15. Dezember 2015

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„Du bist aber gar nicht verspannt, freu dich doch!“
„Aber ich will deine Hände auf meinem Körper spüren!“
„Die kriegst du gleich zu spüren, aber auf ganz andere Weise!“
„Ich zittere vor Angst!“
„Recht so!“
Ich unterbreche das Geplänkel: „Wo hast du so zu massieren gelernt?“
„Im Lauf der Jahre lernt man allerhand nützliche Dinge“, weicht sie aus.
„Sag doch mal“, bettelt Miloš, aber sie gibt nicht nach.

Merles Auto steht in der Nähe, aber in ihrer Wohnung ist kein Licht an. Mir ist nicht bekannt, dass sie besonders gerne spazieren geht, außerdem wäre es auch ein schlechter Zeitpunkt dafür, denn es regnet schon den ganzen Tag und als es am wärmsten war, zeigte das Thermometer vielleicht zehn Grad an.
Ich klingele erneut.
Und noch einmal.
Endlich tut sich was im Flur. Sie öffnet, sagt wenig begeistert „Ach, du bist es“, und macht gleich kehrt.
„Du hast gesagt, dass ich heute wiederkommen soll“, erinnere ich, lasse Jacke und Schuhe im Flur und folge ihr ins Wohnzimmer.
„Hatte ich gesagt, ja. Aber da wusste ich auch noch nicht, dass ich den Scheißtag des Jahrhunderts gehabt haben würde. Auch egal. Wein?“, fragt sie, leert ihr Glas in einem Zug und geht in die Küche.
Dort sieht es nicht aus, als sei nach dem Frühstück noch etwas zubereitet worden, deswegen will ich wissen: „Besäufst du dich gerade?“
Prüfend schaut sie mich an. „Sind wir bloß Bandkollegen oder mehr?“
„Mehr. Hoff ich zumindest. Kann ich dir helfen?“
„Ich glaub nicht, dass du helfen kannst. Mir geht’s beschissen, ich bin nämlich heute auf der Arbeit rausgeflogen.“
„Rausgeflogen? Du bist gekündigt worden?“
„Ja.“
„Und zu welchem Termin?“
„Faktisch heute. Bis Vertragsende darf ich meine Überstunden abfeiern und was noch vom Urlaub übrig ist, aber im Restaurant will er mich nicht mehr sehen. Der Scheißkerl.“
„Ui. Das ist hart. Und jetzt? Soll ich dich beim Heulen festhalten, mit dir über den Chef herziehen, dir was kochen?“
Nun muss sie doch lachen. „Weißt du was, genau deswegen mag ich dich so. Du bist der pragmatischste Mensch, den ich kenne.“
„Mehr als der Miloš?!“, frage ich erstaunt nach.
„Wieso wundert dich das so?“
„Weil ich mir neben ihm immer total umständlich vorkomme.“
„Wahrnehmungsfehler“, sagt sie trocken. „Miloš ist, schätze ich, ein praktischer Typ geworden, weil er es werden musste. Der hats ja nicht so einfach gehabt in der Vergangenheit. Aber du bist von Natur aus so. Du hast eine ganz andere Denkweise als er. Vor den Lösungsvorschlägen klapperst du erst mal die Grundbedürfnisse ab – heulen, lästern, essen. Auf so eine Idee wäre er nie gekommen. Und … ich hätte es von ihm auch nicht angenommen.“
„Was: heulen, lästern oder essen?“
„Heulen und lästern. Wenn wir uns kabbeln, ist das kein Problem, aber … sag ihm das bitte nicht, versprochen?“
„Versprochen.“
„Er erinnert mich ganz furchtbar an Eric, also vom Körperbau her. Sie sind ungefähr gleich groß und ähnlich muskulös. Bis Almere hatte ich gedacht, ich wäre drüber weg, aber das war nicht so. Also, denk dir nicht, dass da was zwischen uns passiert wäre … aber Eric … er war beim Konzert … da hab ich gemerkt, dass ich ihn immer noch vermisse. Und halt, dass Miloš mich die ganze Zeit an ihn erinnert. Vielleicht kann ich Eric deshalb nicht vergessen. Und wenn ich mir vorstelle, Miloš berührt mich oder nimmt mich in den Arm … deswegen wollte ich ihm gestern auch nicht den Nacken massieren … lieber halte ich ihn auf Abstand. Verbal. Die Stimmen ähneln sich nämlich überhaupt nicht, außerdem hat er ja seinen kernigen Akzent. Und er gibt ja auch immer Kontra, also ist er nicht tödlich beleidigt, wenn ich mal ein bisschen robust mit ihm umgehe.“

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