31. Mai 2016

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„Als ich eben nach den Plänen fragte, meinte ich hauptsächlich die für heute.“
„Ach so. Also, ich habe Pläne, aber erst ab fünf. Dann kommt Sloba, sie will mir was zeigen. Bis dahin hab ich Zeit.“
Er reagiert nicht, obwohl ich ihren Namen fast singe. „Wo wollt ihr denn hin?“
„Weiß ich nicht. Vermutlich irgendwas unaussprechliches mit pič oder sič oder so.“
„Du solltest es mal versuchen mit serbisch. Es klingt immer besser. Du hast Talent.“
„Hunde haben auch Talent, Männchen zu machen und trotzdem kommt nicht jeder in den Zirkus.“

Heute ist es bedeckt und kühler als gestern. Es hat auch schon geregnet, der Asphalt ist stellenweise nass. Wir gehen ein bisschen in der Stadt herum, in der um diese Zeit fast nur Rentner und Hausfrauen mit kleinen Kindern unterwegs sind. Miloš zeigt mir die Schule, in die er früher gegangen ist, das alte Gebäude der Stadtbücherei (heute ist sie woanders), wo seine erste Freundin gewohnt hat, wo früher das Kino war und wo er am liebsten nach der Schule herumgehangen hat, als Lesen nicht mehr sein hauptsächlicher Zeitvertreib war. Seltsamerweise verliert er kein Wort darüber, wo Milan gewohnt hat. Wenn er es nicht tut, fange ich nicht damit an! Zum Schluss kommen wir ans Hallenbad. Wir haben keine Schwimmsachen dabei, deswegen bleibt es bei einem Blick ins Innere. Eine Schulklasse hat Sport.
Am Kiosk vor der Halle kauft er uns zwei Becher Kaffee und belegte Brötchen.
„Willst du wieder zurück?“, fragt er.
„Willst du mir noch was zeigen? Wenn ja, will ich noch nicht wieder zurück.“
Vom Schwimmbad aus gehen wir durch ein heruntergekommenes Wohngebiet und dann eine Industriebrache, natürlich einen Hügel hinauf, um zum nächsten Punkt auf Miloš’ Liste der unscheinbaren Sehenswürdigkeiten zu gelangen. Hinter dem Hügel hört das Gelände plötzlich auf, vor uns ist ein riesengroßes Loch. Wir klettern auf einem Pfad hinab und ich stehe das erste Mal in meinem Leben in einem Steinbruch.
Ich schaue mich um. Die Wände sind steil, der Boden liegt voller Geröll, hier und da ist auch zersplittertes Holz und gelegentlich Müll. Kleine Bäume versuchen ihr Glück auf dem Untergrund, aber außer Gras und Moos wächst nicht viel. Dann sehe ich, dass Miloš neben einem Felsbrocken kniet und blicklos in die Gegend starrt. Oh je. Ich weiß, wo wir hier sind. Es ist der ideale Platz für einen Mord.
Ich hocke mich zu ihm und lege eine Hand auf seine Schulter.
„Ich habe kein Grab“, sagt er dumpf. „Ich weiß nicht, wo sie ihn verscharrt haben. Als der Krieg schon zu Ende war, hat mir ein Schulfreund gesagt, dass sie ihn hier … wir hatten nicht viel miteinander zu tun, aber er konnte mir nicht mehr in die Augen gucken, hat er gesagt. Er wusste es von seinem großen Bruder, der war damals dabei gewesen.“
„Wohnt der Bruder noch hier?“
„Ja. Auf dem Zentralfriedhof.“
Eine lange Pause entsteht.
Schließlich sagt er mit brüchiger Stimme: „Jeremy, wenn du irgendwo in diesem Land für mich beten willst, dann tu das hier und jetzt.“
„Wofür soll ich beten?“
„Für echte Sicherheit, gegen Schüchternheit, für Einheit in Bosnien, für meinen eigenen Frieden, was auch immer.“
„Mit Handauflegen?“
„Bitte.“
„Aber ich hab kein Salböl dabei.“
„Es muss ohne gehen.“

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