Ungefähr eine halbe Stunde lang versuche ich äußerst erfolglos, die dröhnende Stille zu ignorieren. Schließlich ergebe ich mich und gehe nach oben. Soll ich anklopfen? Das habe ich noch nie gemacht. Der Gedanke fühlt sich total fremd an. Also nicht klopfen. Ich fasse die Klinke an und drücke sie herunter. Immerhin ist nicht abgeschlossen.
Er sitzt auf seinem Bett.
Jesus lässt mich sehen, was er sieht: ein Häuflein Elend.
Das verstehe ich noch viel weniger als sein Benehmen.
„Es tut mir leid, dass ich dir nicht gesagt habe, dass ich segeln gehe.“
„Schon okay.“ Er holt Luft, „Ich wollte dir vorhin auch keine Szene machen.“
Ich setze mich neben ihn. „Und was ist los? Du bist doch sonst nicht so drauf. Komm schon, erzähl.“
Sei vorsichtig, flüstert er mir ins Ohr. Von Miloš ist nichts zu hören.
„Hast du heute schon was Warmes gegessen?“
Er schüttelt den Kopf.
„Soll ich uns was kochen? Ich räum auch hinterher auf.“
Er schüttelt wieder den Kopf.
Pst, macht er und ich warte schweigend ab.
Schließlich sagt er leise: „Das ist das erste Silvester, bei dem ich mich nicht schon vormittags unter den Tisch saufe.“
Aber warum denn, will ich fragen, doch ein weiteres Pst! hindert mich. Statt dessen wendet Jesus den Selektiv-Hören-Trick an und der nächste Böller klingt, als würde er vorm Haus platzen, dabei ist er weit weg.
Jetzt muss ich nur noch eins und eins rechnen. Das Ergebnis lautet: „Ist es wegen der Knallerei? Sie erinnert dich an den Krieg?“
Er nickt.
„Deswegen war es schlimm, dass ich segeln war? Weil ich nicht für dich beten konnte?“
Er nickt erneut.
Weil er so irre Sachen mit dem Heiligen Geist erlebt, von denen ich bis dahin nicht die geringste Ahnung hatte, vergesse ich ständig, dass er blutiger Anfänger ist. In allem!
„Verzeih mir, dass ich das nicht verstanden habe.“
„Verziehen.“
„Hör zu, Miloš. Du bist nicht auf mich angewiesen. Du kannst ohne mich beten, du kannst ohne mich den Heiligen Geist treffen, du kannst ohne mich deine Angst besiegen. Du brauchst mich nicht dafür. Sprich einfach mit ihm, er ist ja bei dir, das weißt du doch. Bitte ihn, dass er die schrecklichen Erinnerungen weg nimmt.“
Nebenan herrscht dreifach laute Stille.
„Sprich es mit mir zusammen“, leiste ich schließlich Hilfe. „Jesus, nimm die Angst weg und die Erinnerungen an den Krieg.“
Blitzartig fällt mir etwas ein. „Bleib hier sitzen“, weise ich ihn an und laufe in die Küche. In der Altglaskiste im Winkel unter der Treppe steht ein Fläschchen, in dem Vanilleextrakt war. Als es leer war, habe ich es gründlich ausgespült und das Etikett abgelöst, weil ich dachte, es noch gebrauchen zu können. Dazu kam es dann doch nicht, aber als ich letzte Woche das Altglas wegbrachte, habe ich vergessen, es mitzunehmen. Jetzt fülle ich mit meinem kleinsten Trichter Olivenöl hinein, das mit sofortiger Wirkung Salböl ist(209) und renne wieder rauf.
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