31. Mai 2016

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Eine reichliche Weile später sagt er leise: „Wahrscheinlich hat es angefangen, als wir vierzehn waren, Milan und ich. Vorher war es egal, dass er Bosnier war und ich eine kroatische Mutter hatte. Aber dann sind zwei ältere Jungs in unsere Klasse gekommen, einer von der anderen Schule und einer, der sitzen geblieben war. Das waren Nationalisten. Wer kein Serbe war, den haben sie verprügelt und über den Schulhof gejagt oder durch die halbe Stadt, je nach dem, wo sie einen aufgegabelt haben. Und die schüchternen Kinder erst recht. Die haben sich ja nie gewehrt. Also habe ich mir angewöhnt, nicht schüchtern zu sein.“
Schüchtern?!?“
„Ja. Als wir mit acht Jahren Freunde geworden sind, war Milan ein wilder Kerl, ein richtiger Draufgänger. Ich habe am liebsten irgendwo in einem stillen Winkel gesessen und gelesen. Ich hatte mir das Lesen selbst beigebracht, als ich fünf war. Rennen und Ballspiele und solche Dinge mochte ich nicht. Deswegen war doch der Platz an meinem Tisch frei, neben mir wollte keiner sitzen. Das war zu langweilig. Nur deswegen konnte der Lehrer Milan da hinsetzen. Woanders war kein Platz.“
„Und seit du vierzehn bist, spielst du allen Leuten vor, dass du ein cooler Typ bist.“
„Ja. Hast du es geglaubt?“
„Ja. Also, manchmal. Meistens. Je länger ich dich kenne, desto öfter wundere ich mich aber über Einzelheiten.“
„Welche Einzelheiten?“
„Zum Beispiel, warum du in den drei ersten Jahren in Zuyderkerk so einsam warst. Wärst du wirklich ein cooler Typ gewesen, hättest du schnell Kontakte gehabt, egal ob du bleiben willst oder nicht. Oder aber, du hättest nicht so drunter gelitten, dass du niemanden hattest.“
„Ich habe nicht gelitten.“
„Doch. Hast du. Wäre es dir egal gewesen, wärst du nicht in der Jesus-Pop-Band gewesen. Mit deinem musikalischen Niveau muss die Verzweiflung schon groß gewesen sein, dass du bei so einer Gurkentruppe mitgemacht hast.“
Wieder entsteht eine Pause.

Schließlich sagt er: „Stimmt.“
„Siehst du. Wärst du wirklich ein cooler Typ gewesen, wäre es dir leichter gefallen, deine Mutter zu verlassen. Aber du warst in der Klemme. Einerseits hat sie sich an dich geklammert und jeden Schritt von ihr weg unterbunden, andererseits hattest du Angst alleine zu sein.“
„Tust du mir einen Gefallen?“
„Klar.“
„Hör auf mich so zu durchschauen.“
„Eine Frage noch.“
„Bitte.“
„Darf ich noch vor unserer Heimfahrt dafür beten, dass Gott das heil macht?“
„Warum ist dir das so wichtig?“
„Na ja, wir gehen ja im Allgemeinen davon aus, dass Gott das alles schon lange weiß, denn er kennt dich durch und durch und er weiß Sachen, von denen ich keine Ahnung habe; die vielleicht nicht mal dir selber ganz klar sind. Und warum sollte ein Problem, das in Bosnien entstanden ist, nicht auch da aufhören? Einfacher als jetzt kriegen wir es nicht.“
„Meinst du, das ist dann sofort weg?“
„Kann sein, weiß ich nicht. Es kann ja auch ein Prozess in Gang gesetzt werden und am Ende ist es weg. Darf ich?“
„Nicht hier im Auto. Erst wenn wir angekommen sind und niemand zuguckt oder zuhört. Wenn wir ganz alleine sind. Es soll niemand sehen, wenn der Heilige Geist seltsame Dinge mit mir macht.“
„Gut. Sag mir, wenn der Zeitpunkt richtig ist.“
„Ich habe übrigens auch eine Frage. Warum bist du schüchtern?“
„Wie, warum bin ich schüchtern?“

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