Nach dem Essen nehmen wir Nachtisch und danach Käse und danach Kaffee und danach passiert es: sie lässt die guten Sitten sausen. „Mannomann“, sagt sie und schnauft gar nicht damenhaft. „So pappsatt war ich lange nicht. Ich glaube, ich kann nur noch rollen.“
Ich betrachte sie belustigt.
„Was ist daran so komisch?“, will sie wissen.
„Ich stelle mir das gerade vor, wie wir zusammen über die Straße rollen. Mir geht’s da nämlich sehr ähnlich. Wir könnten einen kleinen Verdauungsspaziergang machen, was meinst du?“
„Gern, Herr Hold-und-Lind, wenn es nur nicht in eine lange Wanderung ausartet. Dafür habe ich die falschen Schuhe an.“
Schließlich spazieren wir anderthalbmal um die Laurentiuskerk herum, über zwei Grachten und in den Victoriepark. Dort legt sie ein Geständnis ab, „ich habe ein bisschen Angst im Dunkeln“ und ich versuche ihr ein Beschützer vor den Gefahren der Nacht zu sein: „du kannst ja meine Hand fassen“, aber sie hakt sich lieber ein. Untergehakt erreichen wir die nächste Haltestelle und von dort wird in wenigen Minuten ein Bus zum Bahnhof fahren.
„Hast du keine Angst im Dunkeln?“, fragt sie.
„Nö.“
„Vielleicht bin ich zu sensibel und höre alle Nachttiere rascheln und spüre ihre Blicke … und vielleicht auch den einen oder anderen Blick eines Menschen, der nicht gesehen werden will.“ Sie schüttelt sich, „wenn ich so drüber nachdenke, kriege ich eine Gänsehaut.“
„Dann denk besser nicht drüber nach“, lautet mein praktischer Rat.
„Gibt es Dinge, die dir Angst machen?“
„Klar.“
„Aber über die denkst du auch nicht nach“, tippt sie.
„Richtig. Je mehr ich über das nachdenke, was mir Angst macht, desto größer wird die Angst. Andersrum funktioniert es genauso. Da mein Leben entspannter ist, wenn ich im dunklen Park nicht über Menschen im Gebüsch nachdenke und warum sie da hocken und was sie tun, beziehungsweise was sie tun könnten, lass ich es also sein.“
„Siehst du. Ich gehe einfach nicht in den Park.“
„Außer, du hast einen starken und gut aussehenden Begleiter dabei, der noch dazu ein paar Zentimeter größer ist als du.“
„Und der mich zu Dingen verleitet, die ich alleine nie tun würde“, ergänzt sie lachend.
Der Bus ist da, wir steigen ein.
In Hoorn bringe ich sie zu ihrem Auto, auch wenn der Parkplatz beleuchtet ist.
„Sehr vielen Dank für diesen wunderbaren Abend“, sagt sie.
„Ich habe zu danken“, widerspreche ich. „Immerhin war ich der Gast.“
Sie winkt ab. „Reden wir nicht übers Geld.“
„Reden wir lieber darüber, warum du im Coec auf einmal nicht sagen wolltest, welche Wette ich gewonnen hatte. Das wollte ich dich ja schon den ganzen Abend fragen.“
„Müssen wir hier auf dem Parkplatz herumstehen oder können wir in meinem Wohnzimmer weiter reden?“
„Dann bin ich mehr für die Variante mit dem Wohnzimmer.“(337)
Ihre Wohnung ist gemütlich und mit hübschen alten Möbeln eingerichtet. Im Wohnzimmer stehen außerdem ein E-Piano, eine Gitarre und drei Geigen, von denen aber nur zwei bespannt sind. Eine erkenne ich wieder. Die hatte sie immer zur Bandprobe dabei und auch im Coec. Ich habe die Hand schon nach ihr ausgestreckt, ziehe sie aber im letzten Moment zurück. Obwohl in mir ein großes Verlangen danach ist, traue ich mich nicht, sie anzufassen. Ich wäre auch nicht begeistert, würde jemand an meine Trommeln gehen.
„Nimm sie“, sagt Nieke hinter mir. Ich schaue mich nach ihr um, aber sie ist schon aus dem Türrahmen verschwunden. Wir haben beide im Wohnungsflur die Schuhe ausgezogen; sie schleicht wie eine Katze.
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