30. November 2015

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Er murmelt ein Anti-Lob auf die Bürokratie unseres Sozialstaats, betrachtet den Zettel und hält ihn mir hin, „Ich verstehe die Sprache, aber nicht die Schrift.“
Seufzend lese ich vor: „Erstens: klären, ob sie Asylgeld oder Sozialhilfe hatte. Zweitens: selbiges Geld abbestellen. Drittens: den Aufenthalt offiziell mit einem Datum beenden. Viertens: sagen sie dir auf dem Amt.“ Ich gebe ihm den Zettel wieder und prompt fällt mir noch etwas ein. „Schreib auf: fünftens, dem Vermieter Bescheid geben, dass die Wohnung leer wird und er keine Nachmieter kriegt – oder doch?“(146)
„Ich wüsste nicht, wer in dieses Loch einziehen sollte. Wieso weißt du das eigentlich alles? Du hast doch gar nichts damit zu tun.“
„Ich bin ein paar Mal mitgegangen, wenn Eltern von unseren Kindern einen Beistand oder einen Zeugen haben wollten. Wieso weißt du das alles nicht, du bist doch ständig bei deinen georgischen Leuten und hilfst ihnen durch den Alltag?“
„Es sind nicht meine georgischen Leute und zum Amt ist jemand anderes mit ihnen gegangen, der davon mehr Ahnung hat.“
„Ach ja, sechstens: nimm vorsichtshalber deinen Arbeitsvertrag mit der MBB mit. Als Beweis, dass du im Land bleiben willst, aber trotzdem nicht die Hand aufhältst. Falls jemand danach fragt.“
„Aha. Braucht man einen Termin?“
„Nein, du musst nur Wartezeit einrechnen. Erfahrungsgemäß wartet man aber länger, je später am Tag man hingeht.“
„Klar, das sind ja alles arbeitslose Faulpelze“, bemüht er grinsend ein paar Vorurteile, „die steigen erst mittags aus dem Bett.“
„Bitte keine Verallgemeinerungen über Arbeitslose“, grinse ich mit. „Ich hatte mal einen Freund, der ist jeden Morgen im Berufsverkehr joggen gewesen. Obwohl er den Rest des Tages gar nichts zu tun hatte!“
„Du sagst, du hattest diesen Freund – was ist mit ihm passiert?“
„Oh, eines Tages ist er so schnell gelaufen, dass er sich selbst am nächsten Tag überholt hat. Da ist er in einen Zeitstrudel geraten. Tja, seitdem hat ihn keiner mehr gesehen.“
„Und du findest, dass ich komische Bücher lese?“, lacht er.


dreiundneunzigstes Kapitel

Am nächsten Tag bin ich recht unausgeschlafen, denn als wir endlich in die Betten gefunden hatten, war es nicht mehr „noch nicht sehr spät“, sondern schon wieder früh.(147) Aber wenn ich heute zeitig schlafen gehe, kann ich das Defizit aufholen. Außerdem grüßt ja schon das Wochenende am Horizont, denn es ist ein kurzer Freitag. Wir Kollegen von den unteren vier Gruppen haben höchstens eine 38,5-Stunden-Woche (natürlich gibt es auch Leute mit weniger Arbeitsstunden), aber weil wir ja nicht einfach alle Kinder mit Erreichen unseres freitäglichen Feierabends nach Hause schicken können, wechseln wir uns ab. Diese Woche ist es also Grietje, die länger bleibt.
Ich nutze meinen frühen Feierabend, um Marijkes Schwiegereltern anzurufen. Als ich sie nach acht Versuchen endlich erreicht habe und einen Wohnungsbesichtigungstermin vereinbart habe – für „jetzt“! Rentner haben ein lustiges Zeitverständnis! – radle ich zur Schule, hole Miloš von seinen seltsamen Büchern weg und gemeinsam fahren wir zum Visserdijk, um die Wohnung anzugucken.

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