11. November 2015

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Miloš ist auch noch lange nicht fertig. „Ich habe mich elf Jahre um sie gekümmert, ich hab versucht, sie zu versorgen und so zu tun, als hätte ich die Sicherheit, die keiner gehabt hat! Elf Jahre! Ich war neunzehn! Was hätte ich denn sonst machen sollen? Hätte ich mich auch in diesen bescheuerten Krieg stürzen sollen, und meine Mutter den anderen Serben überlassen sollen? Was glaubt er, was die mit ihr gemacht hätten?“
Ich weiß es nicht. Ich sage nichts.
„Er spielt sich auf, als hätte er alles richtig gemacht, als wäre der Krieg richtig gewesen, dabei hat er ihn zu Anfang auch verflucht! Und jetzt ist er auch noch hier! Er will, dass wir zurück gehen nach Peckovar, in eine Stadt, in der ich keinen mehr kenne, und auch keinen mehr kennen will! Jetzt, wo ich mich endlich hier zuhause fühle, da will er, dass wir wieder nach Peckovar gehen. Natürlich soll ich mitkommen, denn ich bin ja sein Sohn, und eine eige­ne Meinung habe ich besser nicht, sonst zeigt er mir, was sie im Krieg mit Verrätern gemacht haben. Und Mutter, die ja eigentlich ganz froh war, hier zu sein, die ist auf einmal froh, dass es endlich zurück in die Heimat geht. Heimat! Wenn ich das nur höre! In dieser Scheiß-Heimat wollten ihre Nachbarn sie umbringen!“
Jetzt verstummt er.
„Darf ich was fragen?“, will ich vorsichtig wissen.
„Bitte.“
„Warum wollten ihre Nachbarn sie umbringen?“
„Habe ich das nicht erwähnt? Sie ist bosnische Kroatin. Die meisten Nachbarn hat das nicht gestört, weil sie Freunde von meinem Vater waren, aber es gab auch Leute in der Stadt, die das nicht so locker gesehen haben.“
Lange ist es still, so still, dass wir unten einen pfeifend durchs Treppenhaus gehen hören.
Irgendwann nach vielen Minuten fragt er: „Jeremy, was soll ich machen? Was soll ich mit diesem Mann machen? Er hat mir schon so oft mein Leben umgebogen. Immer hat er sich eingemischt, immer musste ich das tun, was er gesagt hat. Man darf keine andere Meinung haben als er. Entweder man läuft vor ihm weg und ist ein Feigling. Oder man sagt etwas gegen ihn und kann seine Knochen zählen. Ich habe geglaubt, dass ich alles richtig mache. Ich habe so gehofft, dass er nie wieder kommt. Und jetzt ist er hier und alles ist wie früher.“
So verzweifelt hab ich meinen Kumpel noch nie erlebt. „Soll ich für dich beten?“, schlage ich ratlos vor.
Erst winkt er ab, aber dann hockt er sich zu mir. „Davon hab ich erst gar nichts gesagt. Mein Vater hätte mich wahrscheinlich erschlagen. Das fehlt noch, er, der tolle Kriegsheld und sein Sohn fängt jetzt an mit Nächstenliebe. Liebe deinen Nächsten, auch wenn er Bosnier ist und dein Land für sich beansprucht. Na prima.“
„Jesus“, fange ich an, „Du hast das alles gehört. Ich habe keine Ahnung, wie wir am besten mit Miloš’ Vater umgehen können. Zum Glück weißt du das, denn auch wenn er bestimmt nichts mit dir zu tun hat, kennst du ihn ziemlich genau. Zeig uns jetzt, was als nächstes zu tun ist. Und ich bitte dich, gib Miloš Ruhe und Frieden, damit er ganz entspannt mit seinem Vater umgehen kann.“
„Gib mir Ruhe und Frieden, damit ich wenigstens ein ganz kleines bisschen entspannt mit ihm umgehen kann“, verbessert er mein Gebet grimmig.
„Jesus, wenn du unbedingt willst, dass Herr Kusturica hier in Zuyderkerk wohnt, dann zeig uns bitte, wie wir ihm gut aus dem Weg gehen können. Miloš will nicht sein ganzes Leben vor ihm wegrennen müssen, er will einfach seine Ruhe haben.“
„Und ich kann auch nicht immer wegrennen“, sagt Miloš. „Mein ganzes Leben habe ich damit verbracht, abwechselnd wegzurennen und mich zu beugen.“ Er steht auf und geht durch den Proberaum. Nach ungefähr fünf Runden nimmt er seinen Bass und fängt an, harte Rhyth­men zu spielen. Wenn ich so was höre, kann ich alles – außer stillsitzen. Ich klemme mich hinter die Trommeln und mache mit.
„Kannst du noch mal das Lied für die Hochzeitsfeier spielen?“, frage ich dann.
„Welches Lied für welche Hochzeitsfeier?“
„Das mit den vielen Strophen, mit der Frau, die einen Mann haben will, der viel Geld hat und die dann den Typ nimmt, der nur das Fahrrad hat“, umschreibe ich in groben Zügen.

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