Als ich vom Bäcker heimkehre, sehe ich, dass die Post schon da war. Neben der ganzen Werbung und einer Rechnung ist auch ein Brief, der anscheinend eine weite Reise hinter sich hat. Er ist ziemlich verknickt und hat eine eingerissene Ecke. Er ist für Miloš und die Adresse sieht aus wie abgemalt. Da ich natürlich nicht indiskret, sondern nur ein kleines bisschen neugierig bin, ignoriere ich das Absenderfeld und widme die halbe Minute, die ich brauche, um die Treppen zu steigen, ausschließlich der Briefmarke. Sie kommt aus Bosnien und ist kyrillisch beschriftet, das heißt, der Absender wohnt in der Republika Srpska.(159)
„Miloš?“, rufe ich probeweise im Flur.
„Hier!“, tönt es aus der Küche.
„Du hast Post!“
„Aha, wer schreibt?“
„Glaubst du, ich les deine Briefe? Meinst du, ich hätte keinen Respekt vor dem Postgeheimnis?“, wärme ich ihm seine eigenen Sprüche noch mal auf, lege die Bäckertüte auf den Tisch und gebe ihm den Brief. Es kommt selten vor, dass er Post kriegt; aus der alten Heimat war bisher noch nie etwas dabei.
Er nimmt sich das Messer aus dem Block, das ich ihm für diese Zwecke zugewiesen habe (verrückt, Briefe mit dem Messer zu öffnen … ich reiß die immer irgendwo auf), aber bevor er ihn öffnet, dreht er ihn um. Er murmelt etwas, das ich nicht verstehe.
Dann geht er wortlos mit Brief und Messer aus dem Raum.
Oh je, denke ich. Was mag drin stehen? Wahrscheinlich was schlimmes, sonst hätte er nicht so reagiert. Ob jemand gestorben ist? Oh Jesus, bitte nicht! Aber … wie kann er schon vor dem Lesen wissen, was drin steht? Er hat den Brief ja in geschlossenem Zustand mitgenommen! Stand es auf dem Absenderfeld?
Weil ich Kohldampf habe, fange ich mit dem Frühstück an.
Nach einer geraumen Weile kommt er zurück, steckt das Messer in den Block und lässt sich am Tisch nieder.
Ich gieße ihm Kaffee ein.
Er nimmt ein Brötchen, schneidet es auf und beginnt zu essen. Dann: „Dragan und Dijana haben geschrieben.“
„Aha“, mache ich. Die Namen hat er noch nie erwähnt.
„Dragan lädt mich zu seinem Geburtstag ein.“
Angesichts des freudigen Ereignisses hält er sich ungewöhnlich bedeckt. „Ja, und?“
„Soll ich zusagen?“
„Warum nicht?“
„Aber dann muss ich nach Peckovar.“
Aha, das ist das Problem. „Das musst du dann.“
Erst beim Tischabräumen frage ich: „Ist das mit den beiden auch so eine schwierige Geschichte wie mit deinen Eltern?“
„Nein. Gar nicht. Onkel Dragi … er ist mein Lieblingsonkel.“
„Wie viele Onkels hast du denn?“
„Drei. Zwei ältere Brüder von meinem Vater und eben Onkel Dragi. Er hat Vaters kleine Schwester geheiratet, also Dijana.“
„Und deine Mutter, hat sie auch Geschwister?“
„Wir haben keinen Kontakt. Ihr Vater … demnach mein kroatischer Opa … er wollte nicht, dass sie einen Serben heiratet. Aber erzähl, wie ist deine Verwandtschaft?“
„Onkeltechnisch ein Totalausfall. Gerrit hat ja keine Geschwister, Lucy hatte einen Bruder, der aber, bevor ich ihn kennen lernen konnte, Selbstmord begangen hat und Marjorie hat leider auch keine Onkels in die Sippe gebracht. Wenn ich eines Tages heirate, dann nur eine Frau mit vielen Onkels und Tanten, um das Defizit aufzuholen.“
„Das ist ja ein ausgezeichneter Grund für eine Hochzeit“, grinst er.
„Ich bin halt ein Romantiker. Erzähl weiter von Dragi und Dijana.“
„Sie haben immer gesagt, sie hätten gerne einen Sohn wie mich gehabt.“
„Haben sie denn keine Kinder?“
„Doch. Sieben Töchter.“
„Sieben! Wow.“
„Ja, sieben sehr hübsche Töchter.“
„Wie heißen die und wie alt sind sie?“
Wie ein stolzer Bruder zählt er auf: „Bogi ist zwei Jahre älter als ich, Midi ist so alt wie ich, Sloba ist so alt wie du, mit ihr habe ich mich immer am besten verstanden. Dodo ist zwei Jahre jünger als Sloba, Fifi ist noch ein Jahr jünger, Obibi ist zwanzig und Jadi ist neunzehn.“
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