15. Juni 2016

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hundertzweiundneunzigstes Kapitel

So kommt es, dass ich schon um halb zwölf im Zug nach Amsterdam sitze.(354)
Als ich das Zimmer auf der Intensivstation betrete, liegt er da wie gestern und vorgestern, aber das gleichmäßige plopp-zisch der Atemmaschine fehlt. Noch einen großen Unterschied gibt es. Seine Haut hat die normale Farbe zurück, seine Lippen sind endlich nicht mehr bläulich. Sein Herz hat die Arbeit wieder aufgenommen, so präzise und zuverlässig wie früher. Soweit ich das überblicken kann, sind nur noch drei Kabel oder Schläuche angeschlossen.
Ich stelle meinen Rucksack auf den Boden und setze mich an sein Bett.
Jetzt macht er die Augen auf. „Jeremy“, sagt er.
„Miloš.“
Seine Finger suchen nach meiner Hand. „Gut, dass du da bist.“
„Gut, dass du wieder da bist.“
„Ja.“ Ganz sanft schaut er mich an und lächelt.
Merle zufolge … das hat sie mir gesagt, als man mit ihr noch über Miloš reden durfte … guckt er nur mich so an. Der Blick sei reserviert für die gefühlvollen Momente unserer Männerfreundschaft. Das mache sie sehr eifersüchtig, denn sie sei noch nie so angeguckt worden.

Dann holt er Luft und sagt: „Jeremy, ich habe ein Problem. Eine sehr schwierige Sache. Es hat mit meinen Eltern zu tun. Hilfst du mir?“
„Klar.“
„Sie werden furchtbar sauer auf mich sein, wenn sie hören, was mit mir passiert ist, und niemand hat sie informiert.“
„Mach dir darum keine Sorgen. Sie wissen Bescheid. Du kannst sie gleich anrufen und verkünden, dass du wieder unter den Lebenden bist.“
„Sie wissen es? Hast du sie angerufen?“
„Das hätte bei meinem ausgezeichneten Serbisch nicht viel gebracht, he? Nein, wir haben Sloba angerufen und sie hat es ihnen erklärt.“
Du hast mit Sloba gesprochen?“
„Nein, Merle … Ich weiß gerade gar nicht, ob du das alles wissen willst. Dein Handy liegt ja zuhause, und sie hat die Geheimnummer geknackt, um an Slobas Nummer heran zu kommen. Die Idee, deine Eltern zu informieren, war auch von ihr. Ich konnte ja an nichts denken. Sie hat mich nach der OP hier abgeholt.“
„Wie geht es ihr?“
„Moment mal – fragst du mich jetzt, wie es Merle geht?“
„Wen soll ich sonst fragen?“ Er seufzt tief. „Jeremy, ich weiß nicht weiter. Wie soll ich mit ihr wieder ins Reine kommen? Es ist schon so viel Zeit vergangen und es wird immer mehr.“
Seine Stimme ist ganz leise, aber für mich ist es wie durch ein Megafon gebrüllt. Er will sich mit ihr versöhnen! Danke, Jesus!
„Sie hätte sagen können, was mit Kusturicas ist, geht mich nichts an, aber sie hat so ein gutes Herz. Es tut mir sehr leid, dass ich gemein zu ihr war. Ich muss mich entschuldigen, aber ich habe Angst, dass sie nicht mehr mit mir befreundet sein will, deswegen konnte ich sie bisher nicht anrufen. Oder ihr einen Brief schreiben. Oder eine Email. Eine SMS. Oder sie zuhause besuchen. Jeremy, ich will sie zurück haben, aber ich weiß nicht, wie das gehen kann.“
Wäre es eine Einmischung in den Streit, aus dem sie mich beide so konsequent raushalten, wenn ich ihr das sage?
Ich darf diesen Gedanken in aller Ruhe zu Ende denken, denn er ist in kummervolles Schweigen versunken.

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