31. Mai 2016

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„Mist“, lässt Lotte sich von hinten vernehmen.
Ich drehe mich zu ihr um und sie nimmt ein Stöpselchen aus dem Ohr. „Ich dachte, du schläfst. Es war so still.“
„Ich habe Hörbücher dabei. Ihr könnt also meinetwegen auch deutsche Geheimnisse austauschen, ich kriege nichts mit“, lacht sie und steckt den winzigen Lautsprecher wieder ins Ohr.
„Was hat sie gesagt?“
„Wir können anfangen mit Geheimnisse austauschen, sie kriegt es nicht mit.“
„Aha. Dann fang mal an mit den Geheimnissen. Es gibt weder Fluchtmöglichkeiten noch andere Ablenkung.“
„Wieso soll ich anfangen?“
„Weil du der Jüngere bist.“
Na klar. Im Zweifelsfall müssen die Jüngeren immer zuerst ran. Übrigens irrt er sich, es gibt durchaus Ablenkung. „Ich hab noch nie im Schneetreiben gepinkelt.“
„Es funktioniert genau wie im Sonnenschein. Achte auf den Wind“, grinst er.
Ich angele nach meiner Jacke, die seit dem Halt in Linz auf der Rückbank liegt.
„Bring meine mit“, bittet er, „ich muss auch.“
„Ist das die Meisterschaft im Synchronpinkeln?“, lache ich. Wir steigen beide aus und gehen zum Straßenrand.
„Na klar! Und wir sind das niederländische Team. Auf die Plätze, fertig, los!“
„Hup hup Oranje!“, singe ich.
Er gibt den Stadionreporter: „Das niederländische Team liegt in Führung … ist das zu fassen? Die Richter vergeben die höchste Punktzahl! Die Niederlande sind Europameister!“
Noch nie hatte ich so viel Spaß beim Pinkeln. Und wahrscheinlich war mir auch noch nie so kalt. Mein Kreislauf hat den ganzen Tag auf Sparflamme gearbeitet, weil ich ja fast nur herumgesessen habe im angenehm klimatisierten Auto. Jetzt hängt er durch. Ich beginne meine Wintersportkarriere mit der anspruchsvollen Figur „Hampelmann“. Leider wird mir von der Zappelei mit Armen und Beinen nicht warm, ich gerate nur aus der Puste. Schließlich setze ich mich wieder ins Auto.
Miloš folgt mir eine Sekunde später. „Haben wir denn nichts mehr zu essen?“, fragt er.
„Doch. Den Vanillekuchen des Europameisters.“
„Gut. Essen wir ihn auf. Gibt es auch etwas zu trinken?“
Ich krame im Rucksack, der seit heute Morgen zwischen meinen Füßen steht. „Eine halbe Flasche Saft.“
Auf einmal besinnt sich mein Kreislauf seiner Aufgaben und pumpt das Blut kreuz und quer in meinem Körper herum. Europameisterlich, würde ich sagen. Ich ziehe die Jacke aus und lege sie auf die Rückbank.
Lotte nimmt einen Stöpsel aus dem Ohr und fragt: „Hast du was zu mir gesagt?“
„Bisher nicht. Willst du Kuchen?“
„Gerne.“
„Miloš hat ihn gebacken. Sein erster Erfolg in der Küche“, informiere ich, damit sie dem Werk die nötige Ehre erweist und reiche ihr den Deckel der Dose mit zwei Stücken herüber, damit sie nicht auf die Sitze krümeln muss.
„Danke.“

„Würde Toni dich feuern, wenn du dich gegen die Grapscherei wehrst?“
„Wie kommst du denn jetzt darauf?“
„Wir wollen uns Geheimnisse erzählen und ich soll anfangen. Also frag ich dich danach.“
„Das hast du falsch verstanden“, beschwert er sich. „Du sollst keine Fragen stellen, sondern mir ein Geheimnis sagen.“
„Ich sag dir dann hinterher eins. Antworte. Würde Toni dich feuern?“
„Ich hätte dir nichts davon erzählen sollen.“
„Nein, es war anders. Ich hab die Münze in der Unterhosennaht gefunden und habe dich daraufhin gefragt. Würde er dich feuern?“

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