zweihundertviertes Kapitel
Ungefähr drei Monate lang ist mein Freund immer schwächer und kränker geworden.
Nach der OP hat er demonstriert, warum Grietje und einige andere Leute ihn „Überholspur-Miloš“ nennen. Er hat gefuttert wie der sprichwörtliche Scheunendrescher und hat Liegestütze und Situps trainiert, hat mich eine Stange für Klimmzüge in seinen Türrahmen montieren lassen, ist auf Händen die Treppe herauf und herunter getapst und hat allerhand andere Dinge getan, die ich eher in einem Zirkus erwartet hätte als bei uns zuhause. Sobald die Kardiologin ihm das Okay gegeben hat, ist er täglich längere Strecken gelaufen und geschwommen. Die Pullover hat er längst weggeräumt, denn er friert nicht mehr und seine T-Shirts füllt er wieder mit Muskeln und Lebensfreude aus. Er ist sogar ein bisschen braun geworden. Voller Stolz hat er es mir gezeigt. Es ist sein erster Sommer als Niederländer, und alle Niederländer, die er kennt, werden im Sommer braun.(382)
Natürlich ist er auch noch glücklich mit Merle und sie ist es mit ihm. Und das Versprechen, das sie einander gegeben haben (bis September die Finger voneinander zu lassen – das kann man nicht einseitig durchziehen, so etwas müssen beide Partner wollen, sonst klappt es nicht) scheint zu gelingen. Ich weiß von ihrem „Septemberversprechen“, weil ich als Zeuge dabei sein musste.
Sie sind oft bei uns; nicht, weil sie mich als moralischen Beistand brauchen, sondern weil Merle es toll findet, wenn sie zugleich ihren Liebsten und mich treffen kann. Das ist zwar schön, weil ich dann auch beide auf einmal sehe, aber mein Singledasein wird auf eine harte Probe gestellt. Meine beiden besten Freunde sind derart ineinander verknallt, dass es manchmal weh tut, ihnen nur zugucken zu können. Das geht schon seit einem Monat so und Abmilderung ist nicht in Sicht.
Meine zwischenzeitlichen Überlegungen bezüglich Nieke sind im Sande verlaufen. Leider. Seit ein paar Wochen ist sie eher abweisend, geht mir aus dem Weg, will nicht mehr mit mir ins Restaurant oder ins Kino gehen, hat keine Zeit für Spaziergänge, gemütliche Abende bei uns oder Merle und so weiter. Ich habe keine Ahnung, ob ich sie vergrault habe und wenn ja, womit. Oder ob ich gar nichts damit zu tun habe. Manchmal denke ich auch, dass sie irgendwas belastet, denn sie sieht nicht mehr so fröhlich aus wie sonst und sie lacht kaum noch. Nächste Woche, wenn Merloš weg sind und keine Ablenkung liefern, werde ich kraft meines Amtes als Bandchef ein Gespräch einfordern.
Wenn das schief geht, fürchte ich, müssen wir uns eine neue Musikerin suchen. (Nein, ich fürchte, dass es schief geht und wir uns eine neue Musikerin suchen müssen.)
Bei der feierlichen Eröffnung des Sommerfestes durch unseren Bürgermeister John Boos war ich nicht anwesend, denn die fand an der Rathausbühne statt und in einer halben Stunde geht der Bandcontest am anderen Ende der Stadt los. Trotz des kühlen und bedeckten Wetters sind die Straßen überfüllt; ich wollte es lieber nicht drauf ankommen lassen, ob ich den Weg pünktlich schaffe.
Sechs Bands und Einzelinterpreten sind gemeldet, sie dürfen jeweils zehn Minuten lang ihr Können beweisen. Um die Umbaupausen so kurz wie möglich zu halten, hat die Stadt Zuyderkerk ein bisschen Geld in die Hand genommen und ein Schlagzeug ausgeliehen, das wir alle nutzen dürfen.
Was nach fünf Minuten nicht auf der Bühne steht, kann nicht genutzt werden oder es gibt Punktabzug für schlechte Organisation und Unpünktlichkeit. Auch Bühnenpräsenz wird bewertet und Umgang mit dem Publikum sowie – natürlich – die musikalische Qualität.
Die Jury besteht aus einer Frau von der städtischen Musikschule, zwei Männern, die auch irgendwas mit der Stadt und ihrer Kultur zu tun haben und zwei Vertretern des lokalen Radiosenders, der die Stadt und das Veranstaltungsteam beim Sommerfest unterstützt.
Unsere ehrenvolle Aufgabe ist es, das Publikum vorher ein bisschen auf Temperatur zu bringen. Dafür sind wir uns nicht zu schade! Ob als Einheizer, Vorband oder Hauptband, wir spielen für eine Handvoll Fans und ein ganzes Stadion, wenn sich eins findet. Außerdem haben wir ja nichts zu verlieren in diesem Contest. Wir werden so oder so morgen noch einmal spielen – der Sieger des heutigen Wettbewerbs wird dann unser Einheizer sein. Und im Gegensatz zu den anderen Bands haben wir nicht nur zehn, sondern dreißig Minuten Zeit.
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