Nach der Zugabe nehme ich mir das Mikro und erledige einen Teil meiner Bandchefaufgaben, bevor hinterher keine Gelegenheit mehr dazu ist. „Okay, Leute, das wars von uns, wir sind durch. Ihr könnt uns jederzeit zu allem buchen, zur Schulparty, zur Hochzeit, zum Geburtstag, dem Stadtfest oder in eure Lieblingskneipe, wir machen alles außer Jazz! Sprecht uns einfach an oder besucht unsere Homepage. Danke für diese Sause. Tschüss!“ Wir verbeugen uns ein paar Mal und marschieren dann winkend hinter den Vorhang.
Das Publikum schreit nach mehr.
Wir haben genug Material für eine ausführliche zweite Zugabe.
Mehr! Sie wollen mehr!
Miloš hat den Saum des Vorhangs schon in der Hand, um die Bühne ein drittes Mal zu entern, als Nieke meinen Arm berührt.
„Was gibt’s denn?“, frage ich.
Sie sagt etwas, das in seinem „Können wir endlich?“ untergeht.
„Red mal lauter“, bitte ich sie, aber es ist wie Stummfilm: ich sehe, dass sie was sagt – es kommt nichts bei mir an. Draußen vor der Bühne wird geklatscht und gerufen, Merle gurgelt mit Kräuteressenz, Miloš fragt: „Machst du etwa schlapp?“
Ich schiebe sie ein Stück den Flur entlang, dort frage ich: „Was ist los?“
Sie schaut mich nicht an, zeigt nur ihre Linke. Sie zittert.
Bis dahin war mir nicht bewusst, wie zart ihre Hände sind. Meine sind viel breiter, und ich habe ja keine breiten Hände! „Sags mir, ich verstehe die Botschaft nicht.“
„Da“, wispert sie und zeigt mit der Rechten auf Zeige- und Mittelfinger. Das Licht ist schlecht hier im Gang, ich bemerke es erst jetzt: Auf den Fingerkuppen hat sie Blasen, eine ist aufgegangen und in der anderen ist Blut im Wundsekret.
Oh Gott! „Warum hast du nicht eher was gesagt?“
„Ihr seid auch an die Schmerzgrenze gegangen.“
Ich habe ihre Hand in meine genommen. Mit der anderen hebe ich ihren Kopf, bis sie mich ansieht. „Nieke, unsere Schmerzgrenze ist nicht dein Maßstab, verstanden? Wir haben das schon ein paar Mal gemacht und wussten, worauf wir uns einlassen.“
Sie macht sich los. „Ich wollte nicht die Heulsuse sein und den Auftritt vermasseln.“
„Du hast nichts vermasselt. Du warst großartig. Wirklich.“
„Geht ohne mich auf die Bühne.“
„Nix da. Wenn eine Geigerin wie du Blasen an den Fingern hat, ist das Konzert beendet. Wir fangen zusammen an und hören zusammen auf.“
„Du hast ohne uns angefangen.“
„Weil diese Pfeife von Bassist sich zu viel Zeit gelassen hat. Der sollte direkt nach mir auf die Bühne gehen. Das hatten wir vereinbart, wie du dich vielleicht erinnerst.“ Ich wische das mit einer Handbewegung weg, „Geh bitte zu den Sanitätern und lass dich verarzten.“
Von ihr kommt keine Reaktion und ich frage: „Hast du gehört, was ich gesagt habe?“
„Es geht schon wieder“, wispert sie.
Ich packe ihren Arm und sehe, dass sie zusammen zuckt. „Nieke. Keine Widerrede. Geh und lass dich verarzten.“
„Jawohl, Herr Bandchef“, sagt sie, es soll lustig klingen, aber ich sehe, dass sie sich die Tränen verbeißt. Ich lasse los und sie – ich würde sagen, sie flüchtet.
„Wir sind fertig“, teile ich den beiden mit, „Nieke hat Blasen an den Fingern.“ Nebenbei gesagt kommt mir das sehr entgegen. Ich könnte mich hinlegen und bis morgen früh pennen – vorher vielleicht noch den Falafelstand im Foyer leer futtern.
„Wir können doch ohne sie“, fängt Miloš an.
Ich unterbreche ihn. „Was heißt Solidarität auf serbisch?“
Erstaunt sagt er etwas, das wie Solidarnost klingt.
„Gut, dann merk dir das. Wir sind eine Band. Wir vier. Verstanden?“ Wenn vor einem halben Jahr Lisanne die Hand weh getan hätte, wäre das Konzert sofort beendet gewesen und jeder, der dagegen gewesen wäre, hätte es mit ihm zu tun bekommen!
„Tust du mir trotzdem einen Gefallen?“, fragt Merle.
„Kommt drauf an, was du haben willst.“
„Trommel noch mal so wie am Anfang. Ich hab das nicht richtig genießen können, weil ich auf die Bühne wollte und er hat fast Streit angefangen, weil er nur zuhören wollte.“
Ade, essen, hinlegen und schlafen.
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