31. Mai 2016

495

„Nein“, lache ich, „also keine Frau und Kinder. Aber vier kleine Brüder.“
„Sind sie gut?“
Ich bin noch nie gefragt worden, ob meine Brüder „gut“ sind. Aber ich muss nicht nachdenken, es gibt nur eine Antwort: „Ja, das sind sie.“
„Und wie heißen sie? Und wie alt? Was machen sie?“
„Cokko ist zweiundzwanzig und studiert in Rotterdam.“ Soll ich Offshore-Windenergie übersetzen? Wenn ja, wie? Hat hier schon mal jemand was von Windenergie gehört? Und wie weit ist das Meer weg? „Er wird Ingenieur. Ad ist siebzehn und … siebzehn halt. Bas ist fünfzehn und auch nicht einfacher. Eigentlich sind sie nett, aber wir kommen nicht miteinander klar. Und Chris ist neun. Der mag mich. Alle drei gehen zur Schule.“
„Und die Eltern?“
„Gerrit und Marjorie für Ad, Bas und Chris, Douglas und Lucy für Cokko und Lucy und Gerrit für mich“, mache ich die Familie komplett und lache über Dragis Verwirrung. „Und Mommi auch für mich. Mommi ist meine Oma. Und sie hat Miloš aufgenommen, aber er sagt Amalia zu ihr und nicht Mommi, weil sie nur für mich Mommi ist.“
„Ja, man muss viele Namen geben dürfen, und manche Namen sind nur für eine Person.“
„Ist Milodinko nur für dich?“
„Nein, der Name ist für alle. Du kennst ihn nicht so?“
„Nein, ich kenne ihn nur als Miloš.“
„Unsere Mädchen haben alle Namen mit inka und anka am Ende. Es ist für Freude. Und Miloš ist wie Sohn für uns. Zeljko und Marika hatten Geschäft und nicht viel Zeit für ihn. Aber ein Junge kann nicht heißen mit inka und anka. Also haben wir ihm inko gegeben. Milodinko.“
Das ist das schönste Argument, das ich seit langem gehört habe: „Es ist für Freude“. Du machst mir auch Freude, lieber Dragi!


hundertzweiundfünfzigstes Kapitel

Niemand rüttelt meine Schulter, sondern ich wache ganz von alleine auf. Das Fenster steht angelehnt, ich höre die Spatzen im Hof zwitschern. Dann mehrere helle Glockenschläge. Irgendwo muss es eine Kirche geben. Ich habe nicht aufgepasst, wie viele Schläge es gab, aber der Blick zur Armbanduhr verrät: es ist elf.
Unten im Hof kommt ein Auto an (nicht der Audi), Motor aus, zwei Menschen, die sich lachend unterhalten. Miloš und Sloba.
Sloba ist die Wucht in Tüten. Sie ist voller Energie, randvoll mit Lebenslust, ganz anders als ihr Cousin, der hinter seiner gelassenen Fassade viel zu viel grübelt. Sie lacht den lieben langen Tag und ihre rauchige Stimme ist in jedem Gewühl heraus zu hören. Letztes Jahr Ostern, hat sie erzählt, hat sie sich eine Glatze geschnitten. Seitdem lässt sie ihre Haare einfach nur wachsen und färbt sie in allen möglichen Farben. Und dann erst ihre Kleidung! Gestern hatte sie ein knappes Top und einen kurzen Rock an, dazu buntgestreifte Kniestrümpfe und Militärstiefel. Im Bauchnabel und in der Unterlippe hat sie Piercings und auf beiden Oberarmen Tattoos. Vom Typ her würde ich sagen, das sind nicht die einzigen.
Was war das noch, was sie in Köln tut? Ein Studium … am Theater? Oder arbeitet sie am Theater und studiert etwas anderes? Und warum ist sie hier?
Ich stehe auf, finde das Bad, dusche und gehe in Richtung Küche. Ist noch Zeit für ein Frühstück oder warte ich besser aufs Mittagessen?
Mit einem fast perfekten „Goede morgen lieve Jeremy“ begrüßt Dijana mich in meiner Heimatsprache und hat zwei Küsse für mich bereit sowie ein Frühstück mit Kaffee, Brot, Käse und Marmelade. Ich lasse mich am Tisch nieder und fange an zu essen.
Jetzt geht die Tür zum Hof auf und Sloba kommt mit einer Kiste Gemüse herein. „Guten Morgen“, trällert sie.
Ich habe gerade den Mund voll und nicke nur zurück.
Miloš liefert seine Kiste mit Lebensmitteln in der Küche ab und setzt sich zu mir. „Alles gut?“, will er wissen.

Keine Kommentare: