15. Juni 2016

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Im Aufzug sagt sie auf einmal: „Streck mal den Flügel aus.“
„Flügel?“ Ist sie wirklich ein Engel?
„Den Arm. So.“ Sie streckt ihren Arm vor und hält die Handfläche nach oben.
Ich mache es nach. „Willst du mir meine Lebenslinien erklären?“
„Brauche ich nicht, ich habe schon alles Wichtige gesehen.“ Sie faltet meinen „Flügel“ wieder ein. „Wann hast du zuletzt gegessen?“
„Wie kommst du darauf?“
„Deine Hand zittert.“
„Nein, wieso fragst du mich das?“
„Merle hat mir vor dem Konzert im Coec gesagt, dass man bei dir ein bisschen aufpassen muss, dass du in Ausnahmesituationen regelmäßig isst. Erst dachte ich, du wärst Diabetiker, aber sie sagt, du hast bloß einen schnelleren Stoffwechsel als die meisten Menschen.“ Sie mustert mich einen kleinen Moment. „Also sag. Wonach ist dir? Ich lade dich ein.“
„Hast du denn auch noch nichts gegessen?“
„Doch.“
„Aber dann guckst du mir ja beim Essen zu. Ich mach mir zuhause was.“
„Tu mir den Gefallen. Lass dich einladen.“
Ich gebe mich geschlagen. „Dann hätte ich gerne fettiges und salziges Fastfood.“
Sie schaut in ihrem Handy nach der nächsten Adresse. Derweil kommen wir an ihrem Auto an, steigen ein, fahren los.


hunderteinundneunzigstes Kapitel

Seit Nieke gestern Abend für mich gebetet hat, funktioniert das Schalldämpfergebet aus der VKR wieder. Ich konnte schnell einschlafen und bin keinmal in der Nacht wach geworden und einigermaßen gut drauf, als ich in die Schule fahre. Auch die Stille im Haus kommt mir nicht mehr so still vor.
Grietje und Bernard sind schon da und ein paar Kinder. „Guten Morgen allerseits“, grüße ich in die Runde. Einer unserer Jungs, Bo, will mir direkt etwas sagen, aber ich muss erst selber was loswerden. „Erzähl es mir gleich“, bitte ich den Jungen.
Ich setze mich zu den Kollegen an den Tisch. „Kann sein, dass ich heute unkonzentriert bin oder abwesend. Miloš hatte Samstag eine Herz-OP und ist allergisch gegen ein Medikament, was keiner wissen konnte und jetzt ist er im Koma.“
„Was machst du dann hier?“, regt Grietje sich auf. „Bleib doch zuhause, verdammt noch mal! Man kann seinen Arbeitseifer echt übertreiben!“
Ich hole tief Luft. „Das hat nichts mit Arbeitseifer zu tun. Ich kann nicht den ganzen Tag rumsitzen und Angst haben. Da werde ich selber ganz krank.“
Sie nickt. „Entschuldige, du hast recht. Magst du drüber reden?“
„Nein, aber stör dich nicht dran. Tu einfach, als wär das hier ein ganz normaler Tag.“
„Ein ganz normaler Tag? Wie bitteschön soll ich das jetzt noch tun?“
Ich hebe die Schultern. „Willst du vielleicht wissen, warum er eine Herz-OP hatte?“, erleichtere ich ihr den Einstieg. Natürlich will sie es wissen. „Das kam, weil er Löcher hatte in der Herzscheidewand. Deswegen ging es ihm auch so mies.“
„Löcher in der Herzscheidewand?! Wie kommen die denn da rein? Hat er es beim Sport übertrieben?“
„Nein, die waren da schon drin, sein ganzes Leben lang. Aber er hat es nicht bemerkt.“
„Aber wenn die da schon immer drin waren, wieso ist er erst jetzt operiert worden? Und wieso ging es ihm früher nie schlecht?“
Tja. Leider kann nicht jeder Arzt für Kinder erklären.
Bernard ist zwar kein Arzt, aber er kann für Kinder erklären! „Du hast in Prinzip je Herzhälfte einen Blutkreislauf im Körper, der eine pumpt das sauerstoffreiche Blut aus der Lunge ins Gehirn und alle Organe und die Muskeln und so, der andere pumpt es zurück zur Lunge, wo neuer Sauerstoff hinein kommt. Wenn im Herz ein Loch ist, stimmt der Pumpdruck nicht mehr. Im Hirn fällt es besonders schnell auf, wenn zu wenig Sauerstoff ankommt. Wahrscheinlich hat er Schwindelgefühl gehabt, ist auch mal umgekippt, hat gefroren, blaue Lippen gehabt, ist wenig belastbar gewesen … je nach Stadium sind das die Anzeichen.“
„Ja. Und er hat unheimlich viel geschlafen und war doch nicht ausgeruht hinterher.“

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