hundertachtes Kapitel
In Rekordgeschwindigkeit erreiche ich die alte Wohnung, renne die Treppen hoch und knipse völlig atemlos das Licht an. Flur fertig tapeziert. Bad zudem fertig gestrichen. Küche strahlt weiß, Fliesen geschrubbt, Klapptisch angebracht. Wohnzimmer weiß und wunderschön mit dem hellen Holzboden. Schlafzimmer fertig. Keine Freunde, keine Nachricht.
Mein schlechtes Gewissen wird immer drückender, als ich bei strömendem Regen zum Visserdijk radele.
Cokko öffnet mir, bevor ich den Türknauf mit meinen klammen und regennassen Fingern drehen kann. „Hallo großer Bruder“, begrüßt er mich freundlich, „herzlich willkommen in deinem neuen Zuhause.“
„Äh“, mache ich. „Seid ihr nicht sauer auf mich?“
„Miloš?“, ruft er nach oben, „Jeremy ist hier und fragt, ob wir sauer auf ihn sind! Sind wir sauer auf ihn?“
Mein Mitbewohner turnt die Treppe herunter. Er nimmt immer zwei oder drei Stufen auf einmal, weil er Treppenstufen einzeln uneffektiv findet. Kein Wunder, dass er als erstes abgestürzt ist, als noch der Teppich drauf war. „Sind wir sauer?“, macht er, als müsse er erst überlegen. „Also, ich bin es jedenfalls nicht. Na, mach es schon auf.“
„Was soll ich aufmachen?“
„Dein Geschenk. Mach auf“, Cokko nickt zur Wohnzimmertür.
„Gestern haben wir noch telefoniert, dass du zum Helfen kommen willst und dann hast du vermutlich deinen Busfahrerdienst gemacht und ansonsten mit dir die alte Wohnung renoviert und ich hab das alles vergessen und bin nach der Schule für ein Stündchen zum Proberaum und hab da total die Zeit vergessen und eben kommt Lisanne und sagt mir, dass es halb zehn ist und ich rase wie bekloppt zur alten Wohnung und da ist schon alles fertig bis auf den Flur, der aber nur noch angestrichen werden muss und das habt ihr alles ohne mich gemacht und dann seid ihr nicht sauer und wollt mir stattdessen noch was schenken?“
„Richtig“, sagt Cokko.
„So funktioniert also ein Kettensatz“, brummt Miloš belustigt.
„Und warum seid ihr nicht sauer?“
Die beiden gucken sich grinsend an. „Sollen wir schnell noch ein bisschen sauer werden, damit sein schlechtes Gewissen sich lohnt?“
„Ach Blödsinn“, winkt mein Bruder ab. „Wir sind unheimlich gut voran gekommen, Merle ist nur bis um zwei da gewesen, dann war die Tapete an der Wand, und wir haben schnell noch gestrichen, was trocken war und sind seitdem hier.“
„Und wahrscheinlich ist es besser für dich gewesen, heute etwas anderes zu tun. Jeder Mensch braucht mal eine Pause, und wenn ich die heute gebraucht hätte, hättest du mich auch nicht an die Arbeit gezwungen.“
„Nee. Hätte ich nicht.“ Ohne meine Freunde wäre ich verloren. Sie sind die besten Menschen auf der Welt. Mechanisch gehe ich zur Wohnzimmertür und öffne sie.
Cokko ist mir gefolgt und schaltet das Licht an.
Mir fallen fast die Augen aus dem Kopf.
Was früher ein großer Raum mit Durchreiche und ein kleiner enger Raum mit noch kleinerer Vorratskammer und Terrassentür gewesen ist, ist jetzt alles zusammen ein sehr großer Raum. Er enthält vier in Backstein gemauerte Pfeiler zwischen dem zweiten und dritten Drittel, dahinter stehen meine Küchenmöbel. Auf dem Boden der vorderen zwei Drittel liegen Tapetenstreifen, auf die Wörter wie „Sofa“, „Bücherregal“, „Esstisch mit Stühlen“, „Schrank aus dem Schlafzimmer“ und „Tresen“ aufgepinselt sind.
„Du kannst das Bücherregal auch woanders aufbauen. Oder die Küchenmöbel bis auf Herd und Spüle anders hinstellen, noch ist nichts montiert. Aber rechne einen Platz für die Spülmaschine ein. Und wenn du keinen Tresen haben willst, gibt es keinen. Amalia hatte die Idee, weil du jetzt wegen dem Durchgang weniger Oberschränke hast“, sagt Miloš neben mir.
„Du hattest die Türen abgeschlossen und die Fenster zugeklebt?“
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