hundertfünftes Kapitel
Am nächsten Morgen sehe ich, womit mein Mitbewohner den Abend zugebracht hat. Die Küche enthält nur noch ein elektrisches Heißwassergerät, zwei Tassen, den Zuckerstreuer, eine Dose Instantkaffee (igitt … wer trinkt denn so was?) und eine Packung haltbare Milch. Ach ja, und jede Menge Kisten und Kartons. Die Möbel sind schon weg.
Der Mitbewohner ist es ebenfalls.
Ich verschiebe mein Frühstück auf einen späteren Termin und fahre zeitig zur Schule los, um mir unterwegs in der Bäckerei was kaufen zu können. Ich hatte mich zwar mental darauf vorbereitet, dass es ungemütlich werden könnte, aber in einer Küche zu sitzen und mentale Vorbereitungen zu treffen ist etwas anderes als festzustellen, dass der Raum „Küche“ nicht mehr „Küche“ enthält.
Zur Mittagspause gehe ich in die Kantine. Ich bin spät dran, aber da ich kein Karnivore bin, macht das nichts. Vegetarier werden hier immer satt.
An einem der Tische sitzt Miloš und liest in einem Magazin. Entweder hat er schon gegessen und alles weggeräumt oder er hat noch nicht angefangen. Dann wartet er vermutlich auf mich. Mit dem Tablett in den Händen schleiche ich mich an und piepse: „Ist hier noch frei?“
„Ja, du Spinner. Ich habe dich gerade schon gesehen.“
„Spielverderber. Bist du schon fertig mit Essen?“
„Ja. Willst du vielleicht deinen Pudding nicht essen?“
„Willst du dir vielleicht selber einen holen?“
„Das würde ich gerne tun, aber ich habe leider kein Geld mehr.“
„Gib mir weniger Haushaltsgeld, dann hast du mehr Puddinggeld.“ Bevor alles kalt wird oder Miloš es mir vom Teller guckt, fange ich an zu essen. „Was liest du da eigentlich?“
Er gibt mir die Zeitschrift. Es ist ein Wissenschaftsmagazin, für das ich, um die Inhalte zu kapieren, damals in Physik besser hätte aufpassen müssen. Das weiß ich schon beim Betrachten der Titelseite, aber ich blättere trotzdem ein bisschen herum und lese Bildunterschriften.
Als ich sie fortlege, ist mein Nachtisch weg. Das Schüsselchen ist noch da, der Löffel liegt drin. Für die Kürze der Zeit ist er recht gründlich gewesen und vor allem sehr leise.
Ich räuspere mich.
Weil er nicht reagiert, räuspere ich mich erneut, lauter diesmal.
„Hast du einen Frosch im Hals?“, fragt er freundlich.
„Wo ist mein Pudding?“
„Was habe ich mit deinem Pudding zu tun? Wahrscheinlich wurde er in die fünfte Dimension gebeamt. So was liest man doch heutzutage in jeder Zeitung.“
„Das ist so unglaublich witzig. Geh bitte und hol mir einen neuen.“
„Wie gesagt habe ich kein Geld. Das habe ich dir nämlich zu Anfang des Monats gegeben, obwohl diese Woche in unserem Haushalt nichts stattfindet, das mit Essen zu tun hat.“
Auch wenn er Recht hat – das ist räuberische Erpressung!(173) Schnaubend lege ich meine Kantinenkarte auf den Tisch.
Mit der Karte werden alle Speisen und Getränke in der Kantine „gezahlt“. Wer sie nutzt und nicht mit Kleingeld klimpert, erhält zwei Prozent Rabatt. Sofern man sich entscheidet, die gesammelten Beträge vom Gehalt abziehen zu lassen, und nicht zum Monatsende bar zu bezahlen, gibt es zwei weitere Prozent Nachlass. Vor einem Jahr waren wir alle noch in jeder Pause mit Bargeld zugange und die Schlangen vor den beiden Kassen waren manchmal länger als die vor den Mittagessen. Die Umstellung hat sich wirklich bewährt. Eine der Kassiererinnen hilft jetzt bei der Essensausgabe und alles geht viel schneller.
Sämtliche Lehrer, Unterrichtshelfer und Jahrespraktikanten haben so eine Karte, sogar der Hausmeister und die Mitarbeiter der Kantine. Nur Miloš hat keine. Ohne seine vielen kleinen Dienste zu unmöglichen Arbeitszeiten würde einiges an der Schule nicht so reibungslos laufen wie es jetzt tut. Ich frage mich, warum er sich nicht beim Förderverein oder der Schulleitung beschwert.
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