2. Juni 2016

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Auf der anderen Seite des Vorhangs empfängt mich tosender Applaus. Die Pause war ein bisschen lang; sie hatten sich schon fast damit abgefunden, dass wir weg wären. Es geht mir kalt und heiß den Rücken rauf und runter. Das ist einer der Gründe, warum ich mir diesen Wahnsinn antue. Ich nehme das Bassistenmikro und warte auf Ruhe. „Eine ganz besondere Frau hat mich um einen Gefallen gebeten. Ich kann nicht ablehnen, ich verdanke ihr zu viel. Das letzte Stück dieses Abends ist nur für sie.“
Ich setze mich hinter die Trommeln, schnaufe durch und übertrete ebenfalls meine Schmerzgrenze. Nieke, du verrücktes, liebes Mädchen. Wie konntest du dir die Finger zerstören? Hast du wirklich geglaubt, wir würden dich verachten, wenn du es lässt?


hundertsechsundsechzigstes Kapitel

Hinter der Bühne wartet Sloba. Ich weiß nicht, wie sie das macht. Ich bin ja total ausgewrungen. Aber sie weckt immer noch Rest-Energie in mir.
Irgendjemand möchte an uns vorbei durch den Flur und drückt uns an die Wand.
Voller Körperkontakt.
Bäääm!
Explosion in meiner Mitte.
Ich will es! Ich will sie!
Ich muss einlösen, was sie beim Tanzen versprochen hat.
Überzeugung, Anstand, Moral – egal! Jetzt und hier! Wir zerren uns gegenseitig ins nächste Zimmer. Kein Denken, nur noch Handeln.

Plötzlich geht die Tür auf. Miloš.
Er guckt auf Slobas nackten weißen Busen und meine Hände darauf, guckt mich an und verschwindet ohne eine Regung.
Genauso plötzlich ist meine Lust weg. Schnaufend sinke ich neben sie.
Die rote Furie will weitermachen, wo wir unterbrochen wurden, aber ich entziehe mich ihr, „Nicht jetzt und nicht hier.“ Ich kann das nicht an einem so öffentlichen Ort. Ich nehme meine Klamotten und haue ab.
Sie ruft mir etwas serbisches nach, sehr freundlich klingt es nicht.

Zum Glück ist keiner in unserer Garderobe. Ich dusche, ziehe mich um und sinke auf einen Stuhl, um Kraft zu schöpfen, damit ich mich aufraffen kann, um was zu Essen zu finden.
Jesus, hilf mir, so geht das nicht weiter! Ich kann mich kaum selbst beherrschen, wie soll ich erwarten, dass sie es schafft?
Die Tür geht auf. Miloš.
Ich klopfe auf die Sitzfläche neben mir.
Widerstrebend kommt er herein, setzt sich und guckt mich die ganze Zeit nicht an. Nach einer kurzen Weile murmelt er verlegen: „Entschuldige die Störung. Ich hatte nur ein Klo gesucht. Merle hatte das hier besetzt.“ Seine Stimme ist ganz lädiert vom Auftritt.
Meine auch. „Danke für die Störung. Wir hätten die Linie fast übertreten.“
Er lacht auf. „Seit gestern Nachmittag habt ihr euch häuslich eingerichtet auf der Linie.“
Unsere Blicke kreuzen sich. Zwischen uns ist alles klar. Sehr beruhigend.
„Ich weiß, das geht nicht mehr lange gut. Aber was soll ich dran tun? Erst haben wir uns wochenlang gar nicht gesehen und jetzt fast den ganzen Tag. Ich müsste ihr ausweichen, aber wie soll ich das machen? Sie wohnt bei uns.“
„Wo ist sie jetzt?“
„Keine Ahnung. Ich hab sie zuletzt gesehen, als du sie zuletzt gesehen hast. Ich müsste … verdammt“, bricht es aus mir hervor und ich springe auf, dass der Stuhl krachend umfällt. „Ich müsste dies, ich müsste das! Scheiße! Genau so wollte ich es nicht haben! Keine Nichtchristin mehr. Ich wollte führen, und zwar mit dem Kopf. Was hier führt, ist nicht der Kopf!“ Wütend hämmere ich mir mit beiden Fäusten gegen die Stirn.

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