hundertneunzigstes Kapitel
Ich habe Miloš’ Sachen in seine kleinere Sporttasche gepackt, viel ist es ja nicht. Weil ich will, dass er aufwacht und bald über den Gang läuft, habe ich auch drei T-Shirts, die lange Trainingshose und seine Schlappen eingepackt, fürchte aber, dass das wenig realistisch ist. Und ich weiß auch nicht, wie ich den Gottesdienst überstehen soll. Es türmt sich alles vor mir auf wie ein unüberwindbares Gebirge, das umso größer wird, je näher man ihm kommt.
Ich bin noch nie gut gewesen im Gefühlewegsperren, mir kann man immer ansehen, wie es mir geht. Deswegen versuche ich keinen so genau anzugucken, aber das macht die Leute wahrscheinlich erst recht aufmerksam, denn so bin ich ja normalerweise auch nicht drauf.
Gleich nach der Begrüßung fragt Alannah: „Was ist mit dir?“
„Es geht mir nicht gut“, weiche ich aus.
„Das sehe ich.“
Ablenkung bietet Michelle, die den Gottesdienstraum betritt und reihum grüßt.
Ein Glück, dann muss ich nicht singen, nur trommeln. Das werde ich schaffen. Ich verziehe mich auf meinen Platz.
Wir spielen ein paar Stücke durch und die Routine fängt gerade an beruhigend auf mich zu wirken, als Benji sagt: „Das reicht für heute. Seit Jeremy mitmacht, werden wir immer besser.“
Na ja … wenn du meinst … ausgerechnet heute würde ich das nicht behaupten.
Er meint noch etwas anderes, als er sich zu mir hinter die Trommeln hockt. „Jeremy, was ist los?“, fragt er leise. „Alannah sagt, du zitterst tief innen drin vor Angst. Hab keine Sorge, das hat sie mir nur gesagt, weil wir beide uns gut verstehen, sie wird es niemand anderem sagen. Sie ist halt sehr sensibel in diesen Dingen. Wenn du Gebet möchtest oder einfach jemanden brauchst, der zuhört, bin ich für dich da.“
„Hast du die Probe nur abgebrochen, weil du mir das sagen wolltest?“
„Ja. Wenn es nötig ist, muss man die gewohnten Pfade verlassen. Die VKR erwartet keine Anbetung mit deinem wunderbaren Rhythmus, sondern sie will deine Heimat sein. Du bist hier nicht als Dienstleister. Ich weiß nicht, ob du dich zum Bleiben entschieden hast, aber wir wollen, dass du bleibst. Du, und auch Miloš.“
Ich kann es nicht länger verbergen. „Um den geht’s. Und ihr könnt heute leider nicht zu uns kommen.“
„Was ist mit ihm los? Geht es ihm schlecht?“
„Er ist gestern am Herzen operiert worden und dabei haben sie ein Medikament verwendet, auf das er allergisch ist, aber das wusste ja keiner, und sie mussten reanimieren und jetzt ist er im Koma.“
„Oh Gott“, sagt er erschrocken. Dann winkt er die anderen Musiker her, setzt sie in Kenntnis und sofort fangen alle an zu beten, dass Miloš bald aufwacht und wieder gesund wird. Sie legen mir die Hände auf und segnen mich mit Kraft und Zuversicht. Sie beten, dass ich gut schlafen kann und anständig esse und meine Kollegen Verständnis haben, wenn ich morgen auf der Arbeit mit den Gedanken woanders bin. Sie bitten Gott, mich zu segnen und Miloš und unsere Freundschaft.
Um mich herum ist eine Art Schallisolierung. Ich habe das Gefühl, das Gebet schirmt mich von der Außenwelt ab. Und die Angst muss draußen bleiben. Drin ist Gottes Friede wie ein riesengroßes Sofakissen. Ich muss nichts tun, der Friede trägt mich. Es ist soooo … ich weiß gar nicht, wie es ist, es ist toll und ich habe kein Wort dafür.
Derart geborgen gehe ich nach der Predigt nach vorne, als die Leute erzählen können, was sie mit Jesus erlebt haben, und ich erzähle, was mir heute morgen hier auf der Bühne passiert ist. Ich berichte auch vom gestrigen Tag und noch einmal geschieht das Wunder. Gottesdienstbesucher, deren Namen ich nicht mal kenne, stehen auf, kommen nach vorne und beten für mich, legen mir die Hände auf und segnen mich in Jesus’ Namen.
Ja, ich will hier zuhause sein; nirgends sonst als in dieser warmherzigen Gesellschaft.
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