21. Dezember 2015

379

hundertsechzehntes Kapitel

Das Essen ist anspruchsvoll genug, dass die Unterhaltung während der Mahlzeit ruht. Wir haben eine leichte Kürbiscremesuppe, überbackenen Karpfen und dazu Kartoffelgratin und gedünsteten Mangold mit Senfsahnesoße und zum Nachtisch gibt es Birnenkompott mit oder ohne Schokostreusel.
Nach dem Dessert schaffe ich es noch, den Tisch abzuräumen, aber danach geht nichts mehr. Mommi braucht auch ziemlich sichtbar eine halbe Stunde auf dem Sofa. Ich werde mich dann auf diverse Sessel verteilen.
Die beiden anderen dagegen rüsten sich für einen Spaziergang, das heißt, Theodorus zieht sich an, als würde es zur Polarexpedition gehen und Miloš angelt nach seinem Jackett.
„Brauchst du keine Mütze, Schal, und so weiter?“, wundert der alte Mann sich.
„Nein, mir ist nicht kalt.“
„Der friert nie“, mische ich mich ein. „Aber das heißt nicht, dass man eine Frostbeule ist, sondern dass er nicht normal ist.“
„Willst du mitkommen?“, lädt Miloš mich ein.
Mommi hält das für eine gute Idee. „Genau, Junge. Geh mit raus.“
Mein Mitbewohner hat schon meinen tragbaren Klimaschutz geholt und treibt mich trotz der Verdauungslethargie hinaus in die Kälte.
Es dunkelt, obwohl es gerade mal halb vier ist. Aber das wird besser, der kürzeste Tag des Jahres ist schon vorbei. Bald ist wieder Frühling. Hach, der Frühling …
Wir spazieren so eine Weile vor uns hin (besser gesagt, nebeneinander her) und irgendwann kommt mir ein Gedanke in den Kopf, den ich, wie ich nun mal so bin, gleich ausspreche, auch wenn ich gar nicht weiß, woher er kommt und wozu er taugt. „Eigentlich habt ihr ja ganz schön viel gemeinsam.“
„Die brennende Liebe für Jesus“, tippt Theodorus.
„Noch mehr. Ihr seid zum Beispiel beide erst als Erwachsene zu Jesus gekommen, da kann ich ja nicht mitreden. Ihr seid beide früher LKW gefahren und habt nicht den Beruf gehabt, den ihr haben wolltet. Ihr habt beide einen Freund verloren und ihr wart beide im Krieg.“ Sofort bereue ich, was ich losgetreten habe. Warum muss ich am friedlichsten aller Tage vom Krieg anfangen? Ist das Thema nicht schon haarig genug, wenn es ihn einfach so überkommt?
Leider greift der Alte das auf. „Du bist im Krieg gewesen? Als Soldat?“
„Nein, als Zivilist. Im Bosnienkrieg.“
„Hm“, brummt er. „Ich sehe es.“
„Was siehst du?“, fragt Miloš irritiert nach.
„Ich sehe dein Herz. Eine andere Frage: Glaubst du an Zufälle?“
„Nein.“
„Gut. Dann glaube ich, dass unser Treffen hier kein Zufall ist, und dass unser liebender Gott uns sogar Jeremy Willem als Stichwortgeber geschickt hat“, er nimmt mich in den Arm und mein schlechtes Gewissen löst sich auf wie eine Rauchwolke im Wind.
„Warum nennst du ihn immer Jeremy Willem? Das sagt sonst niemand“, lenkt Miloš ab.
„Ich weiß, dass ihn niemand sonst so nennt, aber ich sage dir, er hat den Namen Willem nicht bekommen, damit er nur im Pass steht. Willem bedeutet ‚der Entschlossene’ und ‚der Willensstarke’. Viele Könige der europäischen Geschichte hießen übrigens auch so, rat mal, warum. Zusammen mit Jeremy, ‚Gott erhöht’ ist das seine Berufung. Gott wird ihn erhöhen, weil er seinen starken Willen dem Herrn untergeordnet hat.“
Noch mehr große Worte über mich. Mir zittern die Knie.
Theodorus lächelt mich an und im Dämmer sieht es fast aus, als leuchteten seine blauen Augen. Das heißt, vielleicht tun sie das ja tatsächlich. Bei Theodorus weiß man nie.
Jetzt schaut er Miloš an. „Die Bedeutung deines Namens–“
„Kenne ich schon“, unterbricht er unwillig.
„Glaubst du. Ich sage dir: Sie ist nicht lächerlich oder peinlich. Das ist nur eine der unendlich vielen Lügen, die die Welt dir über Gott eingetrichtert hat. Noch bevor du gezeugt warst, hat er schon an dich gedacht. Er hat dich geformt, als deine Mutter noch nichts von dir wusste. Er hat dir den besten Namen gegeben, der ihm für dich eingefallen ist. Du bist sein Schatz, das Liebste, was er hat. Das ist die Bedeutung deines Namens, Miloš.“

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