31. Mai 2016

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Wir erreichen die Adresse mit dem seltsamen Buchstaben – es ist der Schönfußer Weg – bereits um viertel nach sechs. Unsere Mitfahrerin Lotte ist abreisefertig und kommt sofort an die Straße, als ich klingele. Wir laden ihr Gepäck ein und weiter geht die Fahrt.
Die Viertelstunde, die wir zwischen Zuyderkerk und Essen gewonnen haben, geht uns kurz darauf im Berufsverkehr flöten.
„Wo fahrt ihr hin?“, will Lotte von hinten wissen.
„Nach Bosnien. Sein Onkel hat Geburtstag und er hat uns eingeladen“, gebe ich Auskunft. „Und du? Was machst du in Graz?“
„Ich habe dort morgen ein Vorstellungsgespräch. Deswegen ist es total cool, dass ich euer Streckenangebot gefunden habe. Ich war schon drauf eingestellt, dass ich öfter umsteigen müsste. Nach dem Gespräch ist mir das egal, aber vorher habe ich keine Ruhe für so etwas.“
„Und was ist das für ein Job?“
„Ich bin Industriedesignerin und habe jetzt ein paar Jahre in dem Beruf gearbeitet. Weil ich in meiner aktuellen Firma keine Perspektiven sehe, habe ich mich im gesamtem deutschsprachigen Raum beworben. Mal sehen, wohin es mich bringt. Was arbeitet ihr?“
„Er arbeitet in einem Brotladen als Verkäufer und ich bin Lehrer.“
„An einer Schule?“
„Ja, wir haben eine Woche Frühlingsferien“, beantworte ich die nächste Frage, bevor sie gestellt wird.
„Verrückt. Da fällt gerade mal Schnee, und ihr fahrt weg.“
„Ach, das ist okay. Ich mag Schnee nicht besonders.“
„Dann bist du also keiner der Holländer, die im Winter unser Sauerland besetzt halten.“
„Das ist die ausgleichende Gerechtigkeit“, lache ich, „ihr Deutschen haltet ja im Sommer unsere Küste besetzt.“
„Stimmt auch wieder. Wo kommt ihr denn her?“
„Aus Zuyderkerk. Das ist am IJsselmeer. Warst du da schon mal?“
„Nein, meine Eltern sind oft mit uns Kindern nach Walcheren gefahren.“
„Hast du niederländisch gelernt?“
„Ja, für den Urlaub. Aber danach vergesse ich das alles wieder. Es ist ja auch schon ein paar Jahre her, dass ich zuletzt da war. Ich bin nicht so mit Sprachen. Deswegen ist es echt gut, dass du so klasse Deutsch kannst.“
Ich und klasse Deutsch? „Danke für die Blumen“, sage ich. Allerdings muss ich mich auch selbst loben. Die zweite Fremdsprache meines Lebens ist präsenter als ich es erwartet hatte. Hat sich die Büffelei also doch gelohnt. Danke, Popp, dass du nie locker gelassen hast.
„Wo steigt denn der nächste zu?“
Die Frage gebe ich an Miloš weiter: „Wo steigt der nächste zu?“
„Es klingt toll, was du da redest. Ich verstehe kein Wort.“
„Wieso ist es dann toll?“
„Weil ich dich noch nie so lange in einer Fremdsprache habe reden hören. Du hast mal ein englisches Lied gesungen, und auf Dersummeroog hast du übersetzt, aber das hier ist ja etwas ganz anderes. Großartig.“
„Du schweigst also nicht vor dich hin, sondern hörst zu.“
„Genau. Manchmal kommt mir ein Wort bekannt vor, das wird die Sache mit den germanischen Dialekten sein, die du erwähnt hattest. Aber es hat keinen Zusammenhang. Es ist ein bisschen wie früher, als ich kein niederländisch verstanden habe. Andererseits ist es völlig anders. Viel besser. Ich verstehe nichts, aber ich bin tatsächlich nur auf der Durchreise, und das hat nichts mit Heimatlosigkeit zu tun.“

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