8. Januar 2016

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„Wer fängt an?“, will ich als nächstes wissen.
„Immer der, der fragt“, antwortet Merle. „Du kannst sein Mikro nehmen, aber bleib hier bei uns stehen, du brauchst diesmal keine Trommeln.“
Weil ich es Meditation genannt habe, beginne ich mit einem mitteltiefen lang gezogenen Ooommmmm. Während ich neu Luft hole, stupst der Heilige Geist mich an und ich singe ihm ein paar Silben.
Unmissverständlich wie hochhausgroße Neonschrift empfange ich seine Botschaft: Du bist mein geliebter Sohn und ich habe Freude an dir!
Ich weiß es, seit Jahren, und doch haut es mich immer wieder aus der Bahn, wenn er mir das sagt. Als ich noch glaubte, man müsse mich nicht lieb haben, das sei nicht notwendig, hat er mir seine Sicht der Dinge erklärt. „Du bist aus einem einzigen Grund zur Welt gekommen: damit ich dich lieb haben kann. Das ist deine Bestimmung.“ Ich habe einige Jahre gebraucht, bis ich die Wahrheit über mein Leben annehmen konnte, aber das heißt ja nicht, dass es mich kalt lässt, wenn er sie wiederholt.
Weil die Mädels dabei sind, will ich mir die Tränen verkneifen, aber das ist zwecklos. Also drehe ich mich weg.

„Solltest du eines Tages mehr Musik machen wollen als nur mit den Trommeln, nimm bitte Gesangsunterricht“, sagt Merle, als wir uns ungefähr eine Viertelstunde in den Harmonien geaalt haben.
„Warum, hab ich es nötig?“
„Du bist echt ein blöder Sack“, faucht sie mich an. „Da macht man dir mal ein Kompliment und du drehst es genau ins Gegenteil!“
Tja, ein typischer Fall! Man rechnet ja eher damit, dass sie dumme Sprüche serviert. „Bitte, liebe Merle, was wolltest du sagen mit dem Gesangsunterricht?“
„Das würde sich bei dir echt lohnen, du blöder Sack, weil du eine saugeile Stimme hast. Mach bitte mehr aus deinem Musikerleben als nur Rhythmus.“
„Hattest du Gesangsunterricht?“, fragt Lisanne.
„Ja. Stell dir das aber nicht so vor, dass ich vorher ein Piepsstimmchen gehabt hätte. Gesangsunterricht ist keine Hexerei, aus einem Piepsstimmchen kann man keine Röhre machen. Aber du lernst richtig zu atmen, dein Zwerchfell einzusetzen, du kriegst Techniken vermittelt, um höhere und tiefere Oktaven zu erobern und so. Bei der Arbeit könnte dir das auch entgegen kommen“, wendet sie sich wieder an mich, „Du bist ja auf deine Stimme angewiesen.“
„Machen wir heute noch Musik oder nicht?“, will Lisanne wissen, „Ich wüsste durchaus was anderes mit meinem Tag zu tun.“
Miloš ist an der Wand hinterm Schlagzeug zum Liegen gekommen; ich hocke mich zu ihm, um mal nach dem Heilig-Geist-Pegel zu sehen. Mit dem Gesicht voller Lachgruben liegt er da und ist doch ganz woanders. Ich tippe ihn sachte an und er summt. Okay, das können wir vergessen.
„Der Tag ist frei für das, was du ansonsten mit ihm machen willst“, lautet mein Urteil, während ich mich erhebe und wieder zu den beiden gehe.
„Was hast du denn vor?“, fragt Merle.
„Bea hat ein paar Leute eingeladen, sie wird sich freuen, dass ich zwar spät, aber dann doch noch komme.“ Sie stellt ihr ungenutztes Instrument zurück ins Regal. „Tschüss!“
„Grüß alle schön“, tragen Merle und ich im Chor auf.
„Mach ich!“, und raus ist sie.
„Und womit füllen wir den angefangenen Tag?“, will Merle von mir wissen.
Ich hebe die Schultern. „Ich hatte mich nach deiner großartigen Ankündigung mit den neuen Liedern auf eine lange Session eingestellt und sonst nichts geplant.“
„Ich kann nichts dafür, dass aus der Ankündigung nur heiße Luft geworden ist. Zu dir oder zu mir?“, lacht sie.
Ich lache auch. „Zu dir. Bei mir waren wir schließlich gestern.“
„Und Miloš? Bleibt der einfach so hier liegen?“
„Gehen kann er in dem Zustand jedenfalls nicht. Ach, der findet schon nach Hause. Nachher auf dem Heimweg werde ich mal nachgucken, ob er noch hier ist. Irgendwer muss ja auch abschließen.“

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