17. Juni 2016

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„Aber warum hast du denn vorher nie … wir hätten bestimmt“, kann er es nicht fassen.
„Ich wollte es nicht eher sagen, weil man keinen guten Auftritt spielen kann, wenn man weiß, es ändert sich alles. Also, danke für die Zeit bei euch. Tschüss.“ Damit nimmt sie ihren Geigenkasten und geht eilig weg.
Wir drei gucken uns sprachlos an. Damit hat keiner gerechnet! Merle löst sich als erste aus der Starre und rennt hinter Nieke her.
„Weißt du, was bei ihr los ist?“, fragt Miloš. „Ihr hängt doch immer miteinander rum.“
„Von wegen. Seit Wochen nicht mehr.“
„Aber du bist doch ständig bei ihr eingepennt?“
„Vor Wochen zuletzt.“
„Ach, deswegen bist du so übermüdet!“
„Sehr witzig!“(387)

Der Tag ist bis zu unserem Abgang von der Bühne super gewesen, aber dass sie uns einfach so verlässt – das zieht mich ganz schön runter. Montag oder Dienstag wollte ich mir ihr reden, warum sie sich so komisch verhält, und jetzt?
Auf einmal stellt sich mir die Frage, wofür wir uns den Kram mit der Band überhaupt antun. Lisannes ehemaliger Platz ist schon wieder frei. Muss das vielleicht so sein, quasi als Bremsanker, damit wir die Bodenhaftung nicht verlieren? Weil wir sonst durch die Decke schießen würden, von immer mehr Bands als Vorband gebucht und schließlich den Job an den Nagel hängen und selbst als Hauptband auf Tour gehen könnten, CDs veröffentlichen und zu Tausenden verkaufen, Lieder einspielen mit Bono und Shakira (zusammen!), und reich und berühmt würden?
Oder habe ich etwas falsch gemacht? Ich als Bandchef, ich als Bandmitglied, ich als privater Jeremy? Warum hat sie nie mit uns über ihre Gründe gesprochen? Und seit wann hat sie schon vor, uns zu verlassen? Sie hat ja gesagt, dass sie sich frage, ob es der richtige Schritt oder der richtige Zeitpunkt sei.
Gibt es für so etwas überhaupt einen richtigen Zeitpunkt?
Ich glaube nicht.
Danke für die Zeit bei euch, tschüss. Das soll alles gewesen sein?
Ich tue etwas, das ich sehr lange nicht getan habe. Ich lasse mich in einer Kneipe nieder und trinke ein Bier und erkläre den Sitznachbarn meine Gründe, trinke noch ein Bier und einen Schnaps und so geht das eine Weile weiter.


vorletztes Kapitel

Auf dem Fußboden wache ich auf. Mir ist eiskalt, alles tut weh und ich kann mich kaum bewegen. Wie lange liege ich hier schon?
Mühsam krabbele ich zurück ins Bett und verkrieche mich zitternd unter die Decke. Leider wird’s nichts mit dem Einschlafen, denn ich muss zum Klo und habe zugleich einen wahnsinnigen Durst. Vorsichtig setze ich mich auf. Das Zimmer fängt sofort an sich zu drehen.
Ich weiß nicht, wie ich es nach unten schaffe; es dauert lange.
Das ganze Bad ist voll grellem Sonnenschein, ich versuche das Rollo herab zu ziehen. Es hakt mal wieder. Ich rucke fester an der Strippe, bis die ganze Konstruktion von der Wand kommt. Aber zum Fluchen fehlt mir die Energie.
Ich setze mich aufs Klo und sitze dann da mit geschlossenen Augen, um die Helligkeit aus meinem Kopf auszusperren.
Warum hab ich bloß so reichlich gesoffen? Wir sind doch gut gewesen auf der Bühne?
Au weia. Ich kann mich an überhaupt nichts erinnern.
Nebenan dudelt das Balkanradio. Das ist gut, denn mehr Gesellschaft als Miloš kann ich gerade nicht ertragen. Ich schlurfe rüber.

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