16. Juni 2016

642

Von ihm kommt keine Reaktion und ich setze neu an: „Miloš. Denk nach. Im Neuen Testament wird lang und breit diskutiert, ob man beschnitten sein muss, um Christ zu werden. Und seitenlang lässt Paulus sich darüber aus, ob man Opferfleisch essen darf oder nicht. Ist das heute wichtig? Nee. Dagegen viele Fragen von heute stellten sich damals nicht, weil die Gesellschaftsordnung und der Alltag ganz anders waren.“ Seine Meinung dazu ist deutlich: Er wendet sich von mir ab. „Du glaubst, dass ich mich mit der Bibel auskenne. Also hör gefälligst zu“, fordere ich.
„Das kann ich nicht! Deine Arroganz stinkt zum Himmel!“
Die Freiheit in meinem Glauben, auch andere Ansichten zulassen zu können, fehlt ihm völlig. Und die russischen Brüder haben nichts dafür getan, seinen diesbezüglich doch sehr engen Horizont zu weiten. Herzlichen Glückwunsch, so entsteht Fundamentalismus.(371) „Wofür sollte Jesus uns den Heiligen Geist geschickt haben, wenn alle Antworten in der Bibel stehen? Er wusste, dass die Zeiten sich ändern würden. Geh zu Michelle und entschuldige dich.“
„Sag mir eine Frage, auf die in der Bibel keine Antwort steht.“
„Ich kann dir sogar ganz viele nennen. Welchen Beruf soll ich lernen? Die Auswahl ist so groß und ich will alles richtig machen. Oder: Soll ich Frau A oder Frau B heiraten? Mit welcher passe ich besser zusammen? Oder: Sollen wir mit dem Sex bis zur Ehe warten oder entspannt es unsere Beziehung, wenn wir vorher schon miteinander schlafen? Oder: In der Bibel steht, Gott hat die Regierungen über uns gesetzt. Die Regierung handelt ungerecht. Darf ich gegen die Herrscher aufstehen? Und so weiter und so fort.“
„Das ist aber alles sehr allgemein und dazu ziemlich weit von dir weg“, bemängelt er. „Einen Beruf hast du schon, du willst gerade Single sein, du hattest zuletzt vor zwei Jahren Sex, und die Niederlande sind dafür bekannt, tolerant und weltoffen zu sein.“
Er hat wirklich nicht mitgekriegt, was passiert ist, kurz bevor ich mit Sloba Schluss gemacht habe! „Dann nimm Mommis Frage. Die Frage ihres Lebens. Warum habe ich nur ein Kind bekommen? Ich wollte eine ganze Schar haben. Warum hat Gott mir nur eins gegeben?“
„Das noch dazu so viel Mist gemacht hat“, will er die Frage vervollständigen.
„Nein. Um den Mist ging es dabei nicht. Nie. Sie hat sich viele Kinder gewünscht. Sie war ja noch sehr jung, als Gerrit kam. Es gab keine Erklärung, warum sie nicht wieder schwanger wurde. Dann haben sie versucht, Kinder zu adoptieren. Die Vermittlungsversuche haben sich endlos hingezogen, bis sie schließlich gescheitert sind. Dann haben sie versucht, Pflegekinder zu bekommen. Auch das hat nicht geklappt. Sie hat sehr gelitten, wenn Leute schlecht mit ihren Kindern umgegangen sind. Sie hätte gerne mehr Kinder gehabt, und sie hätte ihnen ein gutes Zuhause geboten. Warum haben diese Menschen, was ich nicht habe und wissen es nicht mal zu schätzen? Auf diese Frage hat die Bibel ihr keine Antwort geben können.“
„Hat sie denn vom Heiligen Geist eine bekommen?“
Er ist zwar noch nicht überzeugt von meiner Ansicht, aber immerhin schon wieder besänftigt. Schließlich stellt er Fragen! Der Heilige Geist wird auch ihm Antworten geben.
„Nein“, antworte ich. „Aber Trost. Der ist oft viel wichtiger als eine Antwort. Und neue Aufgaben hat sie dann auch bekommen.“
„Dich.“
„Und dich. Und all die anderen, die gerne bei ihr einkehren und denen sie zuhört, Rat gibt, Wolkenpudding kocht oder einfach eine gute Zeit mit ihnen hat und ihnen Wertschätzung entgegen bringt.“
„Wertschätzung“, wiederholt er so langsam wie abwesend.
Als müsse er das Wort schmecken und kauen.

Keine Kommentare: