zu!“
„Können die Herren dann mal?!“, schnaubt Merle, zieht uns auseinander und schließlich stehen wir in erwartungsvoller Stille.
„Das war unser letzter gemeinsamer Auftritt. Ich habe–“
„Warum denn das?“, geht Miloš gleich dazwischen.
„Lass sie doch ausreden!“, muss ich noch mehr dazwischen gehen.
„Ich wollte sagen, ich habe lange darüber nachgedacht, ob es der richtige Schritt oder der richtige Zeitpunkt ist, aber … mir ist kein besserer eingefallen. Tut mir leid, wenn ihr die Bandpläne nun ändern müsst.“

660

„Aber ich kann es nicht singen“, merkt Miloš an, „Ich kenne das Lied nämlich nicht.“
„Okay, dann führe ich.“
Er gibt mir die Gitarre und stellt stattdessen seinen Bass auf den Ständer.
Als Simone uns damals verlassen hat, hat Lisanne prophezeit, dass wir – solange die Chemie stimme – sogar Kinderlieder spielen könnten und das Publikum würde ausrasten. Genau das passiert nach den ersten zwei Zeilen, die wie folgt klingen:
Twee emmertjes water halen,
twee emmertjes pompen …
Die Leute klatschen, hüpfen herum, einige machen eine Polonaise, andere halten sich an den Händen, bilden Tunnel und lassen weitere Leute drunter her laufen, die sich am Ende des Tunnels anstellen und den Spaß über den ganzen Platz vor der Bühne vorwärts treiben.
Wir lassen ihnen drei Durchgänge, um sich auszutoben und kehren dann zur seriösen Musik zurück, nachdem wir Grietje (die mir „Wir sprechen uns noch!“ androht) mit großem Jubel verabschiedet haben.

Wie bei jedem Auftritt haben wir auch heute ein neues Lied dabei.
Es heißt Волим те, das ist serbisch und heißt „ich liebe dich“. Miloš hat es vor zwei Wochen für Merle geschrieben, und es ist das fetzigste Liebeslied, das ich bis dahin gehört hatte. Er hat es Zeile für Zeile übersetzt; er zählt nur auf, was er an ihr liebt. Er liebt ihr Gesicht, er liebt ihre Augen, er liebt ihren Mund, der so schöne Dinge sagen kann. Er liebt dies, er liebt jenes, er liebt alles – die Strophen sind kurz, der Refrain ist einfach und lädt zum Mitgrölen ein, auch wenn man gar kein Wort versteht. Ein Gassenhauer.
Wäre unser Publikum nicht schon in Schwung gewesen, hätten wir es hiermit bestimmt auf Touren bringen können.

Tja, und dann ist unsere halbe Stunde um und wir verlassen die Bühne, obwohl lautstark und ausdauernd nach mehr verlangt wird.
Meine Bedenken waren berechtigt, sie wollen uns nicht gehen lassen, die Zugabe!-Rufe verstummen nicht. Auch als der erste Contest-Teilnehmer auf der Bühne steht, ist immer noch Unruhe. Die Jurymitglieder haben die Situation leider überhaupt nicht im Griff.
Ein Pulk skandiert ständig unseren Namen, ein anderer tanzt weiter Polonaise und singt „Twee emmertjes“.
„Das ist ja so total scheiße“, stellt Merle fest. „Die Leute wollen was anderes hören und die Mädels hier auf der Bühne haben nur zehn Minuten Zeit. Und keine Chance.“
Jetzt kommt auch ein Jurymitglied zu uns. Der Mann sieht schon ziemlich genervt aus. „Ich weiß nicht, was ihr angefangen habt, aber hört damit auf. Bringt die Leute zum Schweigen. Wir wollen hier unseren Contest machen.“
„Dürfen wir vielleicht danach wieder auf die Bühne und noch eine Stunde spielen?“, kommt mir eine Idee.
„Was ihr nach dem Contest macht, ist mir egal. Ihr könnt so viel Blödsinn machen wie ihr wollt oder bis die Stadt irgendwann den Strom abdreht. Aber“, er klopft Merle auf den Arm, die er offenbar für den Bandchef hält, „solange unser Contest läuft, bändigt ihr eure Fans!“
Miloš schiebt die Hand beiseite. Ich verspreche: „Tun wir“, und weise zur Bühne hin: „Kriegen die Damen noch fünf Minuten dazu?“
„Von mir aus!“
Weil gerade eine Pause zwischen zwei Liedern entstanden ist, nutze ich die Gelegenheit und laufe auf die Bühne. „Darf ich mal?“, frage ich die Sängerin und zeige auf ihr Mikro.
Die hebt die Schultern und lässt mir den Vortritt.
Ich nehme es aus der Halterung und wende mich an unsere lauten Fans: „Liebe Leute, ich hab ein Angebot für euch. Ihr haltet Ruhe, bis der Contest vorbei ist – übrigens ist das der Grund, weshalb wir alle hier versammelt sind, falls ihr das vergessen haben solltet – und wenn das gut klappt, gibt es hinterher Zugabe von uns.“
Beifall brandet auf.
Allerdings glaube ich nicht, dass das schon reicht. Ich kehre meine Bandchefautorität heraus: „Wenn wir Lärm hören, der nicht zum Contest gehört, gibt es keine Musik von uns. Benehmt euch gefälligst. Wir haben auch mal klein angefangen, mit einer Handvoll Fans, und die Chance brauchen die Mädels hier genauso.“
Noch mehr Beifall.
Zu den drei jungen Frauen sage ich: „Ihr habt fünf Minuten mehr. Ich habs mit der Jury abgesprochen.“
„Danke.“

659

„Merle“, unterbreche ich. „Wir machen es.“
Finster mustert sie mich. „Ist das hier so ein Bandchef-Autoritäts-Ding?“
„Jep.“
„Verdammt, meinetwegen!“, schnauzt sie mich an.(384)
„Nach „Son of God“ kehren wir zur Setliste zurück“, legt Miloš den Ablauf neu fest. „Das zweite Lied bleibt das zweite Lied und so weiter. „Come as you are“ kommt dann irgendwann später, ich kündige es an. Alles klar?“
„Ja“, beschließe ich stellvertretend für die anderen und scheuche sie zum Bühneneingang.


zweihundertfünftes Kapitel

Ich gebe den Rhythmus vor, Nieke übernimmt den Klavierpart des Originals, Miloš den der E-Gitarre. Mittlerweile nutzt er so viele Effektgeräte, dass er mehrere Bands versorgen könnte. Merle legt einen heißen Tanz mit dem Mikroständer hin und wartet auf ihren Einsatz.
Auf einmal kommt mir der Verdacht, dass das mit der Betriebstemperatur keine so gute Idee von den Veranstaltern war. Was, wenn die Bands und Interpreten nach uns eher ruhige Musik machen wollen? Vor der Bühne hüpft unser Fanclub und macht mächtig Stimmung. Wahrscheinlich werden sie uns nach nur einer halben Stunde nicht gehen lassen wollen – da sind sie ja anderes gewöhnt.
Miloš tritt zu mir ans Schlagzeugpodest. „Grietje ist auch da“, ruft er mir ins Ohr. „Sie bekommt noch eine Überraschung von uns. Sollen wir sie gleich auf die Bühne holen?“
Ich nicke, denn das Headset ist angeschaltet, jeder würde meine Antwort hören.
Merle hat die erste Strophe durch, er verfügt sich an sein Mikro und wir singen mit: „You are the son of god!“
Zielgruppe hin, Siebziger her, es funktioniert einwandfrei. Danke Jesus!
Wo Ian Anderson danach mit dem Querflötensolo eingesetzt hätte, ist wieder Nieke an der Reihe. Ich wusste nicht, dass man so mit einer Geige umgehen kann. Überwältigend.
Es stellt sich heraus, dass Miloš’ Ansage nicht stimmt. Das zweite Lied der Liste ist nicht das zweite Lied, sondern es ist meine Version von „Come as you are“. Aber Merle nimmt es gelassen. Sobald sie auf der Bühne steht, ist sie durch nichts mehr aus der Ruhe zu bringen. Sie liebt die Bühnenkante, wo alle Augen auf sie gerichtet sind, denn sie war fast ihre ganze Kindheit die Kleinste(385), die sich irgendwie bemerkbar machen musste.
Nach dem Lied gehe ich nach vorn und wende mich ans Publikum. „Das Lied sagt, dass jeder kommen kann, wie er ist, sich niemand verstellen muss. Wir wollen jetzt mal mit euch ausprobieren, wie locker ihr seid. Zur Unterstützung haben wir fürs nächste Lied einen Special Guest eingeladen. Einen Applaus für Grietje de Kock!“
Ich höre sie bis hier hin quieken: „Das ist nicht euer Ernst!“
Während sie unter Gelächter und Rufen zu uns herauf kommt, erkläre ich den Freunden, was wir vorhaben: „Gleich stimmen wir „Twee emmertjes“ an und sie darf mitsingen. Natürlich verwenden wir nicht unsere normalen Instrumente, sondern machen Kinderkrach!“
„Wieso lässt du sie nicht alleine singen?“, fragt Merle. „Das Lied kennt doch jeder.“
„Weil sie unser Gast ist und wir sie nicht in die Pfanne hauen wollen. Außerdem, was machst du dann die ganze Zeit?“
„Ich könnte mal die Harmonika bedienen, dachte ich“, sagt sie. „Zugleich tröten und singen geht ja nicht.“

658

„Das weiß ich auch nicht“, grinst er. „Nach dem Urlaub muss ich noch mal hin, dann werden die Konturen nachgearbeitet. Wahrscheinlich gibt das zuhause große Diskussionen. Die wissen nämlich noch nichts davon, dass ich kein Bosnier mehr bin.“
„Wieso nennst du Peckovar auf einmal zuhause?“
„Wer behauptet denn so etwas?“
„Du hast gerade gesagt, dass es zuhause wahrscheinlich große Diskussionen geben wird.“
„Ach so. Ich meine nicht Peckovar, sondern Dragans Haushalt. Das ist mein bosnisches Zuhause. Warum fragst du da gleich so nervös nach?“
„Ich frage nicht nervös nach, sondern erstaunt. Warum hast du Dragan nichts von der Staatsangehörigkeitssache erzählt? Du denkst ja schon ziemlich lange darüber nach und in der Zeit waren wir zweimal in Peckovar.“
„Ich hatte keine Lust, ihm vorher meine Beweggründe zu erklären. Jetzt sind es Tatsachen, ich werde es nicht zurück nehmen. Nicht wollen und nicht können, was das hier betrifft.“ Er zeigt auf seinen Arm.
„Deswegen hast du das Tattoo vor dem Urlaub machen lassen. Als sichtbares Zeichen.“
„Ja. Ich habe ein bisschen Angst davor, dass mich einer anspricht, ob ich mich in der Reihenfolge der Farben vertan habe. Das wäre peinlich.“
„Wieso Reihenfolge der Farben? Bosnien hat doch blau und gelb?“
„Jeremy!“, klagt er mit verdrehten Augen, „nicht Bosnien! Srpska!“
„Aber du hast doch gerade noch gesagt, dass du kein Bosnier mehr bist!!“
„Vergiss es“, wehrt er ab, „Denk bitte nicht mehr darüber nach. Gut, dass ich endlich Niederländer bin. Du hättest es nie kapiert.“
Ich sage nichts zu meiner Verteidigung, denn er hat seine Meinung ja schon gefasst. Allerdings habe ich den Verdacht (und den nicht erst seit gestern), dass er diese Nationalität-Herkunft-Geschichte immer so gedreht hat, dass meine Antwort genau die falsche war.
„Mal eine andere Frage: Willst du dir nicht auch ein Tattoo stechen lassen? Ich würde gerne eins für dich entwickeln.“
Ich hebe die Schultern. „Mit welchen Muskeln soll ich so eine Flagge denn bewegen?“
„Ich sagte doch, ich würde gerne eins für dich entwickeln. Eins, das zu dir passt.“
„Aha. Na ja, lass mal.“
„Warum nicht?“
Ich schaue zur Uhr, „Wir müssen.“

Zugleich mit Nieke und Merle treffen wir hinter den Aufbauten ein. Wir bilden einen Kreis und ich fange an zu beten: „Jesus, ich danke dir, dass du uns diesen Auftritt möglich gemacht hast. Vor allem danke ich dir, dass wir uns keinen Bassisten ausleihen mussten, sondern dass Miloš endlich wieder gesund ist und genauso Tempo macht und rockt wie früher. Mach uns stark, damit wir uns auf die Musik konzentrieren können. Segne bitte, was wir vorbereitet haben oder sag uns, was wir sonst tun sollen. Bewahre uns auf der Bühne und gib uns Gunst bei den Leuten, auch wenn wir nicht am Contest teilnehmen. Wir machen das hier nicht für einen Plattenvertrag oder wegen unserem irrsinnigen Talent, sondern wir wollen von dir erzählen. Das wollen wir auch morgen auf der Bühne am Rathaus tun. Aber das geht nur, wenn du uns hilfst. Segne auch die anderen Musiker, dass sie zeigen können, worauf sie sich vorbereitet haben. Gib ihnen allen eine gute Zeit, auch wenn nur einer gewinnen kann.“
„Amen“, schließen die drei sich an und unser Kreis löst sich.
Miloš zieht die blaue Jacke aus, hängt sich den Bass um und stimmt noch mal. Auf einmal sagt er: „Wir sollten nicht mit deinem „Come as you are“ anfangen.“
„Warum nicht?“, will ich wissen.
„Wir haben abgestimmt. Wir waren alle dafür“, erinnert Merle.
„Warum sollten wir es nicht spielen?“, wiederhole ich.
„Weil du gebetet hast, dass Jesus sagen soll, was wir sonst tun sollen. Ich glaube, er sagt, „Son of God“ ist besser für den Anfang.“
„Aber das da draußen ist die falsche Zielgruppe für das Lied!“
„Trotzdem.“
„Aber was ist, wenn du dich irrst und er was ganz anderes gesagt hat? Woher weißt du eigentlich, dass Gott es war?“
„Ich kenne seine Stimme.“
Solange er keinen anderen Beweis hat als Gewissheit und sie kein anderes Argument als Zweifel, können sie jahrelang ergebnislos weiter diskutieren. Dafür ist jetzt keine Zeit.
„Aber wenn–“

657

Die Bühne ist auf dem Parkplatz eines großen Supermarktes aufgebaut. Rundherum befinden sich allerhand Stände mit Essen und Trinken, und an einem mit großem Grill treffe ich Miloš, der ein Steak mit reichlich Fritten und noch mehr Soße verzehrt. Einladend schiebt er mir den Teller hin und ich nasche ein paar trockene Fritten. Die Soße will ich lieber nicht riskieren, auch wenn sie gut riecht. „Wir können aber auch woanders hingehen, dann nehme ich das hier mit.“
„Lass nur. Bestimmt wirst du später noch mal Hunger kriegen, ich esse dann was.“(383) Dabei fällt mir auf: „Warum trägst du dieses Dings?“ Ich weise auf seine knallblaue Kapuzenjacke. Die muss er neu haben, ich habe sie noch nie in der Wäsche gehabt. Ein Stück mit der Farbe wäre mir wohl aufgefallen! Drunter trägt er ein weißes T-Shirt.
„Merle hat es mir geschenkt. Und das Shirt auch. Sie meint, ich darf jetzt weiß tragen, weil ich selber nicht mehr so weiß bin.“
„Aber es hat lange Ärmel! Und jetzt ist Sommer!“ Du wolltest doch nicht mehr frieren, lautet der Vorwurf zwischen den Zeilen.
„Du trägst heute auch lange Ärmel“, entgegnet er mit Blick auf mein schwarz-gelb-grün kariertes Hemd.
„Weil ich ein normales Temperaturempfinden habe und du hast keins.“
„Siehst du. Hätte ich eins, säße ich hier sicher mit geschlossenem Reißverschluss, weil es ja so schrecklich kalt ist.“
„Bäh.“
„Ich wollte einfach nicht bis zum Winter warten, bis ich die Jacke trage. Wenn ich dich damit beruhigen kann: vor dem Auftritt ziehe ich sie aus.“
„Oh, danke, das beruhigt mich tatsächlich.“
„Übrigens war ich heute früh beim Tätowierer.“
„Wolltest du nicht erst im Herbst zum Allergietest, bevor du dir ein neues stechen lässt?“
„Das ist eine andere Geschichte.“
„Aha. Du hast also dein restliches Geld genommen, was nicht für den Flug nach Zagreb drauf gegangen ist, und jetzt bist du ein Bild reicher und ansonsten pleite. Ja?“
„So ist es“, lacht er. „Willst du es sehen?“
„Klar.“
Er wischt sich die Finger an der Papierserviette ab und zieht die Kapuzenjacke aus. Das vermeintliche T-Shirt hat übrigens keine Ärmel.
Zu sehen ist ein Ornament, das wie eine Kette um den Oberarm hängt. Daran baumelt eine Flagge mit niederländischem Wappen, die fast bis zum Ellbogen reicht. Die Haut rund um die frische Tätowierung ist geschwollen und gerötet, was den Gesamteindruck kaum stört.
„Cool“, sage ich. „Aber sag mal, täusche ich mich oder hast du jetzt viel mehr Muskeln als früher? Oder denk ich das nur, weil du zwischendurch so dünn geworden warst?“
Er grinst geschmeichelt. „Es sind mehr. Ich habe sie speziell trainiert. Es war die beste Gelegenheit dafür, weil ich ohnehin alles neu aufbauen musste.“
„Was sagt Merle dazu?“
Er grinst noch mehr. „Die geht da voll drauf ab.“
Ich pfeife durch die Zähne. Schenkt sie ihm womöglich langärmelige Sachen, weil noch nicht September ist?
„Aber das beste hast du ja noch gar nicht gesehen. Pass mal auf.“ Er spannt die Muskeln an und ich sehe, dass die Kette genau die Grenze zwischen zwei Muskeln betont. Der Arm sieht jetzt noch muskulöser aus.
„Krass! Wo hast du das Bild gefunden? Es passt genau auf deinen Arm!“
„Natürlich passt es, was denkst du? Ich habe es nicht gefunden, sondern entworfen.“
Übertrieben klopfe ich mir vor die Stirn. „Wie konnte ich nur annehmen, dass du dich beim Tätowierer mit irgendeinem Bilderbuch abgibst?“

