3. Dezember 2015

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„Die haben putzige Namen.“
„Es sind alles Spitznamen. Bogi heißt Bogdanka, Midi ist die Abkürzung von Miladinka, Sloba von Slobodanka und Dodo von Dobrinka, Fifi heißt richtig Filipinka, Obibi kommt von Obradinka und Jadi von Jadranka.“
Ich lasse diesen Wahnsinn von Spitznamen, Namen und Zusatzinformationen sacken und stelle mir einen Haushalt mit sieben Mädchen vor. Langeweile dürfte ein Fremdwort sein – auch wenn die Jüngste neunzehn ist. Dann ahne ich ein System. „Sag noch mal die Namen. Also die richtigen.“
Miloš grinst. „Bogdanka, Miladinka, Slobodanka, Filipinka, Obradinka, Dobrinka und Jadranka.“
„Die Namen enden alle mit -inka oder -anka.“
„Bei den ersten drei hat es sich so ergeben, hat Tante Dijana mal gesagt, und dann haben sie damit weiter gemacht.“ Er hält kurz inne und berichtet dann: „Sie haben Angst gehabt, dass ich tot bin, weil sie so lange nichts von mir gehört haben. Als die Eltern ihnen gesagt haben, dass es mir gut geht … da hat Onkel Dragi geweint, schreibt sie. Als wäre ich echt sein Sohn. Wie der Mann in der Bibel, der seinen verlorenen Sohn wieder hat. Ich bin der nie gehabte Sohn.“
Der nie gehabte Sohn – sind wir das nicht beide? Sehnen wir uns nicht beide nach einer guten, festen, intensiven Vaterbeziehung? Ich glaube, darüber will ich ein Lied schreiben. Auch auf die Gefahr hin, dass ich es alleine singen muss, weil die anderen meine Gedanken und Gefühle nicht teilen.
„Warum hast du dich denn nicht bei ihnen gemeldet?“
„Tante Dijana hätte es meinem Vater gesagt, wo wir sind. Das wollte ich verhindern.“
Ja, das kam sehr deutlich rüber. Trotzdem tun sich nach jeder seiner Antworten neue Fragen auf. „Warum bist du mit deiner Mutter zusammen vor ihm geflüchtet? Es scheint ja so zu sein, dass er damit zufrieden ist, nur sie wieder nach Hause geholt zu haben. Du hättest ihn sie sozusagen als Tausch gegen deine Freiheit finden lassen können.“
„Hä? Verstehe ich nicht.“
„Na ja, er hat euch gesucht. Du bist mit deiner Mutter im Schlepp kreuz und quer in Bosnien herum gereist, weil du nicht wolltest, dass er euch findet. Aber wenn es ihm nur um deine Mutter ging? Du hättest sie alleine lassen können, er hätte sie eine Stunde später aufgelesen, und du wärst über alle Berge gewesen. Ohne sie wärst du ja auch viel flexibler gewesen.“
Er wedelt mit dem ausgestreckten Zeigefinger, „Es ging ihm nicht nur um sie. Er wollte uns beide zurück nach Peckovar holen.“
„Und warum hat er dich dann neulich gefragt, ob du mitkommen willst?“
„Der Mann, der sie mit nach Wien genommen hat, der hatte nur zwei Sitzplätze frei. Für eine Tour mit drei Sitzplätzen hätte mein Vater mindestens noch einen Monat warten müssen. Nur deswegen hat er mich gefragt.“
„Du hättest ja auch alleine fahren können.“
„Klar. Aber bin ich alleine gefahren? Zum Beispiel um ihm einen heißen Tipp zu geben, wo er Mutter findet? Nein, das habe ich nicht getan, ich habe nicht mal angerufen.“
„Aber wie hat er denn eigentlich rausgekriegt, wo ihr wart?“
Miloš winkt ab. „Du denkst zu kompliziert. In der Republika wohnen anderthalb Millionen Menschen, vielleicht sogar weniger. Weltweit gesehen ist das ein Fliegenschiss. Bei so einer vergleichsweise kleinen Gruppe ist es leicht, im In- und Ausland miteinander vernetzt zu sein. Mein Vater hat schon in Banja Luka jeden Stein umgedreht und fährt nach Wien. Wien ist die drittgrößte serbische Stadt außerhalb Serbiens“, schiebt er zu meiner Information ein. „Er verbreitet da, dass er seine Familie sucht und beschreibt, wie alt wir sind und so weiter. Einer von denen, die das hören, trifft vielleicht einen Typen, der uns in Alkmaar gesehen hat. Zufällig hat der gehört, wo wir wohnen. Also macht mein Vater sich auf den Weg hierher.“
„Aber warte mal“, unterbreche ich, „zigeunert ihr bosnische Serben denn alle ständig kreuz und quer in Europa rum?“
„Nein. Der Krieg und die Nachkriegsjahre haben vielen von uns die Heimat geraubt. Stell es dir vor wie aufgewirbelten Staub. Die einen Staubkörnchen fallen ganz schnell runter, die anderen stehen noch Stunden später in der Luft. Den einen macht das wenig aus, vielleicht haben sie nicht viel verloren. Den anderen macht es so viel aus, dass sie lieber ganz woanders leben wollen.“
Ja, zum Beispiel so Typen wie du, denke ich mit Resignation. Du willst immer nur woanders sein. Und es ist dir offenbar egal, dass du auch eine Menge Staub aufwirbelst. Ich lenke ihn und mich selber ab: „Haben Dragan und Dijana und ihre sieben Mädels in der Nähe gewohnt, hast du sie besucht?“
„Ich war mehr bei ihnen als zuhause. Als ich noch ein Baby war, hat Dijana mich sogar … gesäugt, ist das richtig?“
„Gestillt.“
„Genau, denn sie hatte zu viel Milch für Midi. Meine Mutter hat gesagt, sie könnte das verstehen, da wäre mehr los als bei uns und sie und Vater waren ja immer im Geschäft … aber sie hat nichts verstanden, gar nichts. Vater hat nicht mal behauptet, dass er etwas verstehen würde.“
„Übrigens ist es gut, dass du von deiner Verwandtschaft erzählst. Ich hab bisher gedacht, in Peckovar wohnen nur so Leute wie dein Vater … oder Typen, die einen Menschen umbringen, bloß weil er die falschen Vorfahren hat.“
„Nein, Peckovar ist eine ganz normale Kleinstadt; etwa so groß wie Hoorn.“
„Wie ist es da?“
„Was meinst du damit?“
„Na ja, fang zum Beispiel mit dem Wetter an. Das ist ja oft das erste, was einem auffällt.“

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