3. Dezember 2015

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Was für eine krasse Fehleinschätzung! Und das mir! Der Spracherwerb für Vier- bis Sechsjährige ist eins meiner Fachgebiete!
„Jeremy“, sagt Lisanne leise und berührt wieder meinen Arm.
„Ja“, sage ich matt.
„Niemand macht dir einen Vorwurf. Jeder Mensch hat seine Thesen, und wenn überhaupt nichts daran wäre, wäre dir der Fehler schon viel eher aufgegangen. Es hat mit den kognitiven Fähigkeiten zu tun, ob einer schnell Sprachen lernt oder nicht. Aber eben nicht nur; es muss auch Sprachverständnis vorhanden sein, und das kannst du nicht lehren. Das kann niemand.“
„Ja“, wiederhole ich. Montag muss ich Grietje fragen, ob man meiner Arbeitsweise angemerkt hat, welche Thesen ich mir zurecht gelegt habe. Oh Gott, ist das peinlich. Wie konnte mir das bloß passieren?
Lisanne nimmt meine Hand. „Mach du dir auch keine Vorwürfe, sondern verzeih es dir. Jesus hat es dir verziehen, in dem Moment, als es dir klar geworden ist.“
„Woher weißt du immer so genau, was ich denke?“
Sie fasst mein Gesicht, streichelt mir über die Wange und küsst mich sachte auf die andere. „Ich kenne dich schon sehr lange. Und wenn du derart überrumpelt und in die Ecke getrieben wirst, ist es nicht schwer, deine Gedanken zu erkennen. Hab keine Angst.“
Ich atme durch und fange an zu beten: „Jesus, verzeih mir, dass ich so hart über meine Mitmenschen geurteilt habe.“
Ich weiß nicht, wovon du redest, sagt er.
Das tut er immer, um mir zu zeigen, dass Vergeben und Vergessen bei ihm zwei Wörter für eine Sache sind.
„Ich will mir das jetzt auch verzeihen. Nimm mir die Gedanken aus dem Kopf und aus dem Herz.“
Erledigt, mein lieber Freund.

Beim Frühstücken äußere ich meine Überlegungen zum Auftritt in Hoorn. „Es wäre doch total praktisch, wenn Bernard uns aushilft.“
„Ich kenne ihn nicht, aber ich glaube nicht, das wir seine Hilfe brauchen werden“, sagt Lisanne. „In einer Woche halte ich anderthalb oder zwei Stunden Musik locker aus. Wir müssten nur von diesem irren Tempotanz absehen und von dem lustigen Einmarsch mit den Kinderinstrumenten. Und ich muss den Fuß regelmäßig hochlegen, dann wird das klappen.“
„Außerdem“, gibt Miloš seinen Senf dazu, „wolltest du keine Gitarre mehr dabei haben. „Unser Problem ist nicht, dass wir keine Gitarre haben, sondern dass wir glauben, anständige Musik bräuchte eine.“ Deine Worte.“
„Stimmt“, pflichtet Lisanne bei. „Wie gesagt, ich kenne ihn nicht, aber ganz ehrlich will ich unser Kollektiv nicht aufs Spiel setzen, nur weil da einer ist, der gut mit der Gitarre umgehen kann. Wir vier haben viel Musik zusammen entwickelt – das hat ja erst angefangen, als Simone schon weg war – und wissen jeder vom anderen, wie er wann reagieren wird. Übrigens auch abseits der Bühne. Das ist mir sehr kostbar.“
„Soll ich ihm also absagen?“, will ich es ganz genau wissen.
„Ja“, sagen beide zugleich.
Enttäuscht stoße ich die Luft aus. „Dann lohnt es sich nicht, Merle auch noch zu fragen.“
„Natürlich kannst du sie fragen, und wenn sie ihn dabei haben will, müssen wir eben noch einmal darüber sprechen. Wenn du magst, lad sie ein und lass uns das Thema direkt klären“, lässt Lisanne mir freie Bahn, über ihr Wohnzimmer zu verfügen.
„Warum ist es dir so wichtig, dass er mitspielt? Du kennst ihn doch auch erst seit ein paar Tagen?“, will Miloš wissen. „Oder hast du nur gesagt, dass wir keine Gitarre brauchen, weil wir so kurz vor dem Auftritt in Almere keinen Ersatz gefunden hätten?“
War es Zweckoptimismus? Nein. „Du hast Recht. Ich will immer noch anständige Rockmusik mit ungewöhnlicher Instrumentierung machen.“

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