15. Juni 2016

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Bei meiner guten alten Mommi bekomme ich, was ich brauche. Gemüseeintopf, Wolkenpudding und heißen Tee für den Körper und ein waches Ohr, Streicheleinheiten, Gebet, loslassen können und weinen dürfen für die Seele.
Sehr viel später klingelt es an der Tür.
Mommi geht hin und öffnet und kommt mit Merle zurück ins Wohnzimmer.
„Mir ist was eingefallen“, sagt sie. „Seine Eltern müssen es ja irgendwie erfahren.“
Dragi anrufen. Ihm alles erklären. Reicht sein Deutsch dafür aus? Reicht meine Kraft dafür aus? Ich fürchte, beides reicht nicht aus.
„Soll ich Sloba informieren?“
„Merleperle, du bist die Beste“, seufzt es aus mir heraus.
Sie winkt ab, „Dafür brauche ich die Nummer der WG. Oder soll ich lieber hinfahren?“
„Du hast es nicht mitgekriegt: Sie wohnt wieder in Köln.“
Kopfschüttelnd hebt sie die Augenbrauen und denkt sich vermutlich ihren Teil. „Aber wie können wir sie dann erreichen?“
„Miloš hat ihre Nummer im Handy.“
„Das hilft nur, wenn sein Handy nicht da ist, wo er ist.“
Dieser Tag hat zwei furchtbare Eigenschaften. Erstens, er ist furchtbar, zweitens, er hört gar nicht auf damit.
Jesus, wie kommen wir an Slobas Telefonnummer? Sag was. Bitte.
Ich sehe es wie einen Film vor dem inneren Auge, wie dieser Tag angefangen hat. Er ist auf der Terrasse zusammengebrochen …
Ich will das nicht noch einmal erleben! Wir brauchen die Telefonnummer!
Der Film geht schon wieder los. Er ist auf der Terrasse zusammengebrochen …
Jetzt ist es passiert. Ich drehe wirklich durch. Ich kann nicht mal mehr meine Gedanken kontrollieren. Ich gehe an Mommis Küchenschrank und nehme eine Tafel Schokolade heraus. Einfach nur, um was ganz anderes zu tun.
Kaum habe ich das erste Stück im Mund, geht der Film wieder los. Er ist auf der Terrasse zusammengebrochen …
… und ich habe die Wahl: entweder ich wehre mich weiter und es passieren noch mehr schlimme Dinge in meinem Kopf, oder ich lasse den Film laufen … und es passieren andere Dinge. Ich warte, bis Merles Hand aus der Schokoladenpackung verschwindet, nehme ein weiteres Stück, schließe die Augen und sehe: Er ist auf der Terrasse zusammengebrochen und ich nehme das Fahrrad weg. Ich bringe ihn aufs Sofa. Auf dem Weg zu den Nachbarn finde ich draußen das Handy. Ich stecke es ein und als ich mir im Bad ein Paar Socken anziehe, stört mich der Klotz in der Hosentasche und ich lege ihn auf die Waschmaschine.
Danke, Jesus.
Ich sage Merle den Ort, sie bekommt meinen Haustürschlüssel und verabschiedet sich.

Sie ist nicht lange weg. „Sloba hat sich sehr gewundert über die Nummer … ich war so frei und habe euer Festnetz benutzt … und dann hat sie es recht gefasst aufgenommen und versprochen, seine Eltern sofort anzurufen. Aber vielleicht hat sie auch noch nicht ganz begriffen, was geschehen ist“, berichtet sie.
„Danke jedenfalls. Du kannst es auch allen anderen Leuten sagen, die nach ihm fragen.“
„Wer sollte ausgerechnet mich nach ihm fragen?“, gibt sie zurück.
„Ach ja“, fällt mir ein, „ihr habt ja Streit.“ Auch das noch. Könnten sie sich nicht in Abwesenheit miteinander versöhnen? Das würde mein Leben irgendwie leichter machen.

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