656

zweihundertviertes Kapitel

Ungefähr drei Monate lang ist mein Freund immer schwächer und kränker geworden.
Nach der OP hat er demonstriert, warum Grietje und einige andere Leute ihn „Überholspur-Miloš“ nennen. Er hat gefuttert wie der sprichwörtliche Scheunendrescher und hat Liegestütze und Situps trainiert, hat mich eine Stange für Klimmzüge in seinen Türrahmen montieren lassen, ist auf Händen die Treppe herauf und herunter getapst und hat allerhand andere Dinge getan, die ich eher in einem Zirkus erwartet hätte als bei uns zuhause. Sobald die Kardiologin ihm das Okay gegeben hat, ist er täglich längere Strecken gelaufen und geschwommen. Die Pullover hat er längst weggeräumt, denn er friert nicht mehr und seine T-Shirts füllt er wieder mit Muskeln und Lebensfreude aus. Er ist sogar ein bisschen braun geworden. Voller Stolz hat er es mir gezeigt. Es ist sein erster Sommer als Niederländer, und alle Niederländer, die er kennt, werden im Sommer braun.(382)
Natürlich ist er auch noch glücklich mit Merle und sie ist es mit ihm. Und das Versprechen, das sie einander gegeben haben (bis September die Finger voneinander zu lassen – das kann man nicht einseitig durchziehen, so etwas müssen beide Partner wollen, sonst klappt es nicht) scheint zu gelingen. Ich weiß von ihrem „Septemberversprechen“, weil ich als Zeuge dabei sein musste.
Sie sind oft bei uns; nicht, weil sie mich als moralischen Beistand brauchen, sondern weil Merle es toll findet, wenn sie zugleich ihren Liebsten und mich treffen kann. Das ist zwar schön, weil ich dann auch beide auf einmal sehe, aber mein Singledasein wird auf eine harte Probe gestellt. Meine beiden besten Freunde sind derart ineinander verknallt, dass es manchmal weh tut, ihnen nur zugucken zu können. Das geht schon seit einem Monat so und Abmilderung ist nicht in Sicht.
Meine zwischenzeitlichen Überlegungen bezüglich Nieke sind im Sande verlaufen. Leider. Seit ein paar Wochen ist sie eher abweisend, geht mir aus dem Weg, will nicht mehr mit mir ins Restaurant oder ins Kino gehen, hat keine Zeit für Spaziergänge, gemütliche Abende bei uns oder Merle und so weiter. Ich habe keine Ahnung, ob ich sie vergrault habe und wenn ja, womit. Oder ob ich gar nichts damit zu tun habe. Manchmal denke ich auch, dass sie irgendwas belastet, denn sie sieht nicht mehr so fröhlich aus wie sonst und sie lacht kaum noch. Nächste Woche, wenn Merloš weg sind und keine Ablenkung liefern, werde ich kraft meines Amtes als Bandchef ein Gespräch einfordern.
Wenn das schief geht, fürchte ich, müssen wir uns eine neue Musikerin suchen. (Nein, ich fürchte, dass es schief geht und wir uns eine neue Musikerin suchen müssen.)

Bei der feierlichen Eröffnung des Sommerfestes durch unseren Bürgermeister John Boos war ich nicht anwesend, denn die fand an der Rathausbühne statt und in einer halben Stunde geht der Bandcontest am anderen Ende der Stadt los. Trotz des kühlen und bedeckten Wetters sind die Straßen überfüllt; ich wollte es lieber nicht drauf ankommen lassen, ob ich den Weg pünktlich schaffe.
Sechs Bands und Einzelinterpreten sind gemeldet, sie dürfen jeweils zehn Minuten lang ihr Können beweisen. Um die Umbaupausen so kurz wie möglich zu halten, hat die Stadt Zuyderkerk ein bisschen Geld in die Hand genommen und ein Schlagzeug ausgeliehen, das wir alle nutzen dürfen.
Was nach fünf Minuten nicht auf der Bühne steht, kann nicht genutzt werden oder es gibt Punktabzug für schlechte Organisation und Unpünktlichkeit. Auch Bühnenpräsenz wird bewertet und Umgang mit dem Publikum sowie – natürlich – die musikalische Qualität.
Die Jury besteht aus einer Frau von der städtischen Musikschule, zwei Männern, die auch irgendwas mit der Stadt und ihrer Kultur zu tun haben und zwei Vertretern des lokalen Radiosenders, der die Stadt und das Veranstaltungsteam beim Sommerfest unterstützt.
Unsere ehrenvolle Aufgabe ist es, das Publikum vorher ein bisschen auf Temperatur zu bringen. Dafür sind wir uns nicht zu schade! Ob als Einheizer, Vorband oder Hauptband, wir spielen für eine Handvoll Fans und ein ganzes Stadion, wenn sich eins findet. Außerdem haben wir ja nichts zu verlieren in diesem Contest. Wir werden so oder so morgen noch einmal spielen – der Sieger des heutigen Wettbewerbs wird dann unser Einheizer sein. Und im Gegensatz zu den anderen Bands haben wir nicht nur zehn, sondern dreißig Minuten Zeit.

655

Au weia! Was soll denn das werden?
Weil ich nichts sage, fügt sie an: „Lass sie doch mal ein paar Wochen wachsen und dann gehen wir zusammen zu meiner Freundin Celia, die ist Frisörin und macht auch Typberatung. Sie ist wirklich gut.“
„Meinst du, ich hätte ein bisschen Typberatung nötig?“, erkundige ich mich spitzfindig.
Sie schnaubt. „Reg dich ab, Jeremy, du bist ja nicht verpflichtet, ihre Tipps anzunehmen.“
„Dazu würde zumindest passen, dass mein Rasierapparat gerade verschwunden ist.“
Gleich lacht sie wieder. „Ein Wink des Himmels!“
„Ich glaube nicht, dass irgendwer im Himmel was mit dem Verschwinden meines Rasierers zu tun hat.“ Miloš lacht mit, „Eher dein irdisches Durcheinander!“
„Pass auf, worüber du dich belustigst, du nutzt den Rasierer auch!“
„Ich dachte, er rasiert sich nass?“, fragt Nieke.
Woher weiß sie das? Reden sie etwa über sowas miteinander? Hat sie nicht gesagt, dass sie ihn nicht einschätzen kann? „Ja. Am Kinn. Aber die restliche Frisur hält er mit meinem Rasierapparat in Ordnung, seit sein Vorkriegsmodell mit Holzvergaser den Geist aufgegeben hat.“
„Vorkriegsmodell mit Holzvergaser! Du klingst ja richtig belesen“, gibt er keine Ruhe.
Ich lasse mich nicht ablenken, „Es gibt Aufsetzer für verschiedene Längen, wie bei einer Haarschneidemaschine.“
„Wofür hast du so einen guten Rasierer, wenn du dir nur Ultrakurzfrisuren machst?“
„Popp hat ihn mir geschenkt. Und stell dir vor, er hat mir keine Vorschriften gemacht, wie ich auszusehen habe.“
„Jeremy! Reg dich ahab!“, leiert sie, „Ich mache dir keine Vorschriften. Es sind mal wieder bloß Tipps. Du kannst ihnen folgen oder es sein lassen.“ Sie streichelt wieder über meinen Kopf und fragt Nieke: „Was meinst du, den Bart etwas kürzer, und hier … guck, so … und da“, erklärt sie ihr, wovon ich nichts verstehe. Dann will sie wissen: „Zu welchem Frisör bist du denn sonst immer gegangen?“
„Zu keinem.“
„Nein, ich meine früher.“
„Ich sag doch, zu keinem. Ich war noch nie beim Frisör, außer wenn ich als kleiner Junge mit Mommi mitgegangen bin. Aber dann war ich Zuschauer.“(381)
„Wie ist denn das möglich? Du hattest doch nicht immer so eine Beinah-Glatze?“
„Als Junge hat Popp mir Frisuren gemacht, als ich größer wurde, war ich Langhaariger und brauchte keinen Frisör.“
„Du hattest lange Haare?“, unterbricht Merle ungläubig.
„Und wie“, mischt Miloš sich ein, der sich sichtlich gut unterhalten fühlt. „In Niekes Haarfarbe und auch ungefähr so lang. Aber nicht glatt, sondern mit Locken.“
„Oooh“, stöhnt sie lustvoll auf. „Gibt es Fotos davon?“
„Erinnere mich daran, wenn wir das nächste Mal Amalia besuchen.“
Jetzt geht die Frage wieder an mich: „Wann hast du sie abgeschnitten und warum?“
„Vor zwei Jahren gab es ein einschneidendes Erlebnis.“
Auf einmal ist die Heiterkeit aus ihrem Gesicht verschwunden. Sie seufzt: „Wieso seid ihr bloß beide auf dieselbe Frau reingefallen? Vor allem, warum hast du dich auch noch auf sie eingelassen? Du hättest doch wissen können, dass sie dir nicht gut tun würde, wenn sie bei Jeremy schon so ein Elend hinterlassen hatte.“
„Es war keine Frage der Vernunft. Ich habe nicht mit dem Kopf gedacht.“
„Immerhin bist du ehrlich.“

