8. Januar 2016

400

Reichlich Leute sind auch schon auf die Idee gekommen, denn inzwischen sind nicht nur Wolken vor die Sonne gezogen, sondern es nieselt und windet und ist saukalt. Das müssen Reste vom Altjahreswetter sein, denn ein neues Jahr fängt doch nicht mit so fiesem Wetter an! Umso mehr war der Morgen ein Wunder. Miloš hat recht, wir haben es erlebt und konnten uns dran freuen. Wer später aufgestanden ist, hat nichts mehr davon gesehen.
Natürlich sind wir schneller umgezogen als Merle. Wir warten in der Nähe der Umkleiden, damit sie uns leicht findet. Über uns spreizen ein paar Palmen ihre grünen Fächer, darüber befindet sich eine der acht Glaskuppeln. Aus der Ferne sieht das mare vita aus wie ein paar große Seifenblasen. Unter der höchsten Blase ist der Turm mit den Wasserrutschen. Die längste ist 120 Meter lang.

„Die haben dich ja übel zugerichtet!“, stellt Merle fest, als sie zu uns kommt.
Miloš winkt ab. „Es ist schon fünf Tage her.“
„Eben. Es ist fünf Tage her und du siehst furchtbar aus.“
Stimmt. Er sieht wirklich wüst aus. Im Gesicht sind die Schwellungen gut abgeklungen, aber an Brustkorb, Rücken und Bauch sieht man noch die Spuren der Tritte und Schläge. Er zieht damit auch einige Blicke auf sich.
„Wohin gehen wir zuerst?“, lenkt er ab.
„Dreh dich um“, lässt sie sich nicht ablenken.
Er gehorcht.
„Du Armer“, sagt sie mitfühlend. „Es muss schrecklich weh tun.“
„Ich habe schon schlimmeres abbekommen“, sagt er, was ein Mann in der Situation einfach sagen muss.

Wir sind nicht die einzigen, die auf die längste Rutsche wollen, die halbe Treppe steht voller Leute, die das selbe Ziel haben. Deshalb reihen wir uns in eine kürzere Warteschlange ein.
„Du solltest Toni davon sagen. Du warst auf dem Heimweg von der Arbeit, es kann sein, dass du versichert bist. Vielleicht sponsert er dir einen neuen Anzug.“
„Danke, ich will nicht schon wieder etwas auf Vorschuss kaufen. Es reichte schon, dass ich ein halbes Jahr lang den Führerschein abbezahlen musste.“
„Von Vorschuss war keine Rede. Du brauchst den Anzug für die Arbeit, ohne kannst du den Kellnerjob nicht ausüben. Wenn ihm was dran liegt, dass du für ihn arbeitest, gibt er dir was dazu, damit du nicht das billigste Modell nehmen musst. Ich frag ihn, wenn du willst.“
„Lass mal, das schaffe ich wohl auch alleine.“
Wir sind am Schlund des Rutschenrohres angekommen und ich lasse Merle den Vortritt. Mit einem Juchzen stürzt sie sich Kopf voraus in die Tiefe.
Während die Ampel auf Rot springt, erkundigt Miloš sich leise: „Kann man sich da stoßen? Ich habe im Moment noch genug Beulen.“
„Wenn du dich nicht so rein wirfst wie sie, wird nicht viel passieren. Geh mit den Füßen zuerst rein. Es ist auch nur hier am Anfang so steil.“
Die Ampel zeigt grün und er verschwindet im Rohr.

Schon um eins habe ich einen Mordskohldampf, aber ich halte mich zurück, bis mir sogar die Fortbewegung zu Lande Schwierigkeiten bereitet. Wir schenken dem Bad die letzte halbe Stunde des Eintrittsgeldes und fahren in die Innenstadt zu Merles ehemaliger Arbeitsstätte.
Das Restaurant namens 4020 ist rappelvoll und entsprechend laut. Eine junge Kellnerin kommt auf uns zu, begrüßt uns und fragt: „Haben Sie reserviert?“
„Nein“, antwortet Merle. „Ist Armand in der Küche?“
„Nein, gestern war sein letzter Arbeitstag. Wenn Sie nicht reserviert haben, könnte ich Ihnen einen Zweiertisch anbieten, an den wir einen dritten Stuhl stellen. Oder Sie warten ein paar Minuten, bis entweder andere Gäste gehen oder eine Reservierung verfällt.“
„Warum ist Armand nicht mehr da?“

Keine Kommentare: