„Zieh die Hausschuhe an!“
Weil Gegenwehr sowieso nichts bringt, tue ich murrend, was er sagt.
Er bugsiert mich die Treppe herab, durch die Küche und auf die Terrasse. Die kalte Morgenluft raubt mir den Atem. Gerade geht die Sonne auf.
„Was soll ich hier?“
„Guck doch mal!“, fordert er mich auf.
„Ich gucke! Was soll ich hier?“
„Es ist wunderschön!“ Wild wedelt er mit der einen Hand herum. Mit der anderen hält er dankenswerterweise meine Decke fest. Leider hat er sie so eng um mich geschlungen, dass ich die Arme nicht bewegen kann. Ich komme mir vor wie eine Mumie. Eine Mumie am Nordpol.
„Alles glitzert!“, begeistert er sich. „Und die Sonne! Und der Nebel!“
„Bist du wahnsinnig? Dafür schmeißt du mich aus dem Bett?!“
„Guck es dir doch wenigstens an“, bettelt er.
Wie befohlen gucke ich mir an, was ihn so in Entzückung versetzt.
Alles glitzert. Stimmt. Die Nacht war eisig, jetzt ist jeder Grashalm und jedes Blatt und jede Zaunlatte mit Raureif bedeckt. Weil die Sonne darauf scheint, glitzert alles.
Und die Sonne. Ja, die hat es schon ein paar Meter über den Horizont geschafft. Zwischen ihr und uns sind die Wiesen hinterm Haus und die alten Bäume vom Julianapark, und:
Der Nebel. Er steht auf den Wiesen, durch die sich die schmale Entengracht windet, die die Gracht vorm Haus mit den Wallanlagen verbindet. Der Nebel reicht bis hin zum Julianapark und die Sonnenstrahlen malen weißgoldene Schrägstreifen durch die kahlen Äste.
„Gott hat die Welt heute früh hübsch gemacht, damit wir es sehen und uns freuen. Der erste Morgen im neuen Jahr“, sagt er.
„Darf ich endlich wieder rein? Mir fallen die Ohren ab und diverse andere Körperteile.“
„Du genießt es gar nicht“, stellt er erschrocken fest. „Findest du es wirklich hässlich?
„Nein, es ist schön, aber vor allem ist mir schön kalt!“ Damit flüchte ich ins Warme.
Ist er immer noch in schwierigen Zuständen? Haben wir nach der gestrigen Zickerei die zweite Stufe erreicht, nämlich ungewohnte Gefühlsduselei? Ist er schwanger? (Von wem?) Womit muss ich als nächstes rechnen?
Kann ich bitte meinen verschlossenen Kumpel zurück haben? Das war auch nicht einfach, aber einfacher als das hier.
Als ich am gedeckten Frühstückstisch angekommen bin, ist mein Groll verflogen. „Du hast recht, es war wunderschön. Allerdings war ich noch im Tiefschlaf.“
„Ich weiß“, grinst er, „es gibt freundlichere Momente in deinem Tagesablauf. Aber ich konnte nicht warten, bis du von alleine wach geworden bist. Guck es dir jetzt an, Wolken sind aufgezogen und es ist ein normaler Wintermorgen.“
„Du bist echt verrückt mit deinen ästhetischen Anwandlungen!“(210)
„Ästhetische Anwandlungen?“, wiederholt er amüsiert, aber bevor mir noch mehr dazu einfällt, wechselt er das Thema: „Hast du heute schon was vor?“
„Nee.“
„Wenn du trotz meiner Anwandlungen Zeit mit mir verbringen willst, könnten wir in den Proberaum gehen und ein bisschen Musik machen–“
Ich unterbreche: „Und hinterher mal sehen, welches Hallenbad auf hat. Das passt ja jetzt immerhin zum Wetter.“
Grinsend zeigt er auf mich. „Da sitzt er, der Mann mit den guten Ideen.“
Noch etwas unterbricht, nämlich das Telefonklingeln. Miloš sitzt näher dran, meldet sich und das klingt immer sehr seriös: „Van Hoorn und Kusturica, Kusturica am Apparat.“
Gleich darauf ist es aber vorbei mit seriös, er lacht, „Guten Morgen liebe Merle! Ich wünsche dir auch ein sehr frohes neues Jahr. Und na klar darfst du mit ihm reden!“
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