30. November 2015

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„Das klingt ja total friedlich! Dann ist endlich genug Platz zwischen euch, er wird ja vermutlich nicht unangemeldet hier aufkreuzen, das heißt, du kannst deine Eltern besuchen, wenn du Bock drauf hast und ansonsten hast du Ruhe vor ihnen!“
Er grinst. „Ungefähr das hab ich auch gedacht.“
„Eben hab ich noch gebetet, dass Jesus mehr Platz zwischen dir und deinem Vater macht, und jetzt ist es schon passiert.“
„Ja, und er hat sich schon viel früher drum gekümmert! Danke, Jesus!“
Ach, mein Jesus. Du weißt alles und hast für alles den besten Zeitplan!
„Apropos kümmern“, greife ich das Stichwort auf, „bevor deine Mutter ausreist, muss sie sich auch noch um ein paar Sachen kümmern. Sie muss sich im Sozialamt abmelden … oder ist sie Asylantin?“
„Wie soll ich das wissen?“
„Na ja, habt ihr bei Einreise Asyl beantragt?“
„Ich habe gar nichts beantragt, ich wollte nicht lange bleiben.“
„Aber irgendwas müsst ihr doch gekriegt haben.“
„Erst habe ich kein Geld gekriegt, weil ich zu Besuch war, dann hatte ich diese schwierigen Arbeitsstellen, da habe ich ein bisschen Geld und viel Ärger gekriegt und danach habe ich überhaupt nichts mehr gekriegt.“
„Könntest du wohl aufhören, so auf dem Wort „gekriegt“ rumzureiten?“, unterbreche ich seine Ausführungen.
„Ich reite nicht darauf herum.“
„Aber du hast es gerade dreimal in einem Satz gesagt. Du könntest andere Wörter verwenden, du kennst genug.“
„Du könntest auch andere verwenden, du kennst noch viel mehr Wörter. Aber du sagst immer „gekriegt“. Sag doch mal erhalten, bekommen, bezogen, ergattert und so weiter.“
„Willst du mir jetzt erklären, wie ich zu reden habe?“
„Keineswegs.“
Das hier führt zu nichts, außer dass ich mich über ihn aufrege. Er hat ein ganz anderes Sprachverständnis als ich und denkt sich jeden Tag neue Wortspiele für seine Buskinder aus, die ich zum Teil gar nicht verstehe, und wenn, wäre ich nie darauf gekommen. „Also, du hast kein Asylgeld gekriegt“, betone ich. „Was hat deine Mutter gekriegt?“
„Außer Übergewicht und Depressionen?“
„Es ist okay, dass du ein Klugscheißer bist, aber verschon mich bitte mit deinem Zynismus.“ Ich nehme das Blöckchen für Einkaufszettel und male meine leserlichsten Buchstaben.
„Entschuldige“, sagt er in die Stille.
„Schon gut.“
„Ich weiß nicht, was sie bekommen hat, ich habe mich nie darum gekümmert.“ Noch einen Moment ist es still zwischen uns, dann will er wissen: „Was schreibst du da?“
„Eine Liste von Dingen, die vor der Abreise noch erledigt werden müssen.“
„Was bringt es meiner Mutter, wenn die Liste niederländisch ist? Diktier mir, was zu tun ist und ich schreibe es für sie auf.“
„Nein, die Liste ist für dich. Du wirst nämlich mit ihr hingehen.“
„Warum? Sie will ausreisen.“
„Richtig, aber du verstehst die Sprache. Außerdem weißt du dann, dass sie da war. Das ist wichtig, denn wenn sie einfach so ausreist und du Pech hast, kommt das Amt sonst auf dich zu und will das zu viel gezahlte Geld zurück.“
„Aber es ist doch gar nicht bei mir angekommen?“
„Na und? Das ist denen ja egal.“

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