13. März 2016

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„Wieso überrascht dich – Jeremy, du heulst ja“, stellt er erschrocken fest, „Was ist mit dir?“
Ich muss erst Luft holen. „Seit du mir von Milan erzählt hast, bete ich, dass du dir einen Seelsorger suchst. Aber ich wusste nie, wie … ich wollte keinen Streit deswegen. Gefühle und Vergangenheit und so sind ja bei dir nicht so … ähm … das Zeug, über das du gerne redest.“
Theodorus beendet mein Gestammel, indem er mich lachend in den Arm nimmt, meine Rechte fasst und die Innenseite mit den Lippen berührt.
„Hä?“, mache ich verwirrt.
Miloš erklärt: „Als wir den schlimmen Streit hatten, war ich bei Amalia und habe sie gefragt, wie ich die Stimme von meinem Vater in meinem Kopf loswerden kann. Sie hat gesagt, am besten kann da ein Seelsorger helfen. Ich dachte, sie könnte das machen, aber sie hat mir Theodorus’ Telefonnummer gegeben, weil er sich damit besser auskennt. Er hatte nicht viel Zeit, aber er hat versprochen, mich an einen Kollegen zu vermitteln.“
Theodorus schließt sich an: „Leider konnte ich bisher niemanden finden. Alle Seelsorger in dem Netzwerk, für das ich auch arbeite, haben im Moment volle Terminpläne und Wartelisten von bis zu acht Monaten. Heute Nacht haben wir vereinbart, dass wir diese Arbeit gemeinsam angehen wollen.“
Mir bleibt fast der Mund offen stehen. Theodorus bietet meinem Freund an, sein Seelsorger zu werden. Das tut er nicht, weil er so viel Zeit hat; im Gegenteil, er ist ja oft unterwegs. Welches Potenzial hat er in Miloš erkannt, dass er ihm dieses Vorrecht einräumt? Und ob dem klar ist, was für eine Ehre das ist? Wie viele Leute sich die Finger danach lecken würden, Theodorus regelmäßig eine Stunde oder zwei nur für sich zu haben?
Siehst du, mein Freund. Du hast alles richtig gemacht.

Ziemlich bald nach Ende unseres Frühstücks kommt der andere Assistent von Theodorus und holt ihn zu einer Predigt ab. Immerhin ist ja heute Sonntag. Weil Miloš immer noch nicht ganz fit wirkt, klemme ich mich hinters Steuer, aber wir sind kaum ein paar Straßen gefahren, als er sagt: „Halt bitte an. Ich kann nicht stillsitzen, während du dem Auto Gewalt antust.“
„Ich tu ihm doch keine Gewalt an, es ist eine olle Kiste, die komisch fährt!“
„Noch schlimmer. Du merkst es nicht einmal. Hopp, steig aus und lass mich da hin.“
Ach, macht mich das froh. Endlich klingt mein bester Freund wieder so, wie er klingen muss. Ich verlasse das Fahrzeug, er rutscht vom Beifahrersitz hinters Lenkrad und ich steige an der anderen Seite ein.
Die olle Kiste erkennt ihn sofort wieder und hört auf zu quietschen, zu knirschen und zu bocken. Seltsames Ding!
An der Bäckerei fährt er den Transporter rückwärts an die Rampe(233), wir laden unsere Sachen aus und schleppen sie nach oben, fahren dann zum Duschen nach Hause und danach ist es schon an der Zeit, sich bei Merle einzufinden.


hundertvierunddreißigstes Kapitel

Nach dem reichlichen Essen bin ich zu Mommi gefahren. Miloš wollte natürlich mitkommen, aber ich habe ihn gebeten, mich alleine zu lassen. Der Besuch bei Theodorus war eine emotionale Achterbahnfahrt und ich muss mich in aller Ruhe davon erholen. Fast alles, was er sagt und tut, hat eine Bedeutung. Ich möchte gerne alles aufnehmen, und dafür muss ich die Begegnung systematisch durcharbeiten. Was hat er gesagt? Wie dabei geguckt? Was hat er in welchem Kontext getan? Was will er mir mitteilen?
Mommi ist Mommi. Sie hört einfach nur zu und als ich fertig bin, stellt sie ihre Fragen, eine nach der anderen, und ich habe Zeit zu reflektieren und Antworten zu finden.
Die schwierigste und zugleich interessanteste Frage bleibt am Ende übrig: „Warum fühlte ich mich so im freien Fall, als Miloš gesagt hat, dass er Seelsorge in Anspruch nimmt?“

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