654

„Segeln, zelten, schwimmen, Fisch am Lagerfeuer grillen, die Mitternachtssonne sehen, hübsche Schwedinnen treffen und so“, umschreibe ich vage. „Männerkram halt.“
„Was wollt ihr denn mit hübschen Schwedinnen?!“
„Sie kennen lernen und dann feststellen, dass keine so großartig ist wie du“, ruft er.
„Das will ich aber auch hoffen! Vielleicht ist es besser, dass aus der Reise nichts wird, sonst kommst du womöglich auf dumme Gedanken!“
Ich habe so meine Zweifel, ob die Reise nach Bosnien nicht auch zu dummen Gedanken führt, immerhin werden sie viel Zeit zweisam verbringen und es ist ja noch nicht September. Aber das muss er selbst wissen.(380)
„Jeremy, wo hast du etwas zu trinken? In der Kajüte?“
„Nein, guck mal in der Klappe nach. Unter dir.“
Er steht von der Matte auf und findet unter der Klappe noch zwei 1,5-Liter-Flaschen aus einem großen Sechser Mineralwasser. Merle ist gleich bei ihm, er gibt ihr eine Flasche, sie trinkt durstig. „Wollt ihr auch?“, fragt er derweil.
„Ja, aber lasst mich aus eurer Flasche trinken. Ich will nämlich keine anderthalb Liter.“
„Und du, Nieke?“
„Danke, ich mag nichts.“
Nachdem er getrunken hat, bringt Merle mir die Flasche. Neben mir bleibt sie stehen, hält sich mit der einen Hand an der Reling fest und streichelt mir mit der anderen durch die Haare. Da ich mich ja heute früh nicht rasieren konnte (und ich das nur tue, wenn es nötig ist), sind sie gerade verhältnismäßig lang.
Jetzt kommt auch Miloš herüber. Er setzt sich auf die Planken und nimmt die Isomatte als Rückenpolster an der Reling.
„Und? Keine Anweisungen an sie, dass sie ihre Finger von mir nehmen soll?“, reize ich.
„Nein. Ich vertraue ihr völlig.“
„Mir demnach nicht.“
„Doch. Aber dir traue ich zusätzlich alles zu, da muss man differenzieren.“
„Differenzieren, soso! Riskierst du Differenzen? Denk immer dran: du hast heute schon mal verloren.“ Ich werde ihn aber nicht noch einmal in den Schwitzkasten nehmen. Er ist einfach noch nicht fit. Er hält sich ja auch jetzt sehr zurück, hat lange gelegen, sitzt nur herum.
„Ich habe keine Angst vor dir!“
„Angst hilft da auch nicht weiter.“
„Bitte, Jungs, nicht schon wieder“, schnaubt Nieke lachend. „Zweimal am Tag muss das doch reichen, oder?“
„Was muss reichen?“, erkundige ich mich mit Unschuldsmiene.
„Meist freundlich, manchmal ziemlich laut.“
Ich verdrehe die Augen. Das werd ich nicht mehr los, solange ich die drei um mich habe. Merle hat alles mitbekommen, streckt die Hand aus und fährt mir wieder über den Kopf. „Lässt du sie jetzt wachsen?“, bietet sie mir Gelegenheit, von etwas anderem zu reden.
„Ist nicht geplant.“
„Aber ein bisschen länger würde dir besser stehen.“
„Was meinst du damit?“
„Es geht um die Symmetrie deines Gesichts. Du hast eine schlanke Kopfform und eine gerade Nase. Nach unten ist dein Gesicht begrenzt durch den Bart. Aber da du nie Mützen oder Hüte trägst, wirkt es wie oben offen, wenn du die Haare nur ein paar Millimeter lang hast. Oder besser gesagt kurz.“
„Du hast dir dazu ja schon ziemlich viele Gedanken gemacht.“
Sie schnippt an mein linkes Ohr und kontert: „Ich habe dich schon ziemlich oft angeguckt.“

653

„Was meintest du mit dem Fuß fassen, dass es dir nicht gestattet wurde?“
„Ich hab keine Kontakte gekriegt. Alle waren immer wahnsinnig beschäftigt.“
„Wie lange bist du denn hingegangen?“
„Fast zwei Monate. So klein bin ich ja nicht, dass man mich übersehen haben könnte.“
„Du hättest es mit Mitarbeit in einem unserer Bereiche versuchen können.“
„Hab ich. Hinterher haben drei Personen mit mir gesprochen. Fiene, Winnie und Oleg.“
„Wer ist denn das?“
„Das sind die drei vom Putzteam.“
„Du warst im Putzteam?! Warum bist du nicht ins Anbetungsteam gegangen, das hätte doch viel besser gepasst?“
„Man hat mich nicht gelassen.“ Ich merke, dass ich immer knapper und unfreundlicher antworte, aber ihr Erstaunen nervt mich. Ich hab mir das doch nicht ausgedacht!
„Ich kann das kaum glauben, Jeremy. Einen so vielseitig begabten Menschen wie dich … meinst du nicht, dass du etwas missverstanden hast?“
„Ich bin zum Anbetungsleiter hin und habe ihm gesagt, dass ich neu bin und mitmachen will. Vor allem, weil der Trommler den Takt nicht kriegte. Das hab ich natürlich nicht gesagt, das wäre ja ziemlich arrogant gewesen. Er hat mich an den Dings verwiesen … wie hieß der noch … hab ich vergessen, und der hat mich zur Fiene geschickt. Was daran sollte ich missverstanden haben?“
„Willst du es vielleicht jetzt noch mal versuchen? Du kennst ja jetzt mehr Leute.“
„Nee. Gerade heute Mittag haben Miloš und ich beschlossen, dass wir in der VKR bleiben. Jetzt muss es die Zwaagse Straat ohne mich aushalten.“
Sie sagt nichts und die Stille senkt sich wieder herab.


zweihundertdrittes Kapitel

Nach einer langen Weile fragt sie vorsichtig: „Bist du schlecht gelaunt?“
„Ich? Nein, wie kommst du drauf?“ Wie könnte ich beim Segeln schlechte Laune haben? Es ist Juni, die Sonne scheint, es ist prachtvoll hier draußen!
„Du bist so … schweigsam.“
„Ich segle.“
„Ich dachte nur, wegen deiner Erfahrungen in meiner Kirche und dann auch noch, dass du nicht mit Miloš in Urlaub fahren kannst.“
„Es gibt zwar Leute, die das behaupten, aber ich muss mein Mundwerk nicht dauernd in Bewegung halten.“
„Entschuldige“, sagt sie und schweigt ihrerseits eine Weile, bis sie fragt: „Ich hoffe, ihr hattet noch nichts gebucht?“
Jetzt scheint es, dass sie immer zurückhaltender wird, als hätte meine Kurzangebundenheit sie verschreckt. Meine Güte, sie soll sich mal nicht so anstellen. „Nee, buchen ist nichts für uns. Wir wollten dem Pfad des grünen Mannes folgen.“
„Was ist denn das?“
„Ganz einfach. Du bist in einer Stadt und könntest rechts oder links über die Kreuzung gehen. Links wird’s zuerst grün, also gehst du links. Du weißt nicht, wo du ankommst, aber lustig wird es bestimmt.“
„Der grüne Mann ist das Ampelmännchen!“, lacht Merle, die in der Zwischenzeit aufgewacht sein muss. „Das klingt ja nach einer Mischung aus Indianer und Marsmenschen! Wer hat sich denn diesen Blödsinn einfallen lassen?“
„Ich war es nicht“, beteiligt Miloš sich am Wachsein.
Stimmt, fällt mir auf, das Sägen hat schon vor einer ganzen Weile aufgehört. Wie lange sie uns wohl belauscht haben?
Merle erhebt sich und schafft es, das sehr anmutig aussehen zu lassen. Eins ihrer großen Geheimnisse. Wenn ich vom Boden aufstehe, sieht das aus wie bei einer Giraffe am Wasserloch. Dann bleibt sie neben Nieke stehen und fragt: „Was hattet ihr vor in Schweden?“

652

Sie trocknet ihr Gesicht. „Entschuldige du auch. Ich reagiere bei dem Thema sehr … na ja, zu … zu viel. Also, zu stark.“
„Na komm, hör auf dich zu entschuldigen. Krempel die Hose hoch und lass die Sonne dran. Sonnenschein macht glücklich.“
„Wer ist Marjorie?“
„Meine Mama. Also, Stiefmama. Wenn sie das nächste Mal zu einem Auftritt kommt, stell ich sie dir vor.“
Aus dem Bug erklingt ein bekanntes Geräusch.
„Hier, halt das mal fest“, sage ich, fasse Niekes Hand und lege sie um das Ruder.
Sofort kriegt sie einen panischen Blick, „Ich kann das nicht! Was, wenn etwas passiert?“
„Es wird nichts passieren.“ Ich stehe auf.
„Jeremy! Nimm das … das Dings sofort zurück!!“, befiehlt sie hektisch, aber ich lache nur und gehe nach vorne.
Ach, wie ist das süß! Ihr fettes Händchen mit den mädchenrosa Fingernägeln ist in seine Pranke geschmiegt und so liegen sie da und träumen vielleicht von der gemeinsamen Zukunft. Ich schleiche zurück zu Nieke, die die Ruderstange mit beiden Händen umklammert hält. Kaum sitze ich wieder, lässt sie das Holz los, als würde es brennen.
„Eingepennt. Beide“, tue ich ihr kund.(379)
„Mach das nicht noch mal!“
„Alle anderen Leute reißen sich drum, das Ruder festzuhalten.“
„Erstens bin ich nicht alle anderen Leute und zweitens“, weil es im Bug laut wird, unterbricht sie sich, „Ist das normal, dass er so schnarcht?“
„Ja. Endlich schnarcht er wieder normal. Vor der OP hat er schlimme Atemgeräusche gehabt. Dagegen ist das die reinste Musik.“
„Musik“, wiederholt sie zweifelnd. „Da kenne ich ja schönere. Schnarchst du auch so?“
„Nie!“
„Aha. Genauso laut.“
„Nicht so laut, sondern anders. Das sagen zumindest die Leute, die mir beim Schlafen zuhören. Wieso weißt du das nicht? Angeblich penn ich doch immer ein, wenn ich bei dir bin!“
„Im Kino hast du jedenfalls nicht geschnarcht. Sonst hätte ich dich geweckt.“
„Und im Coec haben wir auch in einem Raum gepennt“, fällt mir auf.
„Das weiß ich nicht mehr. Wie hat Merle es geschafft, dabei einzuschlafen?“
„Ich denk mal, er hat gewartet, bis sie eingeschlafen war. Aber es geht auch ohne den Service. Es dauert dann nur ein bisschen länger.“

Wir sitzen lange schweigend nebeneinander.
Die Sägewerksmusik mischt sich mit den maritimen Glücksklängen; dem Knarren der Takelage, dem Rauschen des Windes, dem Klatschen der Wellen am hölzernen Schiffsrumpf.
Gibt es einen schöneren Ort als das Hier? Eine bessere Tätigkeit als zu segeln? Eine angenehmere Gesellschaft als meine drei Freunde?
Ich kann es mir gerade nicht vorstellen.

Irgendwann fällt mir ein, was Miloš und ich auf dem Heimweg von der VKR gesprochen hatten und ich frage sie: „Du hast erzählt, dass Stan und Romina aus deiner Kirche sind – in welche gehst du denn?“
„Ins Gemeindezentrum in der Zwaagse Straat. Kennst du bestimmt.“
„Jep. Den Laden kenn ich.“
„Du klingst nicht begeistert.“
„Bin ich auch nicht. Ich hab versucht, Fuß zu fassen, es wurde mir leider nicht gestattet.“
„Was meinst du damit? Außerdem, wann warst du da? Kannten wir uns schon?“
„Möglich, dass es sich um ein paar Wochen überschnitten hat, viel kann es nicht sein.“

16. Juni 2016

651

„Nein.“
„Nicht?“
Sie verdreht die Augen. „Wenn ich es dir doch sage!“
„Okay, dann wird heute dein erstes Mal sein.“
Merle prustet los. „Sollen wir euch dabei alleine lassen?“
Ich schicke ihr einen finsteren Blick zu, den sie ihrer Reaktion folgend sehr gut versteht. Aha, Miloš hat es ihr gesagt, dass ich nicht verkuppelt werden möchte! Immerhin in diese Richtung funktioniert die Kommunikation.
„Du müsstest allerdings die Schuhe ausziehen an Deck. Die Absätze hinterlassen Dellen in den Planken. Du kannst meine Sandalen haben, wenn du nicht barfuß laufen willst.“


zweihundertzweites Kapitel

Nachdem wir ein paar Mal zu Sightseeing-Zwecken vor der Stadt hin und her gefahren sind, holt Miloš aus der Kajüte zwei Isomatten, die er für die gähnende Herzdame und sich im Bug ausbreitet.
„Da ist noch eine“, sage ich zu Nieke, „leg dich dazu.“
„Wenn ich mich zu ihnen lege, sehe ich Wolken und den Himmel. Ungefähr so, wie wenn ich bei meinen Eltern im Garten liege. Dafür muss ich kein Schiff betreten.“
„Stimmt“, mache ich und betrachte mal wieder ihre Füße. Sie sieht etwas verunstaltet aus mit dem schicken schwarzen Rock und den ollen Schlappen. Gar nicht ihr Stil.
„Guck bitte woanders hin.“
„Zieh die Sandalen aus.“
„Dann reiße ich mir Löcher in die Strumpfhose.“
„Zieh die auch aus.“ Ein anderer Segler kreuzt unseren Kurs, wir winken uns zu.
„Nein, das geht nicht.“
„Mach schon, ich gucke weg.“
„Auf gar keinen Fall.“
„Es wird keiner vor Schreck über Bord gehen.“
„Das ist ja total beruhigend.“
„Na los, zieh dich da drinnen um. Du kannst auch eine Shorts von mir anziehen. Wenn du die Koje hochklappst, findest du ein paar Klamotten von mir. Nimm dir einfach was. Oben drüber ist ein kleines Regal, in dem eine Tube Sonnencreme von Merle liegt. Und wenn die beiden dumme Sprüche machen, können sie nach Hause schwimmen.“
Sie verschwindet in der Kajüte. Nach angemessener Zeit erscheint sie wieder – aber nicht in Shorts, sondern in meiner weiten weißen Feiertagsseglerhose, die sie unten umgeschlagen hat, damit sie nicht drauf tritt. Zu dieser Hose gehört traditionell ein blauweiß gestreiftes Hemd, auf das sie aber verzichtet hat.
„Ist das so schlimm für dich, wenn einer deine Beine sieht?“, wundere ich mich. Ihre Füße haben diesen Sommer noch keinen Sonnenstrahl abbekommen.
„Ja.“
„Du liebe Zeit, was hast du denn dran? Schwarze Beulenpest?“
Sie murmelt etwas mit gesenktem Kopf.
„Was hast du gesagt?“
Der Wind weht ihre zarten Worte weg, bevor sie bei mir ankommen. „Hast du das schon wieder alles vergessen, was der Miloš dir gesagt hat? Sei nicht so schüchtern!“
Sie hebt den Kopf und hat nasse Augen. „Es geht nicht um Schüchternheit.“
Ich schalte einen Gang zurück. „Sag schon. Was ist los?“
„Ich habe Krampfadern.“
„Schwarze Beulenpest fände ich schlimmer.“
„Du bist gemein! Du weißt ja nicht, was das bedeutet!“
Au weia. Was habe ich da angerichtet? Als Mentaltrainer wäre ich völlig ungeeignet. Jetzt laufen ihr nämlich die Tränen runter.
„Entschuldige bitte, ich weiß es tatsächlich nicht. Marjorie hat auch welche, und die macht sich nichts daraus, deswegen dachte ich, es wäre nicht schlimm.“

650

„Zurück zum Thema“, lenkt sie ab. „Miloš will das Auto nicht, aber ich würde es nehmen. Und da haben wir uns gedacht, wir fliegen hin, er macht mich mit der Familie bekannt, wir haben eine gute Zeit und fahren es dann heim. Steven hat ihn nämlich auch gebeten, nicht in den Sommerferien Urlaub zu nehmen, sondern bitte davor oder danach. Die meisten Leute in den Brotläden sind nun mal Frauen mit Familie, und die meisten von denen sind auf die Ferien angewiesen. Und deswegen wollte er auch mit dir über euren Schwedenurlaub sprechen. Wir wollen jetzt also nach dem Sommerfest, wenn seine Krankschreibung zu Ende ist, anderthalb Wochen weg, dann hat er noch ein paar Überstunden und sein freies Wochenende und fängt am ersten Schulferientag wieder an zu arbeiten. Tut mir wirklich leid, dass du das von mir erfährst. Aber ich hatte echt gedacht, dass du das alles schon weißt. Bist du jetzt sauer?“
Ich hebe die Schultern. „Würde sich deswegen irgendwas an euren Plänen ändern?“(378)
„Och Jeremy“, bettelt sie. „Sei nicht böse! Ich hab doch nur … Menno. Ich kann doch nichts dafür, dass Miloš dir noch nichts gesagt hatte!“

Merle lobt die Forelle in den höchsten Tönen, bis Nieke sich tatsächlich überreden lässt, ein Stückchen zu probieren. Sie schließt sich dem Lob an, weicht aber nicht von den guten Grundsätzen des vegetarischen Lebens ab.
Der erhoffte gehaltvolle Nachtisch ist eine große Portion Grießpudding mit heißen Kirschen. Als die Schüsseln bis auf den Grund leer sind und wir alle herum hängen wie nasse Säcke, seufzt Merle behaglich. „Hach, Jeremy. Versprich mir, dass du mir Bescheid sagst, wenn du eines Tages nicht mehr Lehrer sein willst. Dann machen wir ein Restaurant auf, ja?“
„Wolltest du dein Restaurant nicht mit deinem Partner aufmachen und es dann nach der Namenskombination benennen?“
„Äh … wann habe ich denn das gesagt?“
„Das muss zu einem Zeitpunkt gewesen sein, an dem du noch davon ausgingst, dass dein nächster Partner kochen kann“, grinst Miloš.
„Ich kann es ja mit euch beiden aufmachen. Du kriegst die Küche, du machst den Service und ich kümmere mich drum, dass wir nicht pleite gehen.“
„Dann braucht es aber einen anderen Namen. Zum Beispiel Merlošmy.“
„Oder Jermeloš.“
Um die nutzlosen Spekulationen zu beenden, sage ich: „Ich meld mich, wenn ich nicht mehr Lehrer sein will.“ Bis dahin ist hoffentlich noch ein bisschen Zeit.
Wieder setzt Stille ein, bis Nieke fragt: „Was geschieht jetzt?“
„Verdauung.“
„Klar. Aber muss die hier stattfinden? Nichts gegen euren Männerhaushalt, es gibt ja durchaus schlimmere, aber es gibt auch gemütlichere.“
„Du kannst dich ja aufs Sofa legen“, bietet Miloš an.
„Das sieht aber kurz aus. Wie schläfst du darauf?“, fragt sie mich.
„Gar nicht. Zum Schlafen habe ich ein Bett. Er hat es angeschleppt, er passt drauf.“
„Seltsam. Es sieht viel kürzer aus.“
„Das hat nichts mit seltsam zu tun. Er ist kurz.“
„Das ist eine Frage der Perspektive“, brummt er träge.
„Und es ist auch gar nicht wichtig“, schließt Merle sich an. „Ich wollte einen Mann, zu dem ich aufschauen kann. Ich kann.“
Wir haben anscheinend genug über sein Sofa gesprochen, jetzt steht er auf und beweist, wie gut er darauf passt.
„Du kannst dich draußen ausbreiten, im Regal sind die Kissen für die Gartenmöbel“, fällt mir ein. „Die Liege ist lang genug.“
„Und ihr seid nicht zu einem bisschen mehr Aktivität zu überreden?“
Ich seufze tief. „Was willst du denn haben?“
„Es ist so tolles Wetter und ich war noch nie mit deinem Schiff unterwegs.“
„Na klar waren wir schon segeln!“

649

Das klingt ja schon ziemlich nach baldiger Hochzeit … „Nein. Das hat nichts mit dir zu tun. Arbeite dich ein bisschen in die serbisch-bosnisch-kroatische Geschichte rein. Da hat es immer Schwierigkeiten gegeben, vielleicht, weil sie so viele Gemeinsamkeiten haben. Und weil sie sich immer den selben kleinen Fleck Land geteilt haben.“
„Ich will halt keine Familie auseinander reißen.“
„Hab keine Angst, das wird nicht passieren. Es ist eine ganz andere Ausgangslage. Du bist keine Yugo. Da gelten andere Maßstäbe. Willst du nicht lieber noch irgendwas über deine neue Verwandtschaft wissen?“, lenke ich ab.
„Danke, ich bin beeindruckt. Laut Miloš hast du ein Personengedächtnis wie ein Sieb.“
„Der hat halt auch nicht immer recht“, schnaube ich theatralisch. „Was mir allerdings noch einfällt, ist: wieso nennst du eine Familie mit drei Kindern eine Großfamilie?“
„Die kriegen Zwillinge. Im Herbst.“
Ach, guck an. „Dann macht euch mal auf alles gefasst.“
„Auf was „alles“ sollen wir uns gefasst machen?“
„Deine Schwestern Pippi und Polly sind Zwillinge. Seine Kusine kriegt auch Zwillinge. Das steigert die Wahrscheinlichkeit, dass das ein dominant erbliches Merkmal ist und aus eurer Verbindung ebenfalls Zwillinge hervorgehen.“
Lachend schüttelt sie den Kopf. „Solange es keine eineiigen Zwillinge sind, gibt es keine erbliche Dominanz.“
„Wieso weißt du das so schnell? Hast du etwa auch schon mal darüber nachgedacht?“
„Natürlich, das kommt ja ganz automatisch. Aber ich will keine Kinder. Pippi hat mal gesagt, fürs Kinderkriegen wäre Polly zuständig, und da schließ ich mich gerne an. Kannst du dir mich als Mami vorstellen?“
Ich hebe die Schultern, und zugleich Nieke: „Nein.“
„Ganz im Gegensatz zu dir“, Merle grinst sie an. „Wie viele hättest du denn gern?“
„Allzu lange sollte ich jedenfalls nicht mehr warten, ich bin ja schon vierunddreißig. Zwei Kinder wären fein. Fünf kann man sich heutzutage glaube ich nicht mehr leisten.“
„Wenn es nach dem Geld gegangen wäre, hätten meine Eltern schon nach Polly und Pippi aufgehört mit dem Kinderkriegen. Zum Glück haben sie weiter gemacht!“
Wie sie so über Kinder reden, fällt mir ein: Was denkt Miloš eigentlich dazu? Womöglich hat er schon ein bis vier kleine Kusturicas eingeplant?
Merle ist mit den Gedanken woanders angelangt. „Polly hat übrigens die neue Namenskombi erschaffen. Wir heißen jetzt Merloš. Wahnsinnig kreativ.“
„Aber immerhin besser als Meric. Ausgeglichener.“
„Ja. Mirle war auch im Rennen, aber das hat sich zum Glück nicht durchgesetzt.“
„Klingt wie so ein fieses kleines Tierchen, das dir Löcher in die Haut beißt.“
„Das ist eine Milbe, glaub ich.“
„Ich verstehe kein Wort von dem, was ihr redet“, stellt Nieke leicht beunruhigt fest.
Das täte ich an ihrer Stelle auch nicht! „Ihre Großfamiliengeschwister reden, bis einem die Ohren abfallen“, erkläre ich, „aber ausgerechnet bei den verbandelten Geschwistern müssen sie sparen, da denken sie sich Namenskombinationen aus. Merle und Miloš heißen deswegen Merloš. Vom einen der Anfang, vom anderen das Ende. Maurice und Jenny sind Jennice, Polly und Antonio heißen Antolly.“
„Na ja“, grinst Merle, „du weißt nur die halbe Wahrheit. Menschen, die grundsätzlich zu zweit aufkreuzen, kriegen auch so einen Doppelnamen.“
„Sag ich doch. Die Paare.“
„Nein, auch so Typen wie du und Miloš. Ihr heißt zusammen Mimy.“
„Aha. Demnach ist er in zwei Doppelnamen vertreten. Das schaffen nur die wenigsten.“

648

zweihunderterstes Kapitel

Kurz darauf verabschiedet sich der liebe Miloš in Richtung Proberaum. Da sie niemanden mehr zum Anhimmeln hat, wendet sie sich uns zu.(376) „Geht ihr noch mal fein essen? Toni hat mir von einem Restaurant in Aachen vorgeschwärmt.“
„Fährt der bis Aachen, um was zu essen?!“
„Er war mit Conny da. Sie hatten die Kinder an ihre Schulfreunde verteilt und sind hingefahren. Mit Museum und Wellness und so weiter. Na ja, und halt dieses Restaurant, das aber nicht zu ihrem Hotel gehörte.“
„Ach so, sie haben da übernachtet?“
„Jaha! Geschlafen“, kichert sie.
„Lass ihn in Ruhe“, schlägt Nieke sich auf meine Seite. „Als er im Kino eingeschlafen ist, konnte er wirklich nichts dafür. Es war die Woche, in der Miloš im Krankenhaus war. Da wären wir auch erschöpft gewesen.“
„Süß, wie du ihn verteidigst. Soll ich Toni nach den Adressen fragen?“
„Was stellst du dir denn vor, wann wir da hinfahren sollen?“, gehe ich dazwischen. „Wir haben jeden Samstag Probe.“
„Ihr könntet das nach dem Sommerfest tun, wenn wir eh’ nicht da sind.“
„Wieso seid ihr eh’ nicht da? Und wer eigentlich? Du und Miloš?“
„Hat er dir noch nichts davon gesagt? Na, scheint so. Großartig, Merlekind, dein Timing ist wie immer äußerst eindrucksvoll“, schimpft sie sich brummelnd selbst aus.
„Bitte von vorne, Merlekind. Warum seid ihr nicht da?“(377)
„Frag ihn das selbst.“
„Nein, das dauert mir zu lange. Wer weiß, vielleicht verquatscht er sich gerade mit Zoran, dann können wir stundenlang warten, bis er wieder hier ist. Ich will es jetzt wissen.“
Sie ergibt sich seufzend. „Einer von seinen Schwägern hat ihn angerufen, dass sie sich ein neues Auto gekauft haben und ob er das alte haben will. Ich hab den Namen vergessen, das ist jetzt also nicht der mit der Großfamilie, der auch einen Miloš hat, sondern der andere.“
„Demnach hat er mit Danko telefoniert.“
„Wie heißt seine Frau?“
„Willst du mein Namensgedächtnis prüfen?“
„Nein, ich will es einfach wissen.“
„Die heißt Midi und ist drei Monate älter als Miloš“, bündele ich Informationen über meine serbische Sippe, „die andere ist Bogi, zwei Jahre älter als er, und mit Nikola verheiratet. Sie haben drei Jungs, den David, den Ivica und den Miloš.“
„Wie alt sind die?“
Lass mal rechnen … als wir das letzte Mal dort waren … „Sieben, fünf und drei.“ Kinder kann ich viel besser altersmäßig schätzen als Erwachsene, weil ich mit ihnen ja jeden Tag zu tun habe. „Midi und Danko haben ein Mädchen, Natalija. Die ist auch fünf. Sloba ist die nächste Kusine, dann Dodo und Fifi, das sind die beiden, die sich inzwischen in den USA niedergelassen haben. Obibi und Jadi wohnen noch bei den Eltern.“
„Und die heißen Dragan und Dijana.“
„Richtig. Dijana ist also die Schwester von deinem potenziellen zukünftigen Schwiegervater. Zeljko. Miloš’ Mutter heißt Marika.“ Apropos zukünftiger Schwiegervater: Sollten die beiden wirklich heiraten, brauchen sie zum Feiern eine größere Halle als Zoran und Lisanne.
„Haben sie auch Geschwister?“
„Zeljko hat noch zwei oder drei Brüder, ich hab die aber alle noch nie gesehen. Ein gewisser Kusturica hat mir mal gesagt, das wäre nicht so einfach mit den Kusturicas. Und zu Marikas Verwandten besteht gar kein Kontakt, sie waren dagegen, dass sie einen Serben heiratet.“
„Mit denen ist es also noch weniger einfach als mit den Kusturicas.“
„Haargenau.“
Mit einem Mal sieht sie sehr nachdenklich aus. „Du, Jeremy“, fängt sie zögernd an. „Du kennst die Kusturicas ein bisschen. Werden sie was dagegen haben, dass schon wieder eine Ausländerin in die Familie kommt?“

647

„Er gehört zum Haushalt. Du lebst hier, also bist du für ihn verantwortlich.“
„Dein Messerblock ist auch Teil des Haushalts, und wehe, ich rühre ihn an!“
„Der Messerblock ist mein Privatvergnügen und außerdem kein Lebewesen!“
„Umso schlimmer, dass du dich um den Gummibaum nicht kümmerst und dich drauf verlässt, dass ich es tue!“
„Aus!“, ruft Nieke.
Als hätten wir sie nie zuvor gesehen, betrachten wir sie eingehend, bis sie mindestens so rot ist wie Miloš gerade eben.
Verlegen murmelt sie: „Ich meine ja nur.“
Merle lacht. „Wenn du dir jetzt noch abgewöhnst, dich hinterher zu entschuldigen, hast du den Dreh raus!“
Sie flüchtet mit ihrer Handtasche zum Fenster, holt dort ihr Smartphone heraus und knipst ein paar Fotos. „Ich frage morgen meine Kollegin Marcy, die hat sehr viele Pflanzen.“
Wie es so ihre Art ist, hat sie das leise gesagt. Obwohl wir es vermutlich alle verstanden haben, fragt Miloš übertrieben: „Was hast du gesagt?“
Sie steckt das Gerät zurück in die Tasche, stellt die in den Sessel, baut sich vor Miloš auf und schaut ihn von oben herab an. Ebenso leise wiederholt sie: „Ich habe gesagt, ich frage morgen meine Kollegin Marcy, die hat sehr viele Pflanzen. Verstanden?“
Er lächelt sie an. „Gut so. Setz dich durch. Du musst kein Lautsprecher werden, wir haben genug, aber es gibt keinen Grund, sich zu verstecken.“
Sie murmelt etwas, das wie „Wenn das immer so einfach wäre“ klingt.
Miloš fasst ihre Hand und zieht sie mit „Das müssen die zwei Neugiernasen nicht hören“ in den Flur. Merle und ich gucken uns an. „Der wird bestimmt irgendwann Mentaltrainer oder so was“, sagt sie.
„Oder Sport-, Sprach- oder Musikwissenschaftler, Psychologe, Atomphysiker oder hundert andere Sachen. Voraussetzung ist, dass er kapiert, dass er mehr kann als Brot verkaufen und sich hinsetzt und endlich was mit seinem Leben anfängt.“
„Aha. Du siehst das also auch so.“
„Natürlich sehe ich das so. Der hat in seinem Kopf Kapazitäten wie eine Flugzeughalle und fristet sein Dasein im Schuhkarton.“
„Ich hab schon gemerkt, dass er sehr intelligent ist. Dagegen bin ich dumm, mein Abschluss war so lala.“
„Gegen seine Flugzeughalle sind alle Abschlüsse lala.“ Ich winke ab, denn die beiden betreten den Raum wieder, „Sag mal, Nieke, du hattest vorhin was von einer CD im Proberaum gesagt, worum geht es da? Warum holst du sie nicht einfach?“
„Katy hat sich bei mir einquartiert, weil sie für eine Prüfung büffeln muss und in der WG ist Giannas halbe Familie versammelt. Als ich zuhause losfuhr, habe ich nicht dran gedacht, dass der Schlüssel für den Proberaum am selben Bund ist wie der Haustürschlüssel, den ich natürlich nicht mitgenommen habe, weil Katy mir öffnen wird. Deswegen bin ich zu Merle gefahren, damit sie mir ihren gibt oder mir öffnet.“
„Da hast du aber Glück gehabt, dass sie noch zuhause war.“
„Sonst wäre ich sicher als nächstes hier aufgekreuzt.“
„Willst du meinen haben?“
Zugleich bietet er an: „Soll ich die CD holen?“
„Ach, das wäre ja total lieb“, freut sie sich.
„Er ist halt ein Lieber“, lacht Merle und umschlingt ihn mit beiden Armen.
Ich gehe in die Küche, um mal nach dem Paprikaklein zu sehen und ob die Fische noch mit den Flossen schlagen.

646

„Richtig. Es war allerdings Verona, nicht Rom.“
„Aber beides ist in Italien!“
„Und das bei deinen Geografiekenntnissen!“, grinst Miloš.
„Warum, sind die nicht so bedeutend?“, will Nieke wissen.
„Eher ziemlich unbedeutend. Er hat Bosnien und Österreich für Nachbarländer gehalten! Ich will gar nicht wissen, was er sonst noch über die Welt denkt.“
„Bosnien ist aber auch ein Sonderfall“, nimmt Merle mich zur Abwechslung mal in Schutz. Sie kommt mit einer emaillierten Kanne mit Gänsemotiv(375) zur Spüle und ich lasse solange meine Arbeiten ruhen.
Das hört er nicht gern, man sieht es sofort. „Was meinst du mit Sonderfall?“
Sie erklärt: „Als wir alle noch zur Schule gegangen sind – da kriegt man ja seine Allgemeinbildung – war das ein Stück von Jugoslawien. Ein ziemlich unbedeutendes Stück, um deine Worte zu verwenden. Und Jugoslawien grenzte an Österreich.“ Derweil hat sie die Stängel angeschnitten, die Blumen in die Vase gesteckt und mit Wasser aufgefüllt. Sie geht um die Säulen herum und stellt die Blumen auf den Tresen.
„Hast du das also auch geglaubt?“
Gleichermaßen stellt sie Gläser und Getränke hin. „Wenn ich gewusst hätte, wo Bosnien ist, hätte ich das ganz sicher geglaubt.“
Besondere Bekenntnisse erfordern besondere Taten. Ich gehe zu ihr hin, fasse ihr Gesicht und knutsche sie auf die Wange.
„Nimm deine Pfoten von meiner Freundin!“, plustert er sich auf.
Sie strahlt. Dafür bekommt sie noch einen Schmatzer auf die andere Wange.
„Hast du das gesehen?“, wendet er sich empört an Nieke.
„Es war nicht zu übersehen. Du solltest ihm Grenzen aufzeigen.“
„Ich habe Hemmungen. Er ist mein bester Freund.“
„Wie lange noch?“, fragt sie trocken.
Auf einmal grinst er. „Ich mache es anders. Ich warte, bis er eingeschlafen ist. Das passiert ja recht häufig, wenn du dabei bist.“
„Ein Schweigegelübde innerhalb unseres Männerhaushalts wäre vielleicht angebracht!“
„Wenn du aufhörst, meine Freundin zu küssen, wird keins nötig sein.“
„Ich erinnere gerne an die Köchin in dem Yugo-Restaurant in Alkmaar, die du angeblich zum Dank geküsst hast!“
Er weiß es noch genau. „Das war eine rein fachliche Anerkennung!“
„Das hat ihr Mann aber ganz anders gesehen!“ Weil er es nicht längst getan hat, gehe ich zum Angriff über und klemme mir seinen Kopf unter den Arm. Er wehrt sich, kommt aber nicht frei. Heute ist der Feiertag für all die Rachepläne, die ich nie umsetzen konnte! Er kriegt eine Kopfhaut- und Ohrenmassage, bis man den ganzen Raum beheizen könnte.
Aufgeben ist dennoch keine Option für ihn. „Deine wilde Knutscherei soll eine fachliche Anerkennung gewesen sein?“, schnauft er. „Du weißt doch gar nicht, worüber du sprichst, du Geografieversager!“
„Werkzeugpfeife!“
„Bildchengucker!“
Merle trennt uns und hält uns mit ausgestreckten Händen auf Abstand. „Ist gut, Jungs. Außerdem, was hat mein stolzer Niederländer mit Bosnien zu schaffen?“
Er wischt sich den Schweiß vom puterroten Gesicht und ordnet seine Frisur. „Du hast recht, Liebste. Lasst uns über wichtigere Dinge reden. Zum Beispiel über Jeremys sträfliche Vernachlässigung der Sorgfaltspflicht gegenüber dem Gummibaum.“
„Um den du dich in den letzten zehn Monaten, die wir nun schon zusammen wohnen, durchaus hättest kümmern können“, werfe ich ein.
„Ist es meiner oder ist es deiner?“

