31. Mai 2016

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„Nein, ich werde mich natürlich an die Tempovorschriften halten, was denkst du? Das ist nur ein Gerücht, dass niederländische Fahrzeuge in Deutschland keine Knöllchen kriegen. Außerdem habe ich ja die Vereinbarungen mit den Mitfahrern zu den Treffpunkten.“
„Wie viele Mitfahrer haben wir?“
„Bis jetzt insgesamt sieben. Bei so einer langen Strecke kann man im hinteren Drittel keine zeitlich präzisen Angaben mehr machen. Ich habe ein paar Telefonnummern von Leuten, die vielleicht mitkommen wollen, wenn es passt. Geplant ist nur bis Nürnberg, da steigt noch einer zu. Die längste Etappe geht von Essen nach Graz. Die Frau spricht leider nur deutsch, ich habe ihr versprochen, dass du ihr erklärst, wann wir Pausen machen und so.“
„Wie habt ihr euch verständigt, wenn sie nur deutsch kann?“
Er lacht. „Frag mich nicht, ob sie mich verstanden hat, keine Ahnung. Deswegen wäre es extrem praktisch, wenn du mit ihr redest.“
„Aber das mit Essen und wann und wo du sie aufliest, das hast du verstanden?“
„Ja, sie hat mir die Adresse gemailt und ich habe sie ausgedruckt. Keine Ahnung, wie man das ausspricht. Da ist ein Buchstabe drin, den ich noch nie gesehen habe, und ich kenne ja eine Menge. Vielleicht kannst du mir gleich helfen, wenn ich sie ins Navi eingebe. Wir starten um vier, lesen in Lelystad drei Mädels auf und holen sie um halb sieben bei ihr zuhause ab.“
Vier Uhr! Da lohnt es sich ja fast nicht, ins Bett zu gehen! Wahrscheinlich werde ich vor Reisefieber eh’ kein Auge zutun können. Dabei fällt mir auf: „Willst du die Leute stapeln?“
„Warum?“
„Drei Mädels und die Frau aus Essen? Wie sollen die alle ins Auto passen?“
„Ach so, die drei Grazien wollen nur bis Moers. Essen kommt danach.“
„Moers“, korrigiere ich die Aussprache. „Nicht mit u, sondern mit ö wie in Köln.“(260)
„Deutsch ist eine schwierige Sprache.“
„Nicht sehr. Es gibt viele Ähnlichkeiten.“
Er grinst. „So wie zwischen bosnisch, serbisch und kroatisch?“
„Ungefähr. Die Sprachen hier in Nordwesteuropa haben fast alle das Germanische als Basis. In den Dialekten entlang des Rheins merkt man es besonders. Wenn du ein bisschen Deutsch kannst, verstehst du die Leute zwischen Nijmegen und Bonn am besten.“
„Mann!“, lacht er bewundernd, „was du weißt!“
„Ja, wenn du mal ein bisschen klugscheißen willst, hör gut zu“, lache ich mit. „Übrigens, woher hast du das Navi?“
„Es gehört Toni. Xavier hat es gestern mitgebracht. Freu dich, Jeremy, morgen Abend sind wir in Peckovar!“
„Morgen Abend siehst du deine Eltern wieder“, versuche ich ihn zu bremsen.
„Ich weiß“, singt er, „aber es macht mir nichts. Wenn sie mir auf die Nerven gehen, werde ich ihnen aus dem Weg gehen. Theodorus sagt, ich soll mich nicht auf Konfrontation einlassen. Er hat für mich gebetet. Er hat versprochen, dass er in den kommenden Tagen regelmäßig für uns betet, damit alles gut geht. Und Amalia betet auch, sagt sie. Es kann nichts schief gehen.“
„Und wenn etwas passiert, mit dem du nicht rechnest?“
„Du bist unerträglich mit deinem Was-wenn. Du sollst dich freuen, verdammt noch mal!“

Wie erwartet habe ich kaum geschlafen und bin im Auto ziemlich bald eingepennt. Dass in Lelystadt die drei Mädels zusteigen, bekomme ich nur halbwegs mit. So richtig wecken kann mich erst die Grenze.
So eine Grenze ist ein abstraktes Ding, in der Landschaft steht kein Zaun und keine Mauer, und am Grenzübergang Elten ist auch nichts mehr los, was einen an Grenze erinnert. Nur ein Schild am Straßenrand weist darauf hin, dass man die Niederlande verlassen und Deutschland erreicht hat. Es ist ein komisches Gefühl. Man lässt die Heimat hinter sich und vor einem liegt die Fremde. Deutschland ist nicht so wahnsinnig fremd, ich verstehe die Sprache einigermaßen und das Geld ist ja auch gleich. Und trotzdem. Warum sonst wäre ich hier aufgewacht? Diese Grenze ist die erste von fünfen(261) und ich glaube, in meinem Kopf setzt sich so langsam die Erkenntnis durch, dass wir wirklich unterwegs sind.

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