30. November 2015

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Wir machen einen kurzen Zwischenstopp in der WG, wo ich meine Tasche abstelle, dann fahren wir ins Stadtzentrum und suchen uns ein ansprechendes Lokal für unser Mittagessen. Den Rest des Tages sind wir damit beschäftigt uns auszurollen, was zuletzt passiert ist. Cokko ist jetzt in einem Schachclub, um seine Hirnwindungen in Schwung zu halten (nicht, dass er das nötig hätte, er sagt das), außerdem hat er Kontakt bekommen zu einem Kanadier, der ihn zu einer Gruppe mit Landsleuten bringen will. Der Kanadier, den er getroffen hat, kommt aus Toronto, aber laut dessen Aussage sind auch ein paar aus der Gegend um Calgary dabei, und mein Bruder freut sich schon, endlich wieder seinen Heimatdialekt zu hören.
Das mit Miloš und Helena versteht er auch nicht, aber er sagt, dass es wahrscheinlich die einfachere Lösung ist. Immerhin bin ich – trotz der Versöhnung – nicht besonders begeistert darüber gewesen, in Zukunft wieder mehr Zeit mit ihr zu verbringen. Vielleicht hat sie ja verlangt, dass er nicht mehr für mich Partei ergreift und stattdessen zu ihr hält? So ernst wie es ihm mit der Freundschaft zu mir ist (von Blutsbruderschaft hat er noch nicht gesprochen, aber früher oder später wird das passieren, spekuliert Cokko), könnte das schon Grund genug gewesen sein, mit ihr Schluss zu machen.
Jedenfalls findet er es toll, dass wir uns eine gemeinsame Wohnung suchen wollen und meldet sich schon mal als Umzugshelfer an.

Das sonntägliche Frühstück ist ein waschechtes Spätstück, danach lädt Cokko mich zu einer Hafenrundfahrt ein, die jeder Besucher Rotterdams mal unternommen haben sollte. Es ist meine zweite Rundfahrt, allerdings bin ich bei der ersten ein kleiner Junge an seines Opas Hand gewesen, deswegen ist es Zeit für eine Auffrischung.
Rotterdam hat den größten Seehafen Europas – wir sehen natürlich nur einen Bruchteil davon. Um alles zu sehen, müsste man sich vermutlich eine Woche Zeit nehmen oder noch viel länger. In einer knallroten Barkasse fahren wir durch die Kanäle, Grachten und Hafenbecken aus verschiedenen Jahrhunderten und fühlen uns winzig, wenn wir an den riesigen Containerschiffen entlang tuckern. Der Kapitän hat viele wahre und einige gewiss unwahre Geschichten über den Hafen zu erzählen; er macht das alles sehr unterhaltsam und lustig und als wir endlich wieder am Pier ankommen, ist es schon fast sieben Uhr! Ich wollte doch zuhause noch in den Proberaum! Vor neun werde ich Zuyderkerk nicht erreichen, je nach dem, wie die Zugverbindungen sind. Meinem Bruder ist es unangenehm, dass er die Zeit so falsch eingeschätzt hat. Wir fahren zur WG, holen meine Sachen und er bringt mich noch zur Bahnstation.

Miloš ist nicht zuhause, als ich endlich ankomme, deswegen räume ich meine Tasche aus, sortiere die sich bereits anhäufende Wäsche in hell und dunkel und rot und Kochwäsche, nehme Brot aus dem Eisfach, denn es ist nicht mehr genug für morgen da und begebe mich bald darauf ins Bett.
Im Halbschlaf höre ich ihn in die Wohnung kommen und erwäge noch kurz, ihn zu fragen, was er die ganze Zeit gemacht hat, aber da bin ich schon eingeschlafen.


neunundachtzigstes Kapitel

Morgens ist keine Gelegenheit zum Reden. Miloš muss früher los als ich, weil er ja neuerdings als Busfahrer für unsere Rollstuhlschüler tätig ist. Bisher haben die Eltern entweder ihre Kinder selber zur Schule gebracht oder ein Taxi bestellt.
Drei der Kinder wohnen weiter weg in Dörfern, die holt er zuerst ab. Danach fährt er noch zwei Haushalte am Stadtrand an, bringt die fünf zur Schule und hat dann noch eine längere Fahrt im Stadtgebiet vor sich, um alle Kinder einzusammeln.
Einer der Jungen mit dem langen Schulweg war früher bei uns Driehoeken. Letzte Woche haben wir uns auf dem Schulhof getroffen und er hat mir erzählt, dass es immer lustig ist im Bus. Miloš erzählt Geschichten oder sie machen Ratespiele.

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