5. März 2016

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hundertvierundzwanzigstes Kapitel

Es kommt mir vor, als sei er tagelang weg gewesen, dabei war es vielleicht nicht mal eine Stunde. Ich lasse ihm keine Zeit, die triefenden Sachen auszuziehen und sich zu trocknen, sondern ich muss es sofort wissen: „Verzeihst du mir?“
„Ja.“
Erleichtert stoße ich die Luft aus.
„Ja“, sagt er leise, „geht mir genauso. Mach das bitte nie wieder. Weißt du, bei so einem Streit … das erinnert mich an meinen Vater. Ich rede Sätze wie er und höre in jedem Wort seine Stimme. Dann will ich sofort aufhören zu streiten, weil ich nie werden wollte wie er. Aber es geht nicht, ich kann nicht aufhören.“
Mein Inneres springt auf und ruft Aha!, weil auf einmal alles logisch ist. Zugleich sage ich auch „Aha!“ und mein Zeigefinger schnellt nach oben, bis auf seine klitschnasse T-Shirt-Brust.
„Was hast du denn?“, fragt er belustigt und endlich ist sein übliches Grinsen wieder da.
„Ich habs kapiert. Ich weiß jetzt, warum du mit Helena Schluss gemacht hast. Ihr habt gestritten, vermutlich über mich, zum Beispiel wollte sie, dass du zu ihr hältst und nicht zu mir, und dann ist der Streit immer doller geworden und sie hat dir gesagt, was du zu tun hast und du hast Sätze wie dein Vater gesagt und irgendwann hast du auch Bock gehabt, ihr eine zu scheuern, weil sie so nicht mit dir umgehen soll, und da hast du Angst vor dir selber gekriegt und hast deine Sachen gepackt und bist gegangen.“
Er schaut mich seltsam an.
„War es anders?“, frage ich irritiert.
„Nein“, sagt er. „Es war genau so, wie du gesagt hast. Aber woher weißt du das?“
„Ich kenne dich. Und sie auch. Die ganze Kiste ist für dich so schwierig, weil du sie immer noch lieb hast. Aber in so eine Situation willst du nie wieder geraten.“
„Ja.“
„Und jetzt willst du endlich über was anderes reden“, versuche ich mich in der Kunst des Mitbewohner-Gedankenlesens.
„Das hast du messerscharf erkannt.“ Er zieht die nassen Sachen aus, hängt sie im Bad auf und geht nach oben, um sich trockene zu holen.

Kurz darauf finde ich ihn in der Küche. Die Pfütze an der Terrassentür hat er weggeputzt.
„Willst du auch eine heiße Schokolade?“, fragt er. „Milch kochen kann ich ja.“
„Gerne.“
Ich sehe ihm zu, wie er den Topfboden mit Wasser bedeckt und dann Milch darauf gibt(216), den Herd anmacht und den Topf auf die Flamme stellt. Weil rumstehen blöd ist, setze ich mich neben ihm auf ein freies Stück Arbeitsplatte. Man sitzt recht gut so weit oben. Nur dass ich in meiner Küche natürlich viel höher sitze als in Merles. Ach ja: „Glaubst du mir, was ich dir eben zu Merle gesagt habe?“
Er nickt. „Ich hatte mir nach der Sache mit Lisanne und Zoran vorgenommen, genauer hinzugucken, damit ich nicht wieder so überrascht werde. Anscheinend habe ich es jetzt übertrieben. Entschuldige bitte.“
Ich wische das mit einer Handbewegung weg. „Sollte es eines Tages doch dazu kommen, dass wir ein Paar werden … oder ich mit irgendeiner anderen Dame was anfange … erfährst du es als erster. Okay?“
„Genau das habe ich letzten Sommer zu dir gesagt, als es um Helena und mich ging. Zehn Tage später waren wir zusammen.“
„Hab keine Angst. Du bist mein Freund.“
Er schnauft aus. Holt tief Luft. Hält sie an. Lässt sie wieder ab. Während ich mich frage, welche Achterbahnkurve dieser Tag als nächstes nehmen wird, wiederholt er die Luftprozedur noch einmal. Dabei guckt er mich die ganze Zeit nicht an. Dann dreht er die Flamme unterm Milchtopf aus und hebt den Blick. „Jeremy … wahrscheinlich ist das affig für dich, aber“ er atmet erneut tief durch, „Ich will, dass du mein Blutsbruder wirst.“
Du liebe Zeit.

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