30. November 2015

277

„Warum läufst du aber immer noch jeden Tag?“, hake ich nach, auch wenn ich mich geehrt fühle, dass er mir sein Herz ausschüttet. Es klingt, als sei es das erste Mal, dass er über das alles spricht.
Er winkt ab. „Gegen die Strecken von früher sind die heute ein Furz. Wenn ich mal weit laufe, sind es vielleicht zwanzig Kilometer. Kein Vergleich zu früher. Ich wollte mich kaputt machen, irgendwo umkippen und sterben. Heute laufe ich, weil man dabei gut Druck ablassen kann und weil es Spaß macht. Das hat angefangen, als … ja, ungefähr als ich nach Zuyderkerk gekommen bin. Bei den Arbeitsstellen gab es ja eine Menge Druck. Und es ist auch irgend­wann weniger geworden mit dem Kampf ums Leben.“
Ich weiß gar nicht, warum ich das fragen muss: „Wann?“
„Puh“, macht er und rechnet. „Ungefähr … vor drei … nein, zwei Jahren, oder war das … nein … seltsam! Das ist weniger geworden, als ich angefangen habe in der Jesus-Pop-Band. Aber ich glaube nicht, dass es an der Musik lag.“
„Nein“, ist mir auf einmal sonnenklar, „Das lag daran, dass Lisanne für dich gebetet hat. Das hat sie ja gesagt: seit dem Tag, an dem du das erste Mal in die Band gekommen bist, hat sie für dich gebetet.“
„Krass!“, freut er sich. „Ich wusste nicht, dass Gebet so etwas kann.“
„In der Bibel steht, der Glaube kann Berge versetzen.“
„Ja, ich habe das gelesen, aber ich dachte, da wären echte Berge gemeint, wie der Maglić.“
„Der wer?“
„Der Maglić. Das ist unser höchster Berg, er ist an der Grenze zu Montenegro. Er ist 2.386 Meter hoch.“
„Ah, jetzt geht es um Erdkunde, he? Unser höchster Berg ist der Vaalserberg. Der hat unge­fähr 320 Meter und ist an der Grenze zu Belgien und Deutschland.“
„Ein Hügel“, lacht er, „na ja, dafür gewinnen die Niederlande mit der Küste. Bosnien-Her­zegowina hat zwanzig Kilometer.“

Irgendwann fällt mir noch etwas ein: „Hast du nur nach Wohnungen für dich geguckt oder auch nach solchen für uns beide?“
„Ich habe auch nach größeren gesucht“, gibt er zu, „aber noch nichts angeguckt. Ich dachte, dafür muss ich erst fragen, ob du überhaupt dauerhaft mit mir zusammen wohnen willst.“
„Hast du denn schon mit einem Vermieter gesprochen?“
„Nein, ich sage ja, ich habe nur gesucht. In der Zeitung. Ich wollte keine große Wohnung sehen und dann doch alleine wohnen müssen.“
Mommi hat neulich gesagt, er mache alles mit Vollgas. Seit er an der Schule arbeitet, lernt er, als müsse er vier Jahre Stillstand in vier Wochen aufholen. Die Fahrstunden hat er in Rekordzeit absolviert. Wenn ich ihn jetzt auf den Immobilienmarkt loslasse, kommt es vermutlich noch vor dem Jahreswechsel zum Wohnungswechsel. Aber na ja, warum nicht?
„Ich würde gerne in der Altstadt bleiben.“
„Du willst also mit mir zusammenziehen?“, unterbricht er freudig.
„Ist das nicht rüber gekommen?“
Er lacht. „Würde ich dann so etwas fragen?“
„Wahrscheinlich nicht“, lache ich auch und mache es offiziell: „Also, lieber Miloš, ich möchte mit dir zusammenziehen. Hör zu, das sind meine Wünsche für die Wohnung: Altstadt­lage. Bad mit Fenster. Größere Küche. Bezahlbare Miete.“
„Um die bezahlbare Miete zu errechnen, müsste ich deine finanzielle Situation kennen.“
„Sag ich dir zuhause. Stell dir vor“, fällt mir ein, „ich bau uns einen großen Tisch für mindestens acht Personen und dann können wir so richtig viele Leute zum Essen einladen!“
„Dann wünsche ich mir eine Spülmaschine!“

Plötzlich schwingt die Tür auf und Merle und Lisanne platzen herein. Die eine betätigt den Felgen-Schellenkranz, die andere trägt eine kleine Torte mit Kerzen darauf vor sich her und beide schmettern ein Geburtstagsständchen, in das ich einstimme.
Miloš hievt sich lachend aus dem Sofa hoch. „Danke! Ihr seid ja verrückt!“
„Deswegen passt du so gut zu uns!“, kontert Merle.

Keine Kommentare: