15. Dezember 2015

322

Diese Viertelstunde ist uns sehr wichtig geworden; es ist die Ruhe vor dem Sturm. Wir besinnen uns darauf, warum wir auf die Bühne gehen: Nicht um weitere Auftritte und einen Plattenvertrag zu erhalten, sofern ein Musikproduzent so verrückt ist, uns einen anzubieten, sondern wir tun das, weil wir Spaß an der Musik haben. Lisanne betet für offene Herzen und einen glatten Ablauf, dass alles friedlich bleibt und sich niemand verletzt.
So einen Anfall von Lampenfieber wie vor dem Auftritt in Almere habe ich übrigens nie wieder gehabt. Vermutlich war es reine Prüfungsangst; wir haben in unserer akribischen Vorbereitung alles dafür getan, nervös zu werden. Danach hat mein Innenleben abgespeichert, dass es nicht schlimm ist auf der Bühne und auch die vielen Menschen nur das von mir wollen, was ich gut kann, nämlich trommeln. Und dass das Publikum eigentlich nur eine Gruppe großer Kinder ist, die unterhalten und angeleitet werden will. Ich kann mich damit glücklich schätzen, es gibt Künstler, die ihr ganzes Bühnenleben mit der Angst zu kämpfen haben. Sicher ist das einer der Gründe, warum so viele meiner Musikerkollegen Drogen nehmen.


hundertstes Kapitel

Heute veranstalten wir keinen Kinderkrach beim Betreten der Bühne, denn wir wollen ja bitteschön nicht berechenbar werden. Gesittet und total seriös nehmen wir unsere Plätze ein und spielen das erste Stück, eins der älteren, bei dem ich die Melodie eines Klassikers mit dem Text eines anderen Liedes kombiniert hatte.
Wie üblich stellt Lisanne uns vor. Irgendwie ist das ihre Aufgabe geworden, niemand hat darüber abgestimmt. Wir spielen ein paar weitere Lieder, dann packt mich auf einmal der Übermut. Ich nehme meine Gitarre vom Ständer und gehe nach vorne. Weil kein Mikro für mich da ist, überlässt Merle mir ihres.
„Jetzt kommt ein Experiment. Wer will mitmachen?“
Einige Leute in den vorderen Reihen melden sich, das heißt, was dahinter passiert, sehe ich nicht, weil das Licht gegen mich gerichtet ist.
„Veoma dobro, sehr gut. Nebenbei gesagt ist das fast mein ganzer serbischer Wortschatz, aber lieber ein Wortschätzchen als gar nichts. Ihr seht, hier ist gerade kein Schlagzeuger vorhanden. Wer von euch will trommeln?“ Schon weit mehr Zuschauer melden sich. Ich wende mich an Miloš: „Hast du gesehen, wer sich zuerst gemeldet hat?“
„Ich glaube, der da vorne“, er zeigt in Cokkos Richtung.
„Der mit den langen Haaren?“, versichere ich mich, „Hol ihn mal her.“
Miloš gibt Merle den Bass zu halten und schwingt sich von der Bühne. Mit Cokko im Schlepp kommt er zurück.
„Hallo, wer bist du?“, frage ich und halte ihm das Mikro hin.
„Ich heiße Cornelius, bin zweiundzwanzig Jahre alt und wohne in Rotterdam. Seit mein Bruder angefangen hat, mich Cokko zu nennen, tun das alle.“
„Cokko?“, betone ich, „wie ist dein Bruder denn bloß darauf gekommen?“
Cokko hebt die Schultern und lacht. „Das weiß man bei ihm nie so genau!“
Ich hebe auch die Schultern. „Hast du schon mal getrommelt?“
„Ja, als mein Bruder sein Schlagzeug neu hatte. Der ist nämlich auch in einer Band. Da hat er mir ein paar Sachen gezeigt. Aber ich hatte nie so richtigen Unterricht.“
„Na ja, es wird reichen, wir brauchen ja bloß ein bisschen Rhythmus. Guck dich da hinten schon mal um“, ich weise auf das Höckerchen, „Ich brauche jetzt noch einen Freiwilligen.“
In der ersten Reihe meldet sich eine Frau, Miloš bringt auch sie auf die Bühne. Die Vorstellungsrunde wiederholt sich, sie heißt Linda, ist dreißig und kommt aus Amsterdam.
„Veoma dobro. Du lernst heute ein bisschen serbisch, okay?“
Sie nickt, und ich fange an: „Eins. Sprich mir nach: Jedan.“
„Jedan“, sagt sie.
„Zwei. Dva.“
„Dva.“
„Drei. Tri.“
„Tri.“
„Vier. Četiri.“
„Četiri.“
„Hat sie das gut gemacht?“, frage ich das Publikum.
Ein paar Leute applaudieren höflich.
„Miloš, hat sie das gut gemacht?“, frage ich einen Experten.
Er nickt. „Ich würde sagen, sie hat großes Talent.“

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