15. Dezember 2015

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„Das hintere.“
„Aber das vordere ist größer! Wieso fragst du, ob es für mich okay ist, wenn du das kleinere haben willst?“
Er zögert noch mehr.
„Was hat das hintere, was das vordere nicht hat und wodurch es dir wertvoller ist, auch wenn es kleiner ist?“
Vor lauter Verlegenheit guckt er mich nicht an. „Den Sonnenaufgang. Und die Wiesen.“
Während er das sagt, klingelt ein Glöckchen in meinem Kopf, aber ich kann nicht fassen, weshalb es klingelt und was es mir mitteilen will.
„Wenn das für dich okay ist, will ich das vordere Zimmer haben“, mache ich einen Witz, damit die seltsame Stimmung verschwindet.
„Einverstanden“, grinst er.
„Mama Merle wird stolz auf uns sein, wir haben uns gar nicht angebrüllt.“
„Haha“, lacht er auf, „das mit meist freundlich, manchmal ziemlich laut, das hat ihr richtig gut gefallen.“
Wieder klingelt etwas, aber dieses Mal findet es außerhalb meines Kopfes statt. „Ich glaub, unten bimmelt dein Handy.“
Er läuft die Treppe herunter. Ungefähr bis zur Kurve schafft er es, dann poltert es und ich höre einige grobe serbische Worte.
Ich folge ihm, und weil er bloß im Flur steht, frage ich: „Was ist los?“
„Ich bin die Scheißtreppe herunter geflogen!“ Er reibt sich den Nacken und mustert die Stufen argwöhnisch. „Wie haben Brouwers sich bloß auf dieser Abschussrampe bewegt? Das sind doch alte Herrschaften, da ist das ja lebensgefährlich!“
„Langsamer als du, schätze ich. Wer war denn dran?“
Er guckt auf das Gerät. „Zoran. Ich rufe zurück.“
„Mach das.“ Aus meiner Werkzeugkiste hole ich das Teppichmesser und beginne die erste Tat im neuen Heim.

Miloš hat die Angewohnheit, beim Telefonieren herum zu wandern, und so kriegt man immer mal ein paar Bruchstücke mit. Heute helfen mir die Bruchstücke nicht, denn sie sprechen heimatsprachlich miteinander.
Mit dieser Heimatsprache bin ich mir nie sicher. Es könnte serbisch sein. Oder kroatisch. Oder kroatoserbisch. Oder serbokroatisch.(170) Alles klingt gleich – zumindest für mich. Zoran meint, dass ich sprachlich gesehen mehr Erfolg haben könnte, wenn ich kroatisch lernen würde, denn die Kroaten schreiben ja mit unserer Schrift und bei meiner Aussprache würde es auch kein Serbe merken, dass ich nicht seine Sprache gelernt habe, sondern die vom Nachbarn. Ich werde da mal drüber nachdenken, wenn es mir dringend erscheint. Bis jetzt bin ich ja auch so ganz gut zurecht gekommen.
Als ich zwei Stufen entblättert habe (unter dem weinroten Teppich, der sehr gründlich festgeklebt wurde, finde ich noch eine Lage kotzgrünes PVC und darunter endlich Holz), bimmelt es wieder, aber nur kurz. Miloš hat sich zurückrufen lassen. Zoran hat einen Mobilfunkvertrag mit Flatrate, daher ist es für ihn nicht schlimm, wenn ein Gespräch lang wird. Worüber die beiden wohl so ausführlich zu reden haben?

Ich bin bei der zehnten von vierzehn Stufen (da ist auch die Kurve, also von der neunten bis zur elften), als er zu Ende telefoniert hat, sich einen Müllsack holt und die Reste der Treppen­verkleidung aufsammelt.
„Warum machst du den Teppich ab?“, fragt er.
„Als wir das erste Mal hier drin waren, habe ich es mir vorgenommen, damit niemand die Treppe runterfliegt.“
„Aha. Wieder mal ein Beweis dafür, dass es mir nicht schnell genug gehen kann.“
Weil er nicht von sich aus zu erzählen anfängt, frage ich nach: „Was wollte Zoran?“
„Nichts wichtiges“, lenkt er ab.
Klar. Du telefonierst zehn Treppenstufen lang in deiner Muttersprache, also geht es zum Beispiel um Dinge, die uneingeschränktes Sprachverständnis erfordern, und ich soll dir glauben, dass es nicht wichtig war?
Bis zur letzten Stufe sagt er nicht mehr als unbedingt nötig, was für Kenner das Signal ist, dass er in schwere Gedanken vertieft ist. Außerdem heißt es, dass man sich gefälligst in Geduld zu üben hat, denn wenn man jetzt nachbohrt, was los ist, erfährt man nie, worum es geht. Wartet man ab, hat man eine Chance von 50 Prozent.

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