8. Januar 2016

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hunderteinundzwanzigstes Kapitel

Obwohl Tante O mich auch dieses Jahr zu Silvester auf die Insel eingeladen hat, bleibe ich daheim. In mir ist eine große Sehnsucht nach Nichtstun und als größter Reise einem Segeltörn hinaus aufs IJsselmeer. Das letzte halbe Jahr war wieder so ein Fall von Daueraktion – ich will nicht rumheulen, das macht ja auch Spaß und es wird nicht langweilig, aber manchmal hätte ich gerne ein langsameres Leben.
Weil es im November und Dezember mild geblieben ist, habe ich es noch nicht über mich gebracht, die Kaap Hoorn einzuwintern. Ich wohne neuerdings gleich nebenan, da kann ich tagsüber nach dem Wetter sehen und sie auf dem Heimweg von der Arbeit winterfest machen, wenn es sein muss.
Früher, als ich noch mit Helena zusammen war, sind wir oft in den Kanälen unterwegs gewesen, denn wir hatten meist ein Ziel. Jemanden besuchen, ein Restaurant testen, irgendwo bummeln gehen oder so. Weil ich es so gewohnt war, habe ich das ungefähr ein halbes Jahr weiter betrieben, aber seit der Zwangspause durch den Ellbogenbruch ist mir nicht einmal mehr in den Sinn gekommen, im Hinterland zu segeln. Jetzt fangen alle meine Törns damit an, dass ich Zuyderkerk hinter mir lasse und weit aufs IJsselmeer hinausziehe.
So ist es auch am Silvestermorgen.
Anscheinend bin ich der einzige, dem diese Idee gekommen ist, das riesige bleigraue Tuch spannt sich leer und weit von Horizont zu Horizont. Hinter mir wird die Kleinstadt noch kleiner, vor mir warten die Elemente.
Es ist regnerisch, der Wind kommt aus südlichen Richtungen. Das sind die Randgebiete eines Tiefs, das den Menschen im Rheinland seit Tagen Dauerregen beschert. Na ja, die werden froh sein, dass es nicht zehn Grad kälter ist. Sonst hätten sie zwar vielleicht weiße Weihnachten bekommen, aber auch Blasen an den Händen vom Schneeschippen.
Dann aber denke ich nicht länger übers Schneeschippen nach. Es ist so wunderwunderschön hier draußen.
Das heutige Farbangebot erstreckt sich von grau über braun bis grün, die meisten Farbtöne hat das Grau. Im Himmel, in den Wolken, im Wasser ist es vertreten, in hunderten Schattierungen, und doch ist nichts düsteres oder gar bedrohliches daran.
Der Wind schlägt in das braune Segel, faucht hinein und pfeift heraus und dabei hat er immer noch Atem genug, mir kalte Luft, Gischt und Regen ins Gesicht zu wehen.

Mein Traum ist es, eines Tages um Europa zu segeln.(207) Eine Insel zum Umsegeln auszusu­chen wäre sicher einfacher. Aber ich will es nicht einfach haben. Das Abenteuer reizt mich!
An Europas Hinterseite warten Kanäle, Schleusen, Flussläufe auf mich, deren Namen ich zum Teil zum ersten Mal las, als mein Plan ganz jung war und ich erstmalig über den „Seeweg“ zwischen der Ostsee und dem Schwarzen Meer nachdachte. Das Mittelmeer darf man sich auch nicht so gemütlich vorstellen, wie es auf der Landkarte aussieht. Und an der Seeseite des Kontinents ist das Segeln sehr herausfordernd, weil es Küstenverläufe mit extremen Windbedingungen gibt.

Mit Einbruch der Dämmerung kehre ich nach Zuyderkerk zurück.
In der Stadt wird schon eifrig geböllert.
Vor ein paar Jahren gab das dazu eine heftige Diskussion in der Kirche. Die Silvesterknallerei sei ein heidnischer Brauch, bei dem die Geister des alten Jahres vertrieben würden, da dürfe man nicht mitmachen, weil Jesus die finsteren Mächte ja überwunden habe.
Ich finde das übertrieben. Solange niemand darüber nachdenkt, dass die bunte Rakete Geister vertreibt, gibt man den Geistern keinen Raum. Sobald ich aber hinter jedem Brauchtum heidnische Rituale sehe – zum Beispiel auch das Hupen bei Hochzeiten – baue ich die Gegenseite unnötig auf.
Natürlich wurde ich für diese Meinung als zu liberal beschimpft.
Dass ich trotzdem nicht bei der Böllerei mitmache, liegt daran, dass ich mein Geld lieber für sinnvolle Dinge ausgebe. Seit vielen Jahren unterstütze ich ein Waisenhaus in Litauen mit einem festen monatlichen Betrag.
Litauen liegt übrigens auf meiner Europa-Segelroute.

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