15. Dezember 2015

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Miloš hat ein kleines Heft und einen kurzen Bleistift aus der Tasche genommen und notiert sich Stichpunkte.
„Was ich dich ja noch fragen wollte: mit welcher kleinen Yugo-Freundin hast du neulich gesungen?“, erkundige ich mich interessiert.
„Wie ich bereits sagte, ist sie nicht meine kleine Yugo-Freundin. Emina hat beim Putzen ein bosnisches Liedchen geträllert, da habe ich zur Freude der ganzen Belegschaft mitgemacht.“
„Beim Putzen.“
„Beim Singen!“, schnaubt er.
„Putzen kannst du aber auch sehr gut.“
„Aber hier putze ich nicht.“
„Das wärs ja auch noch, wenn du hier putzt. Die Schule wäre blitzblank, aber die Personalkosten! Du wärst ja rund um die Uhr hier zugange! Übrigens, warum wehrst du dich so dagegen, dass Emina als deine kleine Yugo-Freundin bezeichnet wird? Möchtest du mit einer Bosnierin nichts zu tun haben?“
Miloš verdreht die Augen, bis fast nur noch Weißes zu sehen ist. „Sie ist nicht mein Typ, okay? Es ist mir völlig wurscht, aus welchem Land sie kommt und welche Religion sie hat und mit welchen Buchstaben sie schreibt und ob sie sich mit links oder rechts den süßen Arsch abwischt.“
Süßer Arsch, soso.

Nach dem Essen sagt er: „Wenn das der Preis ist, sollst du jeden Pudding kriegen.“
„Hä?“
„Das hast du letzte Nacht gesagt. Genauer gesagt hast du es gerufen, ich bin nämlich davon wach geworden. Du hast auf dem Kartonstapel gesessen. Ich hab dich zurück ins Bett gebracht und gefragt, was du meinst, um welchen Preis es geht, aber du hast nicht geantwortet. Wenn das der Preis ist, sollst du jeden Pudding kriegen. Erklär mir das.“
Ich kann mich nicht an den Traum erinnern, aber der Zusammenhang ist sonnenklar!
„Du wirst ja rot.“
Auch das noch. „Versprich mir, nicht zu lachen und nicht dazwischen zu reden und nicht nachzufragen.“
„Versprochen.“
„Und … ich will das nicht hier erzählen.“
„Okay, wir gehen nach draußen.“
Wir bringen das benutzte Geschirr weg und verlassen die Kantine. In dem Waldstückchen hinterm Gebäude scheuchen wir zwei rauchende Teenager auf. Hinterm Wäldchen befinden sich ein Bolzplatz und ein paar andere Sportanlagen. Wir setzen uns auf eine Bank am Spielfeldrand.
Stille senkt sich herab. Wie soll ich anfangen?
Irgendwann legt Miloš mir die Hand auf die Schulter, nur kurz, aber für seine Verhältnisse ist das schon eine intime Geste.
Ich gebe mir einen Ruck. „Gestern war ich unterzuckert und du hast das sofort kapiert und mir was zu essen gebracht und warst gar nicht böse. Helena hätte mich angefaucht, dass ich mich nicht aufführen soll wie ein Fünfjähriger, der seinen Willen nicht kriegt. Die konnte das nicht auseinander halten. Oder sie wollte nicht. Sie hatte über sechs Jahre mit mir, und du kennst mich nach einem schon besser. Und ich hab drüber nachgedacht, wieso du so liebevoll sein kannst, also nach außen, wenn du mit dir selber so hart umgehst. Das ist schwer für mich auszuhalten, weil ich ganz anders aufgewachsen bin. Mommi und Popp haben immer mit mir über Probleme geredet und gebetet und dann war es bald besser. Aber wenn das der Preis ist, den ich für unsere Freundschaft zu zahlen habe, ist mir das jeden Pudding der Welt wert.“
Ich habe die ganze Zeit auf den Boden vor der Bank gestarrt. Weil ich ihm fast jede Reaktion verboten habe und davon abgesehen auch keine kommt, gucke ich zu ihm hin.
Abwesend schaut er durch die kahlen Äste in den grauen Himmel.
„Und, ähm … findest du das … ähm … lächerlich?“, frage ich und wünsche mir, ich hätte gar nichts gesagt.
„Das ist nicht lächerlich“, er muss sich räuspern, „das ist wunderbar.“

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