15. Juni 2016

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„Jeremy“, fängt er zögernd an. „Hilfst du mir vielleicht auch bei einem weniger schwierigen Problem?“
Um die Stimmung zu lockern, sage ich: „Nö. Ein Problem pro Tag reicht.“
Das gelingt, er winkt grinsend ab. „Kannst du mir beim Rasieren helfen? Samstagmorgen habe ich zuletzt … wahrscheinlich sehe ich aus wie ein Taliban!“
Da muss ich herzhaft lachen! „Auf jeden Fall. Der Bart hängt dir ja schon in den Mund!“
„Für dich ist es nicht wichtig, aber ich finde es unordentlich. Es fühlt sich schrecklich an.“ Wie zum Beweis streicht er sich über die Wangen und unterm Kinn entlang, obwohl das nichts beweist, da ich es ja nicht spüre. „Und alle sehen es. Schlimm genug, dass ich mir keine anständige Frisur machen kann, da liege ich ja die Hälfte der Zeit drauf. Ich kann so nicht aus dem Zimmer, aber ich muss doch zuhause anrufen!“
„Aber deine Eltern sehen es gar nicht.“
„Jeremy, ich rasiere mich sonst jeden Tag!“
Das bringt mich zum Lachen. „Du hast gesagt, du gehst unrasiert nicht aus dem Haus. Du wirst heute nicht aus dem Haus gehen.“ Ich muss ihn einfach auf den Arm nehmen, ich freue mich so, dass er endlich wieder dazu in der Lage ist. Es gibt kein schlappes Mundwinkellächeln mehr, sondern die Lachgruben sind wieder da!
Er stößt einen klagenden Seufzer aus. „Du willst mir nicht helfen!“
„Doch. Ich wunder mich bloß drüber, dass du das nicht längst alleine erledigt hast.“
„Das hätte ich sehr gerne getan, aber erstens darf ich nicht aufstehen und zweitens, was hätte ich davon? Ich müsste mir doch erst alles ausleihen.“
„Ach, warum darfst du nicht aufstehen?“
„Dr. Karthalis hat es gesagt.“
„Wer ist denn das?“
„Der Chef der Kardiologie. Er hat die OP übernommen, als die Komplikationen auftraten.“
„Und an seine Anweisungen hältst du dich.“
„Wir haben es ausprobiert, wahrscheinlich war ihm klar, dass ich ungehorsam sein will. Es ging nicht.“
Soso, du willst ungehorsam sein … „Warum ging es nicht?“
„Der Kreislauf macht es nicht mit!“, schnaubt er mich an. „Ich habe zu wenig gegessen in den letzten vierzig Stunden!“
Meine Befürchtungen bezüglich seiner Gehirnfähigkeiten stellen sich als unbegründet heraus. Er scheint genauso aus dem Koma aufgewacht zu sein wie er reingekommen ist – wenn man davon absieht, dass auch sein restlicher Körper endlich wieder richtig funktioniert. Nochmals danke, Jesus!!
„Gut, dass du es selbst gemerkt hast.“
„Nervensäge.“
„Übrigens sind alle deine Sachen hier, du musst dir nichts leihen.“ Ich öffne den Schrank und hole die Tasche. „Guck: Bücher, Waschzeug, Klamotten und so weiter.“
„Wie soll ich das wissen, wenn ich nicht an den Schrank komme, weil ich nicht aufstehen kann? Wie du es drehst und wendest, ich brauche deine Hilfe.“
Ich gebe ihm die Tasche, dann kann er schon mal nachsehen, was sonst noch drin ist und gehe zum Stationszimmer, um eine Wasserschüssel zu bekommen. Natürlich will die Krankenschwester wissen, was ich damit vorhabe. Schließlich hat sie eine viel bessere Idee. Sie begleitet mich mit einem Rollstuhl, trennt Miloš vom Tropf und verlässt uns dann.
Ich helfe ihm beim Anziehen, wir müssen nur auf die Kanüle in seinem linken Arm achten und die kleine verpflasterte Stelle in der Leiste, wo am Samstag der Katheterschlauch eingeführt worden war. Als er für seine Begriffe anständig genug aussieht, schiebe ich ihn erst zum Telefon, und zwei serbische Gespräche später auf die Dachterrasse am anderen Ende der Station, damit er Frischluft kriegt und Sonnenschein.

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