645

„Danke“, lache ich. „Allerdings gibt’s jetzt ein Problem: ich hab keine Vase.“
„Keine Vase?“ Merle kann das nicht glauben. „Überhaupt keine?“
„Warum sollten wir Blumenvasen haben?“, lacht Miloš, „Das hier ist ein Männerhaushalt!“
Ich ergänze: „Du kannst den Putzeimer nehmen, aber guck dich um, vielleicht findest du was besseres.“ Ich habe ja keine große Ahnung von Blumen, aber die hier sind gut. Die meisten blühen orange.
Gleich fängt sie an, die Fächer zu inspizieren.
Nieke guckt ihr belustigt zu. „Immerhin hat euer Männerhaushalt eine Zimmerpflanze.“ Sie weist zum Gummibaum, der sein kümmerliches Dasein auf der Fensterbank fristet.
„Ja. Aber ich weiß gar nicht, wie der das seit Jahren überlebt. Entweder ich vergesse ihn zu gießen oder er muss schwimmen lernen.“ Dabei fällt mir etwas ein: „Du kennst dich doch damit aus. Wie geht man mit so einem Ding um?“
„Warum sollte ich mich mit Gummibäumen auskennen?“
„Du arbeitest doch mit Pflanzen?“
„Nein.“
Merle wendet sich vom Sortiment des Geschirrschranks ab. „Ihr habt Stunden miteinander verbracht und wisst nicht, was der andere arbeitet? Worüber redet ihr die ganze Zeit?“
„Sie hat von ihren Kollegen und dem Chef erzählt und vom Junior und den ganzen Leuten. Und da geht es um Pflanzen. Also denk ich doch, dass sie sich damit auskennt.“
Nieke räuspert sich übertrieben. „Kann das sein, dass du da was durcheinander bringst? Ich bin bei „Bloembergs“, das ist eine Pflanzengroßhandlung. Insofern geht es um Pflanzen, ja. Sozusagen sind sie das Hauptgeschäft. Aber deswegen muss ich mich ja nicht mit Pflanzen auskennen. Ich arbeite im Büro. In der Exportabteilung.“
„Ach so.“ Bevor ich in weitere Untiefen gerate, befasse ich mich lieber mit Dingen, von denen ich mehr Ahnung habe. Dem Essen. Ich bürste Kartoffeln ab und setze sie auf, dann hole ich rote, gelbe, grüne Paprika, grüne, gelbe Zucchini und Auberginen aus der Gemüsekiste, wasche und putze sie.
Miloš sieht das. „Jeremy, bitte! Du willst doch nicht etwa dieses Zeug ins Essen tun?“ Er zeigt vorsichtig auf die Auberginen, als könnten sie sonst nach seinem Finger schnappen. Aus Respekt vor meinen Kochkünsten (und seinem allgemeinen Anstand) hat er versucht, sie wie alles andere zu essen und irgendwann Geschmack dran zu finden, aber Auberginen sind das einzige Gemüse, dem er nichts abgewinnen kann.
„Doch“, lache ich. „Aber du darfst „dieses Zeug“ auf dem Teller lassen.“
„Oder du gibst sie mir“, bietet Merle an. „Die Exportabteilung ist übrigens der Grund, warum sie ungefähr so ein Fremdsprachengenie ist wie du.“
„Welche sprichst du denn?“
Nieke zählt auf: „Deutsch, english, français, italiano e um pouco de português.“
Der alte Angeber sagt was italienisches zu ihr, in dem molto bello vorkommt, das heißt sehr gut(373) und ist demnach veoma dobro. Darauf antwortet sie mit einem mir unverständlichen Satz. Miloš ist er wohl auch unverständlich. „Das ging jetzt ein bisschen schnell“, grinst er. Zu Merle sagt er: „Und was Fremdsprachengenies betrifft, kannst du dich ja auch bald eins nennen.“
„Warum?“, will Nieke wissen.
„Jeden zweiten Tag haben wir Fremdsprachentag. Entweder sie redet nur englisch mit mir oder ich nur serbisch mit ihr. So lernt jeder das, was er nicht kann.“
„Interessantes Modell. Aber welcher Fremdsprachentag ist dann heute?“
„Keiner. Gisterday is de day English to speaken. А сутра ћемо учити српски језик.“(374)
Sein Englisch kann man ohne den Zusammenhang nicht verstehen und auf serbisch könnte er uns sonst was erzählen, niemand kann es nachprüfen. Ich nehme das Gespräch wieder an mich: „Und wegen der Exportabteilung warst du vor ein paar Wochen mit dem Junior in Frankfurt und Rom.“

644

Er hält mich auf, „Warte mal.“ Weil ich nicht sofort wie angewurzelt stehe, legt er mir sogar die Hand auf den Arm.
Ich mache mich los.
Er hört zu und sagt ihr was. Und an mich: „Sie möchte, dass du ihr zuhörst.“
„Hab ich undeutlich geredet? Ich will nicht!“
„Sie bittet um Verzeihung für das, was sie getan hat.“
„Aha“, grunze ich. Das sind ja mal ganz neue Töne. Ist sie wirklich einsichtig oder will sie mich damit nur zu etwas bewegen, das sie sonst nicht kriegt? Ich hole die Forellen aus dem Kühlschrank; er weicht aus zum Geschirrschrank. Dann brauche ich das Schneidebrett, das im Geschirrschrank steht. Miloš verzieht sich auf die Terrasse.

Nach einer Weile bringt er das Telefon zurück auf die Ladestation.
Ich weiß schon, was jetzt kommt. Er hat die ganze Geschichte aus ihrer Sicht gehört und weil ein bisschen Zeit vergangen ist, ist sie nicht mehr so emotional und deshalb glaubhafter und daher will er nun auch meine Version erfahren. Was er bisher erfahren hatte, war ja nur, dass ich Schluss gemacht habe – da war er dabei. Aber ich will nicht. Ich will weder mit ihr reden noch mit ihm über sie reden.
Weil ich sehr konzentriert mit den Fischen und ihrem Inhalt beschäftigt bin, nimmt er mir irgendwann das Zeug aus den Händen, dreht mich zu sich um und fragt: „Jeremy. Was ist passiert zwischen euch? Warum kannst du ihr nicht verzeihen?“
Ich will! nicht! darüber reden!
Er schiebt die Kochzutaten zusammen und flankt auf die Arbeitsplatte. Er guckt mir in die Augen (drum hat er sich da hingesetzt, so ist er weiter oben), aber ich gucke weg. „Ich kenne keinen Menschen, der lieber anderen Menschen verzeiht, von so alten und weisen Leuten wie Theodorus und Amalia abgesehen. Aber keinen Gleichaltrigen. Was ist los?“
„Was hat sie dir denn gerade erzählt?“
„Nichts. Nur dass sie nicht versteht, warum du Schluss gemacht hast, vor allem, weil ich ihr glaubhaft versichern konnte, dass du nicht mit Nieke zusammen bist. Aber irgendwas schlimmes muss sie ja getan haben, weshalb du Schluss gemacht hast. Deswegen möchte sie gerne mit dir reden, um es aus der Welt zu schaffen und bittet um Verzeihung.“
Soso. „Und warum hast du mit ihr gestritten?“
„Wir haben nicht gestritten.“
„Klar. Ihr schreit euch immer so an.“
Er verdreht die Augen. „Es ging um andere Sachen.“
„Aha. Aber ich will wirklich nicht drüber reden. Akzeptier das.“
„Aber Vergebung ist total wichtig!“
„Das stimmt, aber ich muss das mit Gott klären, nicht mit dir. Dich geht es nichts an. Und jetzt lass mich in Ruhe kochen.“
„Unter einer Bedingung.“
Ich verdrehe auch die Augen. „Die wäre?“
„Ich darf Merle einladen.“
Gut, dass ich große Forellen gekauft hatte! „Wenn das alles ist!“


zweihundertstes Kapitel

Als sie bei uns eintrudelt, ist sie nicht alleine; Nieke ist bei ihr.
Wir begrüßen uns und ich will wissen: „Wo habt ihr euch getroffen?“
„Sie kam vorbei“, „Ich habe gestern eine CD im Proberaum“, „Ich dachte, du machst vielleicht noch einen Nachtisch“, „Ich will gar nicht lange stören“, „und dann werden wir auch zu viert satt“, reden beide zugleich und Merle überreicht mir in dem Durcheinander einen großen Blumenstrauß. „Bitteschön, lieber Gastgeber! Wir haben uns gedacht, wenn wir nun schon so einen Überfall machen, können wir das wenigstens auf hübsche Weise tun.“