17. Juni 2016

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Mir fällt noch was ein. „Also ich mein jetzt nicht ihre Gründe, die weiß sie ja nur alleine, aber erklär mir doch bitte die Frau an sich.“ Bekanntermaßen kriegt man auf ungenaue Fragen keine genauen Antworten.
Nachdem eine Menge Sekunden verstrichen sind, ohne dass sie angefangen hätte mit ihrer Erklärung, erkundige ich mich: „Warum guckst du mich so an?“
„Ich wundere mich. Du hast mal erzählt, dass eine aus der Band dich einen Frauentyp genannt hat, aber gerade bist du durch und durch Mann, völlig ohne Einfühlungsvermögen.“
„Wieso ohne Einfühlungsvermögen?“, rege ich mich gleich auf und weiß gar nicht, warum eigentlich. „Ich hab sie doch die ganze Zeit gefragt, was los ist?!“
„Eben. Und sie hat es dir die ganze Zeit gesagt. Aber du hast nicht zugehört.“
„Hä? Überhaupt nichts hat sie gesagt! Außer, dass sie keine Zeit hat, aber sie hatte nichts sonst zu tun, und dass ihr nicht gut ist, aber krank war sie auch nicht. Hat sie vielleicht in der Zwischenzeit einen tollen Kerl kennen gelernt und mir nichts davon gesagt?“
Sie schüttelt mehrfach mit dem Kopf. „Jeremy. Du stehst davor und siehst es nicht.“
„Wovor? Was seh ich nicht?“
Meine Kollegin und Frauenerklärerin holt tief Luft und sagt: „Natürlich hat sie einen tollen Kerl kennen gelernt. Sie hat das nicht an die große Glocke gehängt, sie ist ja ein stiller Typ. Aber der Kerl hat wochenlang nicht auf ihre leisen Signale reagiert, als sie gemeinsam essen gegangen sind und im Kino waren und nachts die Sterne betrachtet haben und was weiß ich, was sie noch getan haben. Irgendwann hat sie die Hoffnung aufgegeben, weil er ihre Liebe nicht erwidert. Deswegen ist sie ihm aus dem Weg gegangen. Jetzt hofft sie, dass es ihr bald besser geht, ihre Wege haben sich nämlich getrennt.“
„Versteh ich nicht. Wieso kann sie mir das nicht einfach sagen?“
„Jeremy!“, schreit sie mich an und schlägt mit der flachen Hand auf die Tischplatte, dass ich vor Schreck zusammenzucke. „Du bist es! In dich ist sie verknallt!“
„Oh“, mache ich erstaunt. Auf einmal verstehe ich alles!(389) „Kann ich … ähm, ich muss mal weg. Also, dringend. Kann ich die Mittagspause überziehen? Ich übernehm dann für dich den langen Freitag.“
Sie winkt ab. „Ich freu mich immer, wenn ich dir helfen kann.“

Ich radele eilig heim. In meinem Kopf ist nicht viel los, aber das kreist herum wie der Hula-Hoop-Reifen um Merle, wenn sie mal wieder abnehmen will. Nieke! ist! verknallt! in! mich! Ich ziehe mich um, wähle die grüne Krawatte (darin ist immer noch der Knoten, den sie mir geschlungen hat) und fahre zum Bahnhof.
Dieses Mal nehme ich das Fahrrad mit in die Bahn. Ich kann es kaum erwarten, bis sie endlich losfährt. Und dann kann ich es kaum erwarten, bis sie in Hoorn ankommt.
In der Stadt will ich ihr einen großen Blumenstrauß kaufen, aber ich stelle fest, dass mein Geld nur für ein paar Blümchen reicht. Das sieht nach nichts aus. Nein, ich nehme eine rote Rose! Manchmal ist weniger mehr.
Ich fahre zu ihrer Arbeitsstelle. Auf dem Besucherparkplatz vorm Haus stehen zwei Autos mit deutschem Kennzeichen; ich fahre ums Gebäude herum, damit ich dem dienstlichen Besuch nicht in die Quere komme und mich womöglich erklären muss. Im Hof stehen wie immer ein paar LKW herum, die be- oder entladen werden. Ich schlängele mich an ihnen vorbei, stelle mein Fahrrad in den Ständer am Haus und betrete es durch den Hintereingang.
Den ersten Menschen, den ich treffe, frage ich: „Wo finde ich denn Nieke van den Bos?“
„Die müsste oben im Export sein. Treppe rauf und dann links.“
„Dankeschön!“ Ich nehme immer zwei Stufen auf einmal, halte mich oben angekommen links und stehe vor einer Glastür. Dahinter ein Büro mit vier Schreibtischen. Alle sind besetzt, zwei Frauen sind mit dem Computer zugange, zwei telefonieren. Nieke auch. Will ich so viel Publikum? Vielleicht will sie jetzt nicht mehr? Blödsinn. Außerdem ist es jetzt zu spät für solche Bedenken: die andere von den beiden Telefonfrauen hat mich bemerkt. Entschlossen betrete ich den Raum, gehe zu Niekes Schreibtisch, wo sie gerade den Hörer auflegt. Ich knie neben dem Tisch nieder und halte ihr die Rose hin.
Weil sie nichts sagt, frage ich: „Willst du mich noch?“
Sie kriegt sofort nasse Augen.
„Verzeihst du mir, dass ich so lange gebraucht hab, um das zu kapieren?“
Sie nickt.
„Willst du mich noch?“, wiederhole ich.
„Ja, ich will dich noch. Oh, Jeremy“, schluchzend fällt sie mir in die Arme. Zum Glück bin ich rechtzeitig aufgestanden, sodass wir nicht über den Fußboden kullern.

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