Donnerstags ist schon wieder Merle da, außerdem Zoran, Xavier und später ich. Für den quengeligen Zimmernachbarn dürfte es viel zu Meckern geben. Diese vielen Ausländer! Und es ist ihm sicher auch nicht recht, wenn so ein Kommen und Gehen herrscht.
Ja, und Freitags hat die Gurkerei ein Ende. Zum Glück. Es ist ganz schön umständlich, teuer und auch anstrengend, jeden Tag über hundert Kilometer in der Bahn zu sitzen.
Nach der Arbeit fahre ich zu Merle und sie öffnet die Tür schon, bevor ich klingeln kann. „Psst!“, macht sie, „er schläft!“
Ich begrüße sie und frage dann: „Ist das nicht ein bisschen übertrieben, deswegen durchs Haus zu schleichen?“
„Willst du denn, dass er aufwacht? Schlaf ist wichtig für den Genesungsprozess!“
„Er ist ja kein kleines Kind mehr, das muss er aushalten. Wo ist er denn überhaupt?“
„Hier“, sagt er und steht an der Flurtür.
„Ich dachte, du schläfst!“, fährt sie herum.
„Was soll ich nachts tun, wenn ich den ganzen Tag schlafe?“, fragt er. Wir begrüßen uns und gehen in den Wohnraum. „Außerdem sind die Nächte im Krankenhaus viel kürzer, wo ständig einer bimmelt und Türen knallen und Schritte auf dem Flur sind und garantiert irgendwer furzt, kaum dass du mal tief Luft holst.“
„Na ja“, grinse ich, „als Ausgleich schnarchen andere Leute wie ein ganzes Sägewerk.“
Lachend kontert er: „Andere quasseln die ganze Nacht oder laufen um ihr Bett herum.“
„Von welchen anderen Leuten redet ihr da?“, erkundigt Merle sich.
„Von ihm“, sagen wir zugleich und zeigen auf einander und gibbeln noch mehr.
Kopfschüttelnd verlässt sie den Raum, aber ich sehe es, sie lacht auch.
Das Telefon klingelt. Wie auf Kommando quaken wir los: „Merle! Telefon! Ist bestimmt für dich!“ und kriegen uns nicht mehr ein.
„Geh doch mal einer dran, verdammt noch mal!“, ruft sie aus Richtung der Toilette.
Miloš ist auf dem besten Wege, zu seiner Form zurück zu finden, denn er ist schneller am Apparat als ich. „Kusturica bei Van Wieringen“, meldet er sich und grinst mich frech an. „Hallo Nieke“, begrüßt er die Anruferin, hört auf seine übliche schweigende Weise zu, bestätigt „Ja, genau“, „doch, der ist auch hier“, bedankt und verabschiedet sich. Und gibt den Telefonhörer an mich weiter.
„Hallo Nieke“, sage ich ebenfalls. „Warum rufst du bei Merle an und willst dann mit mir telefonieren?“
„Weil ich dich zuhause nicht erreicht habe und in solchen Fällen ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass du – sofern du nicht arbeitest – entweder bei deiner Mommi, im Proberaum oder bei Merle bist. Oder irgendwo auf dem IJsselmeer. Aber ich habe Glück, ich habe dich schon im ersten Versuch gefunden.“
„Hättest du echt bei Mommi angerufen? Weißt du überhaupt ihren Namen?“
„Ich denke mal, dass sie van Hoorn heißt.“
„Stimmt. Aber erzähl, warum rufst du an?“(358)
Sie atmet durch. „Ich wollte dich fragen … also, das ist okay, wenn du nicht willst. Es ist ja sehr plötzlich.“
„Sag doch erst mal, was du willst“, bitte ich. „Dann kann ich hinterher immer noch entscheiden, ob ich auch will. Oder nicht.“
Sie holt noch einmal tief Luft. „Das ist so. Ich war mit Henry verabredet, wir wollten ins Programmkino und einen Film über Leonard Bernstein angucken, aber er hat gerade angerufen, er kann nicht. Und der Film läuft nur heute. Und ich will ihn unbedingt sehen. Aber ich mag nicht alleine im Kino sitzen. Deswegen wollte ich fragen, ob du mit mir hingehst.“
Alles was mir zu fragen einfällt, ist: „Wer ist denn Henry?“ Nein, das ist nicht die einzige Frage. Die andere lautet: Wer ist Leonard Bernstein? Aber wenn es einen Film über ihn gibt, gehört er vielleicht zum Allgemeinwissen, deswegen frage ich lieber nicht.
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