15. Juni 2016

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Ich wische mir mit dem Ärmel übers Gesicht und frage normal laut: „Was ist passiert?“
Dem Arzt ist die Erleichterung über meinen Stimmungswechsel deutlich anzusehen. „Ihr Freund hat eine heftige allergische Reaktion auf eins der verwendeten Medikamente gezeigt.“
„Aber warum ist er dann jetzt im Koma?“
Er erklärt es und ich verstehe nichts, kein Wort. Als würde er eine fremde Sprache reden. Es rauscht bloß so an mir vorbei. „Entschuldigung … ich hab … nix kapiert. Können Sie das … ähm … einfacher erklären?“, bitte ich verlegen.
Er guckt mich an, als wäre jetzt ich der mit der Fremdsprache. Ich versuche einen neuen Anlauf. „So für … ähm … Kinder.“
„Für Kinder?“, wundert er sich.
„Ja. Haben Sie Kinder?“
„Eine Tochter.“
„Können Sie das so erklären, dass die es auch verstehen würde?“
„Meine Tochter ist zweiundvierzig und hat Medizin studiert.“
Drehe ich langsam durch? Wieso rede ich so einen Scheiß?
Auf einmal lächelt er. „Ich habe eine Enkelin, die ist acht.“
„Oh ja“, bitte ich sehnsüchtig, „erklären Sie es für Achtjährige.“
„Dann muss ich du sagen.“
„Machen Sie das. Bitte.“
Er denkt kurz nach, schließt die Augen und fängt an: „Koma ist so wie Schlafen. Sehr feste schlafen. So fest, dass dich niemand aufwecken kann. Und es kann auch ganz lange dauern. Dein Körper macht so einen festen Schlaf, wenn ihm ein Unglück passiert ist, also wenn ihm jemand sehr weh getan hat oder wenn er vergiftet wurde. Dann macht er diese Pause, um sich zu reparieren. Leider weiß niemand, ob dein Körper sich reparieren kann und wann er fertig wird damit. Und ob überhaupt.“ Er macht die Augen wieder auf und schaut mich an.
Nach einer kleinen Weile sage ich leise: „Entschuldigen Sie bitte, dass ich so ausfallend geworden bin.“
Er winkt ab. „Das ist menschlich. Sie stehen unter großem Druck.“
„Haben Sie operiert?“
„Nein. Ein sehr kompetenter Kollege hat die Operation geleitet.“
Natürlich wird er mir den Namen nicht sagen.
Nach ein paar weiteren stillen Minuten fällt mir ein: „Kann ich zu ihm?“
„Ja, aber nur kurz. Ich bringe Sie hin.“

Wir gehen durch ein paar Flure und fahren dazwischen eine Etage mit dem Aufzug hinauf. Das Krankenhauspersonal, das uns während des Weges begegnet, grüßt den Arzt sehr respektvoll. Anscheinend habe ich die Herz-Koryphäe des Hauses beschimpft, Fehler gemacht zu haben.(351) Es tut mir leid, aber ich fühle mich wie ausgewrungen, ich kann nicht mehr.
Er hält an einem Zimmer mit Fenster zum Flur. Drinnen sind noch zwei Krankenschwestern beschäftigt. Als sie das Zimmer verlassen, nickt er mir zu und erinnert: „Fünf Minuten.“

Dann stehe ich am Fußende des Bettes, traue mich nicht, etwas zu sagen oder zu tun, zu ihm hinzugehen, ihn anzufassen, ihm die Frisur zu ordnen (wenn er wüsste, wie er aussieht, würde er das sofort tun) oder den getrockneten Schweiß von der Stirn zu putzen.
Es klopft an der Scheibe.
Ich schaue auf, der Arzt winkt mir. Ich gehe zu ihm raus, er schließt die Tür hinter mir.
„Und jetzt?“, will ich hilflos wissen.
„Jetzt rufen Sie sich ein Taxi und fahren nach Hause. Und morgen kommen Sie wieder, bringen vielleicht ein paar persönliche Gegenstände mit, sprechen mit Ihrem Freund oder lassen ihn auf andere Weise wissen, dass Sie da sind. Er kann nicht auf Sie reagieren, aber er kann Sie hören. Das beruhigt. Okay?“

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