30. Mai 2016

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„Viele Leute, die zum ersten Mal mit uns zu tun haben, glauben, dass es ein Partyservice ist. Aber der Partyservice nimmt nur ungefähr zwanzig Prozent des ganzen Betriebs ein; Haupt­anteil ist der Feinkosthandel. Viele Partyservices und freiberufliche Köche kaufen bei mir ein. Felix, für den Miloš gestern gearbeitet hat, ist einer von ihnen. Bei mir laufen viele Fäden zu­sammen, ich handele gewissermaßen nicht nur mit Feinkost, sondern auch mit Informationen. Nur deswegen ist er überhaupt auf mich zugekommen, ob ich ihm aushelfen könnte.“
Oh weia, denke ich verlegen. Ich habe gestern noch gedacht, dass Toni ja selber kellnern gehen könnte. Wie soll er das tun mit nur einer Hand?
„Kommt das oft vor, dass du deine Leute ausleihst?“
„Das hast du falsch verstanden. Fergus und Xavier kann ich nicht verleihen, denn sie sind Mitinhaber. Wir ziehen alle am selben Karren. Merle wird nicht kellnern gehen, außer sie bietet es ausdrücklich an. Es gibt Dinge, die sie besser kann. Und die Aushilfen können frei wählen, ob sie bei mir oder bei jemand anderem arbeiten. Selbstverständlich gibt es Leute, die ich bei einem Catering eher frage und welche, die ich nur im Notfall dazu hole, wenn ich mehr Leute brauche als sonst. Aber die kann ich nicht verleihen, denn ich habe keinerlei Rechte an ihnen.“
„Wonach richtet sich das, wen du fragst und wen nicht?“
Toni lacht. „Denk dir keine große Wissenschaft aus. Wer hält den Überblick, ist freundlich, schnell und ordentlich? Und zweitens, wer kommt mit meinem Team zurecht? Mehr nicht.“
Das heißt dann also, dass Miloš, da er ja oft angerufen wird, entweder ein vielseitiger Typ oder ein angenehmer Zeitgenosse ist. Ich entscheide mich für beides.

Toni zeigt mir den Rest seiner Firma und weil es frische Brioche gibt, essen wir gemeinsam. Weil er es wissen möchte, erzähle ich ein paar Dinge von der Band, dass wir zu viert große Er­folge eingefahren haben, viel Musik entwickelt haben, eine sehr gute Zeit hatten – und jetzt ohne Lisanne fast nichts zusammen läuft. Ich rede zum ersten Mal davon, einen anderen Musi­ker dazu zu nehmen oder die Band aufzulösen. Bei beidem werde ich mich mit Miloš auseinan­der setzen müssen, denn er wird dagegen sein. Toni wundert sich, dass mir das ein Problem ist und erst recht, dass ich mit meinem besten Freund nicht darüber sprechen will. Er regt an, erst mit Merle zu reden, aber das ist etwas, von dem er keine Ahnung hat. Es geht um die brüder­liche Basis unserer Band. Gemeinsam oder gar nicht.
Im Gegenzug erfahre ich, dass Toni vor etwa zehn Jahren bei einen schweren Betriebsunfall in der elterlichen Druckerei seine linke Hand verloren hat. Sein ganzes Leben war dem Traditionsunternehmen der Eltern gewidmet, seine Interessen und später die eigene Familie waren immer zweitrangig. Er wäre gerne Koch geworden, aber weil sein Vater es erwartet habe, sei er Drucker geworden.
Nach dem Unfall haben die Erwartungen des Vaters nichts mehr für ihn bedeutet. Er hat die Firma verlassen und seine eigene gegründet, in Xavier und Fergus Freunde gefunden, die den selben Traum träumten wie er – gutes Essen unters Volk bringen, eine Esskultur anfangen und Feinkost aus der elitären Nische befreien. Vor allem halfen sie mit Tatkraft, Wissen und Kapital, den Ruin zu verhindern.
„Deswegen ist der Partyservice nur ein kleiner Teil der Firma. Er ist mehr eine Liebhaberei, ein Prestigeobjekt. Natürlich schreiben wir auch damit schwarze Zahlen, anderes kann man sich ja nicht leisten, aber wir sind durch das Feinkostgeschäft nicht so auf ihn angewiesen, dass wir nicht aussuchen könnten, zu welchem Event wir gehen. Dadurch haben wir uns einen gehobenen Kundenkreis erobern können. Wir sind jetzt auch in anderer Hinsicht ein Prestigeobjekt, denn es ist hip, uns einzuladen. Unsere Kreationen sind sehr begehrt. Es hat sich herumgesprochen, dass wir etwas Besonderes sind.“
„Das klingt nach einer neuen elitären Nische.“
„Danke für deine Ehrlichkeit. Natürlich ist es das. Allerdings haben wir, glaube ich, noch genügend Erdung. Sonst würden wir nicht mit dem russischen Patriarchen zusammen arbeiten. Da steppt der Bär, das kannst du dir nicht vorstellen. So eine russische Feier ist ein Härtetest für Mensch und Material.“

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