15. Juni 2016

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hundertneunundachtzigstes Kapitel

Da der Eingriff ja nur zwanzig Minuten dauern soll, warte ich im Foyer vor den Operationssälen. Zwanzig Minuten sind nicht lang. Damit ich nicht wie heute Morgen ständig zur Uhr gucke, nehme ich sie ab und stecke sie in die Hosentasche.
Die Anspannung lässt nach, das merke ich als erstes in meinem Darm. Ich finde eine Toilette, und als das erledigt ist, rufe ich Arjen an und entlasse ihn aus dem Taxiservice. Er wartet ja seit heute früh auf den Anruf aus Hoorn, dass er uns wieder abholen soll. Ich rufe auch Mommi an und berichte vom Stand der Dinge. Auf dem Rückweg komme ich an einem Getränkeautomaten vorbei und trinke eine Cola. Mein Blick fällt auf die Uhr, die im Flur nebenan hängt. Sie zeigt Viertel vor drei an. Geht sie vor? Ich hole meine Armbanduhr heraus. Viertel vor drei. Er ist schon über eine Stunde da drin. Die Anspannung ist sofort wieder da.
Ich versuche einen Arzt zu erwischen, der mir sagen kann, wo Miloš jetzt ist, warum das so lange dauert und ob etwas passiert ist.
Eine Herzspezialistin zeigt schließlich Herz. Sie erkundigt sich für mich und erklärt mir, dass bei dem Eingriff weitere Löcher und instabile Stellen in der Herzscheidewand gefunden worden sind, die beim Ultraschall nicht entdeckt wurden. Beim Versuch, sie ebenfalls so zu schließen und zu festigen, seien Komplikationen aufgetreten.
„Komplikationen?“, frage ich mit Staub im Mund.
„Ich kann Ihnen leider nichts genaues dazu sagen. Machen Sie sich aber bitte keine Sorgen, es muss nichts schlimmes sein.“
Ich finde, dass Komplikationen schlimm genug klingt, aber ich sage nichts dazu. Wahrscheinlich will sie mir nicht alles sagen, was sie weiß. Oder sie weiß selber nicht mehr; sie war ja nicht im OP dabei.
Meine eingebildete Ruhe ist hin, ich gucke jetzt wieder im Minutentakt auf die Uhr. Nichts passiert, wenn man davon absieht, dass haufenweise medizinisches Personal durch die Gänge geht und eilt, alleine und zu mehreren, und im letzteren Fall auch gerne eine Wolke von Fachwörtern hinterlässt. Dazwischen immer mal ein paar Patienten, Angehörige, noch mehr Mediziner und zwei junge blonde Putzfrauen, die osteuropäisch miteinander sprechen.
Alle haben jemanden oder sie haben etwas zu tun und ich sitze nur hier herum, niemand kümmert sich um mich, niemand sagt, was los ist, niemand ist für mich da.
Nach einer entsetzlich langen halben Stunde hält endlich doch jemand bei mir an, es ist ein älterer Herr. Er geleitet mich in ein Bürozimmer. Dort sagt er mir, dass ich mich hinsetzen soll und nimmt auf der anderen Seite des penibel aufgeräumten Schreibtisches Platz. Er stellt sich vor als stellvertretender Chefarzt der Kardiologie und sagt auch seinen Namen, aber ich vergesse ihn sofort. Er wiederholt das mit den Löchern in der Herzscheidewand und dass sie versucht haben, sie zu flicken (flicken sagt er nicht) und dass Komplikationen aufgetreten sind und der Patient kollabiert ist und sie reanimieren mussten und er dann ins Koma gefallen ist.
Weil es still ist und der Arzt nichts weiter sagt, hole ich Luft, um etwas zu sagen. Kaum habe ich Luft, bricht die ganze Angst aus mir hervor: „Eine Katastrophe nach der nächsten. Wollen Sie mir mit dem Schweigen andeuten, dass er, gleich nachdem er im Koma angekommen ist, auch noch verstorben ist? Wir kommen her mit der Ansage, dass es zwanzig Minuten dauert, lokale Betäubung, alles Routine, und dass er zwei Tage hier bleiben soll, nur zur Beobachtung, alles kein Problem. Und jetzt ist er im Koma?!“
Das hier läuft falsch. Ich will nicht rumschreien und ausrasten und mich schlecht benehmen. Ich atme tief ein und aus und ein und die Erinnerung an Miloš’ Atemanweisungen nach dem Auftritt im Coec trifft mich mit voller Wucht. Damals war er noch fit. Vielleicht wird er nie wieder … Nein, das darf nicht so sein! Es geht einfach nicht! Ich will es nicht!!

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